Eindrücke von den 1. Mai-Protesten in Istanbul
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Kooperation oder Verbot: Legale Proteste nur in abgelegenen Stadtteilen möglich
Nachdem die türkische Regierung auch in diesem Jahr alle Demonstrationen zum 1. Mai auf und um den symbolträchtigen Taksim-Platz in Istanbul verboten hat, verlagerte sich der Großteil der Proteste auf die umliegenden Stadtteile. Das Überraschende an dem diesjährigen 1. Mai war die Bereitschaft der großen Gewerkschaften, sich im Vorhinein mit den verantwortlichen Behörden auf eine Verlegung des Protestes zu einigen. Sie riefen daher zu einem Sternmarsch im abgelegenen Stadtteil Bakirköy auf. Diese meistbesuchte Demonstration in Istanbul wurde organisiert vom Revolutionären Arbeitergewerkschaftsbund (DISK), dem Verband der öffentlichen Gewerkschaften (KESK) und Vertretern diverser politischer Parteien, unter anderem der pro-Kurdischen HDP.
Die diesjährigen Proteste wurden überschattet von der Angst vor Anschlägen. Die Polizei rechtfertigte damit ihr riesiges Aufgebot an Sicherheitskräften, die Teilnehmer der Demonstration in Bakirköy wurden auf ihrer gesamten Route akribisch kontrolliert.
Alle fünfhundert Meter wurden sie von der Polizei durchsucht. Auf der Abschlusskundgebung wurde den 86 Opfern des Anschlags auf die Friedensdemonstration in Ankara vom 10. Oktober 2015 gedacht. Die weitestgehend friedliche Veranstaltung wurde nur durch eine Auseinandersetzung unterbrochen, als Demonstranten die Beschlagnahmung eines Transparents des leninistischen Bündnisses KÖZ verhindern wollten, woraufhin die Ordnungskräfte Tränengas einsetzten. Zwei Personen wurden festgenommen, ein Teilnehmer wurde durch eine Tränengaskartusche im Gesicht verletzt.
Der Bereich um den Taksim-Platz war trotz angekündigter Verlegung der Protestzüge vom frühen Morgen an nahezu hermetisch abgeriegelt, an allen großen Kreuzungen gab es Checkpoints und Ausweiskontrollen. Insgesamt waren rund 25 000 Polizisten in Istanbul im Einsatz, pausenlos kreisten Hubschrauber über der gesamten Stadt. Von den sich in der Innenstadt aufhaltenden Journalisten wurde gezielt und wiederholt der Presseausweis eingefordert. Trotz Abkommen zwischen Regierung und Gewerkschaften gab es aber mehrere Gruppierungen, die sich der Verlagerung der Proteste entgegenstellten.
Sie probierten auf eigene Faust zum Taksim-Platz zu gelangen. Diese Zusammenschlüsse von rund dreißig bis zweihundert Personen trugen in unangemeldeten Demonstrationszügen ihren Protest zur Schau. Der galt der Regierung, aber eben auch der Problematik einer Kooperation mit eben jener Staatsmacht, die auf sehr offenkundige Art und Weise probiert, Kritik und Protest zu lenken und zu unterdrücken. Alle Versuchen, auf den Taksim-Platz zu gelangen, wurde mit Tränengas und Wasserwerfen begegnet. (Ein 57-jähriger Mann wurde von einem Wasserwerfer überfahren und getötet, als er am Rande der Auseinandersetzungen eine Straße überqueren wollte, Anm. d. Red.) Alleine im Innenstadtbereich gab es mindestens 36 Festnahmen. Am späten Abend lieferten sich noch Anhänger der DHKP-C im Stadtteil Giza bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Polizei. Mit Handfeuerwaffen und Molotowcocktails attackierten Kämpfer der sogenannten revolutionären Volksbefreiungsfront die in ihrem Stadtviertel unerwünschte Polizei.
Zusammengefasst verfolgte das Abkommen der Gewerkschaften mit der Polizei mehrere Ziele: Zum einen, den großen Protest zum revolutionären 1. Mai überhaupt zu ermöglichen, also einen genehmigten Demonstrationszug mit mehr als zehntausend Teilnehmern durch Istanbul laufen zu lassen, aber auch die eigene Sicherheit auf eben diesem zu gewährleisten. Vom revolutionären Geist der Gezi-Proteste von 2013 war aber in diesem Jahr wenig zu spüren, der Preis für eine erlaubte Großdemonstration ist in der Türkei zur Zeit die fast schon erzwungene Kooperation mit dem eigentlichen Gegner.
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Tausende Menschen liefen also im abgelegenen Bakirköy über die Zufahrtswege zu einem überdimensionalen Shoppingcenter, dem Mamarra Forum, konnten so aber das Aufmerksamkeits-potenzial, das eine Millionenmetropole für die eigenen Kämpfe besitzt, nicht ausschöpfen. Die türkische Linke befindet sich laut Demonstrationsteilnehmern in einem Konflikt zwischen Reformisten und Revolutionären; beide Flügel haben aber an diesem Tag wenig gewonnen.
Die einen wollen sich gezielter Repression auf parlamentarischem Wege entgegenstellten, zum Beispiel die HDP, die auf offiziellem Weg die Aufhebung der Immunität ihrer Mitglieder bekämpft, die anderen verfolgen den harten Weg der Konfrontation.Tausende Menschen haben sich in Istanbul an diesem 1. Mai auf die Straße begeben – und die schwierige Lage derer verdeutlicht, die in einem zunehmend autoritären Staat das Gefühl haben, dass die Forderung nach mehr Arbeiterrechten inzwischen schon als extrem oppositionelle Haltung gilt.