NATO-Erweiterung

Erdogan setzt NATO unter Druck

Erdogan stellt die NATO unter Druck: Der türkische Präsident fordert Finnland und Schweden auf, die Kurden auf dem Altar der Geopolitik zu opfern. Und die Norderweiterung der NATO muss einstimmig beschlossen werden. Es wird klar: Mit der vielbeschworenen "Wertegemeinschaft" ist es nicht weit her.

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan 2019 beim NATO-Mittelmeer-Dialog.
Foto: NATO, Lizenz: CC by-nc-nd, Bearbeitung: hintergrund.de (Lizenz: CC by-nc-nd), Mehr Infos

Ist die Türkei noch ein verlässlicher Partner der westlichen Allianz? Oder fungiert sie eher als ein verkapptes trojanisches Pferd Russlands innerhalb der NATO? Diese Fragen spalten die westliche Welt, seitdem die Türkei Mitte Mai dem NATO-Beitritt von Schweden und Finnland mit ihrem Veto einen Riegel vorgeschoben hat. Dabei stellte der Beschluss beider skandinavischen Länder, ihre jahrzehntelange Neutralität aufzugeben, eine der dramatischsten Verwerfungen in der Sicherheitspolitik Europas dar. Die Allianz habe «den legitimen Sicherheitsbedenken Ankaras mit konkreten Schritten» Rechnung zu tragen, begründete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan einer verblüfften NATO-Runde seinen Schritt. Und er setzte unbeirrt fort: Wollten die Beitrittskandidaten ihren Beitritt „erwirken“, müssten sie zuvor eine Liste von Ankaras Forderungen erfüllen.

Auslieferungen von Dissidenten

Diese Liste beinhaltet eine Freigabe von Waffenexporten in die Türkei. Finnland, Schweden und andere europäische Länder hatten 2019 ein Waffenembargo gegen die Türkei verhängt, weil die türkische Armee gerade in den kurdischen Nordosten Syriens einmarschierte, kurdische Städte und Dörfer zerstörte, Abertausende Zivilisten in die Flucht trieb und damit krass gegen das Völkerrecht verstieß.

Zu den Forderungen der Türkei gehört ferner die Auslieferung „von 28 Terrorismusverdächtigen aus Schweden und 12 aus Finnland“. Es gebe „keine rechtliche oder juristische Grundlage“, diese nicht auszuliefern, fügte eine Woche später in einem betont selbstsicheren Tonfall Ibrahim Kalin hinzu. Kalin ist der einflussreiche Pressesprecher des Präsidenten.

In der regierungsnahen türkischen Presse kursieren inzwischen die Namen von acht Personen, auf deren unbedingte Auslieferung Ankara besteht: Ragip Zarakolu gehört dazu.1 Als linksliberaler Verleger engagierte sich Zarakolu seit den 1980er Jahren für eine Versöhnung der Türkei mit ihren armenischen und griechischen Nachbarn und für das Recht der Kurden auf ihre Identität. Zarakolu musste oft hinter Gitter, mal weil er die Weigerung der offiziellen Türkei anprangerte, die Identität ihrer rund 15 Millionen zählenden kurdischen Minderheit zu anerkennen, dann wieder, weil sein Verlag Bücher mit angeblich unliebsamen Inhalten veröffentlichte. Mit „terroristischen Handlungen“ wurde Zarakoglu aber bis heute nie in Verbindung gebracht.

Ausgeliefert werden soll auch der Journalist Bülent Kenes.2 Als Chefredakteur leitete dieser zeitweilig die Zeitung „Zaman“ des Predigers Fethullah Gülen.3 Die überzeugten Islamisten Gülen und Erdogan teilten sich um die Jahrtausendwende die Macht über die Bewegung des politischen Islams in der Türkei, bis Ende 2013 dann der große Bruch folgte. Im Sommer 2016 beschuldigte Erdogan seinen ehemaligen Weggefährden, einen gescheiterten Militärputsch organisiert zu haben. Fortan wanderten Fethullah-Anhänger zu Abertausenden ins Gefängnis – oft mit oft willkürlichen Begründungen –, weitere wurden im großen Stil enteignet. Bülent Kenes gelang die Flucht nach Schweden.

Cengiz Candar, ein renommierter Nahost-Experte und einflussreicher türkischer Journalist, der selber im Exil in Schweden wohnt, bittet seine neue Heimat, den Forderungen Ankaras ja nicht Folge zu leisten4: Ein Nachgeben käme einer Aushöhlung des Rechtsstaats in Schweden gleich, schrieb er auf der Internet Plattform „Al Monitor“.5 Ein Nachgeben wäre, als ob die NATO beabsichtigte, „die Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur und die Zukunft des westlichen Demokratie einem Autokraten zu überlassen“.

Spaltung in der NATO

Ist die Türkei überhaupt NATO-konform? Diese Frage hat das vom Krieg in der Ukraine verunsicherte Bündnis in zwei Lager gespalten. Eine Gruppe um den NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg will „Verständnis“ für die Einwände der Türkei zeigen: „Kein anderer NATO-Verbündeter hat mehr terroristische Angriffe erlitten als die Türkei und kein anderer NATO-Verbündeter nimmt mehr Flüchtlinge auf als die Türkei“, unterstrich er letzten Mittwoch in Spanien. Jens Stoltenberg trat in unterschiedlichen Konflikten oft wie ein Botschafter der Türkei auf: Dass die türkische Armee dreimal völkerrechtswidrig in den Norden Syriens einmarschierte und Teile des Nachbarlandes annektierte, übersah er gerne. Er schwieg auch eisern, als die türkische Luftwaffe den Nordirak großflächig bombardierte. Die Türkei sei schon aufgrund ihrer geostrategischen Lage ein „wichtiger Nato-Verbündeter“, wiederholt er bei jeder Gelegenheit. Stoltenberg soll beide skandinavischen Länder ermutigt haben, Ankara entgegenzukommen. Für eine „Einigung“ der NATO-Kandidaten und der Türkei soll auch der US-Außenminister Antony Blinken sein.

In der Brüsseler NATO-Zentrale sind die Stimmen der „Nein-Sager“ aber ebenso laut: Die türkische Regierung halte alle 29 NATO-Mitglieder und die zwei Kandidaten in Geiselhaft, empörte sich etwa Stefanie Babst, eine ehemals hochrangige Beraterin der NATO. „Ich halte es persönlich für absolut inakzeptabel“. Allgemein herrscht da die Überzeugung, dass die Ukraine-Krise Erdogan einen neuen Spielraum für „Basarverhandlungen“ verschafft habe, und dass er diesen Spielraum auch grosszügig ausnütze. Dabei warnen auch sie vor einer Aushöhlung der bislang unangefochtenen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von Schweden und Finnland. Die Türkei sei zwar Mitglied der NATO, aber unter Erdogan bekenne sie sich nicht mehr zu den Werten, die diesem großen Bündnis zugrunde liegen, stand etwa in einem Meinungsartikel im „Wall Street Journal“ vom 18. Mai. Der Autor schloss mit dem Vorschlag: „Vielleicht ist es an der Zeit, ein Verfahren für den Ausschluss eines Mitgliedstaates einzuführen.“

Neue „Operation“ in Nordsyrien

Der türkische Präsident rühmt sich selber damit, auf dem internationalen Parkett ein Poker für starke Nerven vorzuziehen: Offensichtlich in diesem Zuge kündigte er Anfang der Woche eine neue „Operation“ in den kurdischen Nordosten Syriens an. Ziel sei es, „eine 30 Kilometer tiefe Sicherheitszone entlang der südlichen Grenze zu schaffen“, erklärte er nach einer Kabinettssitzung – und löste damit in Washington, in Brüssel und in Stockholm vom neuen Schockwellen aus. Erdogan nütze «Schweden und Finnland als Vorwand, um Joe Biden herauszufordern», urteilte entsetzt Yavuz Baydar, Chefredakteur der Internet-Plattform „Ahval“.6 Auch die Ankündigung der neuen Operation in Syrien sollte Baydar zufolge vor allem Biden treffen.

Die Beziehungen der zwei mächtigen Männer ist ohne jede Zweifel schwierig. Erdogans Busenfreund in Washington war Donald Trump. Wie kein zweiter ausländischer Politiker nahm Erdogan sich das Recht, Trump regelmässig anzurufen, um sich mit ihm auszutauschen. Entsprechend problematisch entwickelte sich die Beziehung des türkischen Präsidenten zu Biden. Biden hat Erdogan nie nach Washington eingeladen oder in Ankara besucht. Biden machte auch nie einen Hehl daraus, dass er Erdogan für einen Autokraten hält. Erdogan seinerseits beschuldigt Biden, im syrischen Nordosten die „Terroristen“ der kurdischen Milizeinheiten der YPG zu unterstützen, um damit die Sicherheit der Türkei zu gefährden.

Die USA und Schweden pflegen nach 2015 in der Tat gute Beziehungen zur YPG.7 Die Regierungen in Washington und Stockholm haben nicht vergessen, dass vor allem die Kämpfer und Kämpferinnen der YPG den Kampf gegen den Dschihadisten des IS geführt und gewonnen haben. Sie hegen Sympathie gegenüber dieser Partei, die in ihren politischen Strukturen ein Frauenquotum von 40 Prozent eingeführt hat, für den Nahen Osten ein absolutes Novum. Im Gegensatz zu den USA betrachtet Ankara die YPG hingegen als Terrorgruppe und fordert ihre Alliierten auf, die syrische YPG wie auch die kurdische Arbeiterpartei PKK zu verbieten. Die PKK, die in der Türkei seit 1984 einen bewaffneten Kampf für eine Autonomie der kurdischen Minderheit des Landes führt, wird in den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft. – Am späten Donnerstagabend hat der mächtige Sicherheitsrat der Türkei das grüne Licht für die „neue Operation“ in Syrien gegeben.

Unkontrollierte Eskalation

Es sei eine Tatsache, dass „unser Volk einmal mehr in seiner Geschichte zur Verhandlungsmasse verkommt“, kommentierte bitter die kurdische Selbstverwaltung Nordostsyriens (Rojava). „Die Türkei spricht von einer Sicherheitszone, die das Leben von Millionen von Menschen gefährdet und eine humanitäre Katastrophe verursachen könnte“, erklärte Ilham Ahmed, Rojavas de-facto Außenministerin, gegenüber der Internet-Plattform „Al Monitor“8. Erdogan spreche von einer 30 Kilometer tiefen Sicherheitszone entlang der gemeinsamen Grenze. Abgesehen von den großen kurdischen Städten Kamisli, Kobani und Manbij befinden sich in dieser Zone auch Gefängnisse, in denen Tausende von ISIS-Mitgliedern festgehalten werden. Ilham Ahmed sprach von eine „Katastrophe für die internationale Sicherheit“, sollten diese Gefängnisse angegriffen werden. Auf die Gefahr einer „unkontrollierten Eskalation“ wies schließlich James Jeffrey hin, der US-Botschafter in der Türkei und oberster Syrien-Beauftragter der Trump-Regierung war. „Um eine 30-Kilometer tiefe Zone zu schaffen, müssten die türkischen Truppen Gebiete einnehmen, in denen sich russische Streitkräfte befinden“, also Krieg mit den Russen führen – ein Horrorszenario.

Die Kurden in Nordostsyrien und in der Türkei bereiten sich jedenfalls auf den neuen Krieg vor. Sie sind sich darin einig, dass die Türkei einen radikalen demografischen Wandel im Grenzgebiet anstrebe: Die Kurdinnen und Kurden werden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und durch syrische Flüchtlinge aus der Türkei ersetzt zu werden, lautet ihre Schussfolgerung. „Von einer ethnischen Säuberung“ spricht auch Damaskus.

„Es nützt nichts, wenn westliche Länder die Türkei in Sachen Demokratie belehren oder die Türkei sich über die westliche Heuchelei beschwert“, kommentiert Cihan Tugal, Professor für Soziologie an der Universität von Kalifornien in einem Gastbeitrag für die New York Times am Donnerstag.9

„Sie stecken alle unter einer Decke. Was auch immer mit der Erweiterung des Bündnisses geschieht – ob die Kurden auf dem Altar der geopolitischen Zweckmäßigkeit geopfert werden oder nicht – dies sollte ein Moment der Klarheit sein. In einer Welt des Kriegs hat kein Land ein Monopol auf Gewalt“.

Eine der größten Tragödien unserer Zeit ist, dass man nicht alles daran gesetzt hat, um den drohenden Krieg in der Ukraine zu verhindern. Wird derselbe Fehler auch an der syrisch-türkischen Grenze wiederholt?

Der Artikel erschien zunächst auf der Website infosperber.ch.

Endnoten

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Ragıp_Zarakolu

2 https://www.populismstudies.org/persons/dr-bulent-kenes-3/

3 https://de.wikipedia.org/wiki/Fethullah_Gülen

4 https://www.al-monitor.com/authors/cengiz-candar.html

5 https://www.al-monitor.com/originals/2022/05/biden-didnt-go-turkey-and-things-arent-okay-erdogan

6 https://ahvalnews.com/

7 https://de.wikipedia.org/wiki/Volksverteidigungseinheiten

8 https://www.al-monitor.com/originals/2022/05/us-kurdish-officials-call-turkish-threats-military-operation-syria-serious

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9 https://www.nytimes.com/2022/05/26/opinion/turkey-nato-kurds.html

Die Autorin

Amalia van Gent hat seit 1980 aus der Türkei und Griechenland berichtet und war zwischen 1988 und 2009 Korrespondentin der NZZ in Istanbul. Zuletzt von ihr erschienen: „Aufbruch am Ararat. Das neue Armenien“ (Kolchisverlag 2020).

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