Ein neuer medialer Feldzug gegen Hugo Chávez
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Von HELGE BUTTKEREIT, 20. Dezember 2010 –
Für die hiesige Presse ist Hugo Chávez das Feindbild schlechthin. Der gewählte Staatspräsident Venezuelas wird gerne als „Diktator“ beschrieben (so gerade wieder die taz) (1) und jeder Anlass wird benutzt, dieses Bild zu bestätigen. Aktuell bieten sich gleich zwei. Zum einen verabschiedete das Parlament ein „Ermächtigendes Gesetz“ („Ley Habilitante“), das Chávez für eine befristete Zeit auf genau umrissenen Politikfeldern die Kompetenz gibt, Gesetze per Dekret in Kraft zu setzen (2). Zum anderen hat Venezuela auch ein neues Mediengesetz (3). Und natürlich setzte der bekannte Beißreflex ein, der tiefere Recherche obsolet macht. Denn der Großteil der hiesigen Medien kaut das nach, was die Opposition in Venezuela und ihre Medien vorkaut. Schaut man aber genauer hin, entpuppt sich die Anklage der angeblichen Diktatur als Verleumdung. Wieder einmal.
Dies fällt besonders ins Auge, wenn man den Beitrag von Thomas Wagner* auf Zeit Online genauer unter die Lupe nimmt. Wagner ist Korrespondent vor Ort in Caracas und müsste eigentlich wissen, wovon er spricht. So kommt sein Beitrag auch relativ ausgewogen daher. Er zitiert Oppositionelle und Regierungsanhänger und erscheint dadurch besonders seriös. Seine versteckte Anklage, Chávez unterhöhle die Demokratie und regiere autokratisch, versteckt sich demnach im Detail. Insbesondere sein Zitat des zum überzeugten Neoliberalen gewandelte Ex-Guerillero Teodore Petkoff (4), der als Zeitungsherausgeber Stimmung gegen Chávez macht, übergeht ein entscheidendes Detail.
Petkoff kann seine Warnung vor dem „weihnachtlichen Hinterhalt“ mit dem sich Chávez endgültig auf den Weg „zur Diktatur“ mache, in Venezuela frei publizieren. Es hindert ihn sogar niemand daran, auf der Titelseite seiner Zeitung Tal Cual erneut offen Chávez mit Hitler zu vergleichen und ihn mit einem Hitlergruß abzubilden (5). Er schreibt: „Das ist es, was Adolf Hitler tat. Am 24. März 1933 gab der Reichstag, das deutsche Parlament, ihm spezielle Befugnisse für eine unbestimmte Zeit und die Möglichkeit, Gesetze über jegliche Bereiche zu erlassen. Der Reichstag trat nie wieder zusammen, von da an herrschte Hitler in diktatorischer Weise.“ Davon einmal abgesehen, dass Petkoff es mit der deutschen Geschichte nicht so genau nimmt – der Reichstag trat, wenn auch als Deklamationsorgan für Hitler und nicht mehr in der Zusammensetzung vom März 1933, noch bis in den Zweiten Weltkrieg hinein regelmäßig zusammen – ist dieser Vergleich eine Verleumdung. In Deutschland müsste sich der Herausgeber dafür vor Gericht verantworten. Petkoff aber kann weiter vor der angeblichen Diktatur warnen, wie er das seit Jahren tut. Ungehindert, versteht sich.
Was nun hat es sich in Wirklichkeit mit dem „Ermächtigenden Gesetz“ – so heißt es in der offiziellen deutschen Übersetzung der venezolanischen Verfassung (6) – auf sich? Es ist bereits das vierte Mal, dass Chávez mit einem solchen Gesetz in die Lage versetzt wird, über einen beschränkten Zeitraum – dieses Mal sind 18 Monate vorgesehen – in im jeweiligen Gesetz definierten Feldern unabhängig vom Parlament gesetzgebend tätig zu werden. Hintergrund ist die aktuelle Lage in Venezuela, das wie das Nachbarland Kolumbien von schweren Unwettern heimgesucht wird – die besonderen Vollmachten von Kolumbiens Präsident Santos sind übrigens nicht Thema der hiesigen Berichterstattung.
In den ärmeren Vierteln der großen venezolanischen Städte aber auch auf dem Land ist die Not groß. Viele Menschen leben mittlerweile in Notunterkünften, auch der Präsidentenpalast Miraflores beherbergt einige Familien. Insgesamt sind bislang 40 Menschen ums Leben gekommen, 130.000 obdachlos geworden. Chávez reist seit einem Monat unermüdlich durchs Land und versucht, den Menschen zu helfen. Die Aktivisten weiß er dabei an seiner Seite. Die Opposition nicht. (7)
Die beschuldigt ihn nun, eine Diktatur errichten zu wollen. Das ist weder besonders originell noch besonders neu. Dass Chávez dabei auf Grundlage der bestehenden Verfassung handelt, die in Artikel 203 „Ermächtigende Gesetze“ vorsieht, übergeht sie ebenso wie den Fakt, das jedes der durch Dekret in Kraft getretenen Gesetze nach Artikel 74 der Verfassung auch wieder durch eine Volksabstimmung außer Kraft gesetzt werden kann (8). Hierfür müssen nur fünf Prozent der Wahlberechtigten dies beantragen, danach müssen mindestens 40 Prozent der Wahlberechtigten abstimmen. Wenn die Hälfte der Stimmen erreicht würde, wäre ein dekretiertes Gesetz gekippt. An solch direkter Demokratie hat aber die Opposition kein Interesse. Ein einziges Mal gewann sie in den vergangenen zwölf Jahren eine Abstimmung, das einzige selbst initiierte Referendum zur Abwahl von Chávez ging 2004 deutlich verloren. Die Opposition schert sich nicht um direkte Demokratie. Sie will Chávez weg haben und wieder an die Fleischtöpfe der Macht. Dafür wirbt sie im Ausland, deswegen klagt sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit über Diktatur und einen Angriff auf die Meinungsfreiheit in Venezuela.
Das Ermächtigende Gesetz vom Donnerstag ermöglicht es dem Präsidenten, ohne ein sehr langsam und bürokratisch agierendes Parlament zu handeln, die ineffizienten Verwaltungsstrukturen in Venezuela zumindest zum Teil zu übergehen und damit den Bedürftigen direkt zu helfen. Die bürokratischen Strukturen im Geist der alten Vierten Republik sind derzeit das Hauptproblem in Venezuela, das ein solches Vorgehen notwendig erscheinen lässt. Es ist ein Problem, dass diese Strukturen immer noch vorhanden sind und den Prozess behindern können. Vor diesem Hintergrund erscheint das Ermächtigende Gesetz in einem anderen Licht. Dass Chávez dabei begrenzte Vollmachten erhält, er jedoch keineswegs – wie sein Gegner Petkoff schreibt – Gesetze nach Belieben machen kann, zeugt davon, dass es darum geht, den Folgen der Unwetter zu begegnen.
Es geht darum, den dringenden menschlichen Bedürfnissen gerecht zu werden, die durch die Armut und insbesondere auch die Überschwemmungen nicht erfüllt werden können. Darum, die Konzentration der Bevölkerung in einigen Regionen zu verringern und deswegen gegebenenfalls in die regionalen Strukturen einzugreifen. Insbesondere in der Kritik der Opposition steht der Passus, der es Chávez erlaubt, private und öffentliche Körperschaften zu regulieren, die mit dem Bau von Häusern befasst sind. Auch die Kompetenzen bei der Regulierung der Finanzmärkte werden insbesondere auf die immer noch grassierende Armut und deren Bekämpfung bezogen, die gerade durch die Unwetter wieder deutlicher zutage tritt. Sicher sind einige der Regelungen weit gefasst und sicher spielt es bei der Gesetzgebung auch eine Rolle, dass ab Januar 2011 eine Nationalversammlung amtieren wird, in der die Opposition wieder ein stärkeres Wort mitzusprechen hat. Allerdings könnten die Gesetze, die Chávez erlassen wird, allesamt auch in der neuen Nationalversammlung beschlossen werden, da seine Partei dort die Mehrheit hat. Wer die Fakten betrachtet, der sieht, dass sich die Beschlüsse im Rahmen der Verfassung bewegen und zudem auch wieder aufgehoben werden könnten – wenn die Mehrheit der Menschen im Land dagegen stimmt.
Aber darum geht es wie gesagt nicht. Es geht darum, die Entwicklung Venezuelas hin zu einem neuen Sozialismus, einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ zu diskreditieren. Dieser hat als Prozess von unten vor allem die Ermächtigung der bislang Ausgeschlossenen zum Ziel, die sich in den sogenannten „kommunalen Räten“ (Consejos Comunales) selbst regieren und von unten einen kommunalen Staat aufbauen (9). Weil diese immer mehr Bereiche der Gesellschaft übernehmen und teilweise auch dabei sind, kommunale Medien einzurichten, ist der Prozess in Venezuela und vor allem Chávez seit Jahren das Feindbild der internationalen und auch der deutschen Presse. Deswegen wird immer wieder vor der Diktatur und einer angeblichen Einschränkung der Meinungsfreiheit gewarnt, von der, das Beispiel Teodore Petkoff zeigt es, nicht die Rede sein kann. „Was in Venezuela nicht veröffentlicht wird ist das, was die Besitzer der Medien nicht veröffentlicht sehen wollen“, fasste es kürzlich in New York der Chefredakteur der größten Tageszeitung Últimas Noticias zusammen, die als unabhängig gilt und keinem der beiden großen Lager (Opposition/Regierung) zuzuordnen ist. Bei der gleichen Konferenz verwies die Soziologin Maryclen Stelling darauf, dass sich die Medien in Venezuela eine eigene Realität geschaffen und aufgehört hätten, Informationen zu publizieren (10).
Das gilt insbesondere für die privaten Fernsehsender, die 2002 beim Putsch gegen Chávez von vornherein eingebunden waren. Immer noch dominieren sie und ihre anti-chavistische Meinungsmache, die teilweise bis zum Aufruf zur Ermordung des Präsidenten vor laufender Fernsehkamera geht (11), die Fernsehlandschaft. Eine unabhängige Studie hat kürzlich gezeigt, dass die mittlerweile mehreren staatlichen Fernsehsender zwar in politisch bedeutenden Zeiten an Zuschauern gewinnen, aber im Durchschnitt dennoch kaum mehr als fünf Prozent Einschaltquote verzeichnen (12). Die Seifenopern, Sportübertragungen und Unterhaltungsshows, die insbesondere bei den Privatsendern laufen, dominieren weiter das Fernsehverhalten der Venezolaner.
Das neue Mediengesetz, das ebenfalls am Donnerstag verabschiedet wurde und in dem die Meinungsfreiheit explizit betont sowie die Zensur ausgeschlossen wird, richtet sich dann auch auf die soziale Verantwortung der Medien und die Qualität des Programms. Seifenopern sollen künftig mindestens zur Hälfte in Venezuela selbst produziert werden und weniger zu Gewalt anstiften. Im Internet ist es künftig unter anderem verboten, Mordaufrufe zu veröffentlichen. Insgesamt ist das neue venezolanische Mediengesetz durchaus vergleichbar mit dem anderer Staaten, auch in Deutschland wird schließlich die Fernsehlandschaft durch die Medienanstalten reguliert. Mit Blick auf die Einschaltquoten lässt sich zudem sagen, dass nicht die Rede davon sein kann, dass die privaten Medien keine Stimme mehr hätten, wie dies Zeit Online suggeriert.
Ein genauer Blick auf die aktuellen Gesetze in Venezuela zeigt also, dass die Vorwürfe wieder einmal haltlos sind. Klar ist, die Entwicklung Venezuelas gefällt den hiesigen Medien nicht. Deswegen machen sie sich gemein mit der Opposition. Mit Redlichkeit, Recherche und wahrhaftiger Information hat das aber nichts zu tun.
* nicht zu verwechseln mit Dr. Thomas Wagner von der Redaktion Hintergrund
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Quellen und Anmerkungen:
(1) http://www.taz.de/1/politik/amerika/artikel/1/chavez-spielt-zum-vierten-mal-diktator/
(2) http://www.asambleanacional.gob.ve/index.php?option=com_docman&task=doc_details&gid=2783&Itemid=184&lang=es
(3) http://www.asambleanacional.gob.ve/index.php?option=com_docman&task=doc_details&gid=2771&Itemid=184&lang=es
(4) Ein treffendes Porträt von Petkoff schrieb Tariq Ali in Piraten der Karibik. Die Achse der Hoffnung, München 2008
(5) http://www.handsoffvenezuela.org/media_venezuela_chavez_hitler.htm
(6) Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela vom 24. März 2000, deutsche Ausgabe, Essen 2005
(7) Hierauf und das Folgende macht Tobias Lambert aufmerksam: http://amerika21.de/analyse/18206/vollmachten-venezuela
(8) vgl. Chávez’ Kolumne vom 5. Dezember in deutscher Übersetzung: http://www.zmag.de/artikel/regenfaelle-in-venezuela-volk-und-regierung-schaffen-es-gemeinsam
(9) Die beste Zusammenfassung der aktuellen Entwicklungen von unten liefert Dario Azzellini: Partizipation, Arbeiterkontrolle und die Comune. Bewegungen und soziale Transformation am Beispiel Venezuela, Hamburg 2010
(10) http://venezuelanalysis.com/analysis/5854
(11) vgl. hierzu und dem letzten großen medialen Angriff auf Venezuela den Text von Salim Lamrani (http://www.zmag.de/artikel/hugo-chavez-und-die-privaten-medien)
(12) http://www.cepr.net/documents/publications/2010_12_venezuela_media.pdf