Weltpolitik

Die USA und Lateinamerika

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Über Obamas Lächeloffensive gegenüber Kuba und die historische Rolle der USA auf dem südlichen Subkontintent –

Von WOLF GAUER, 12. Januar 2015 –

Ein Thema mit Variationen – endlos und trostlos. Wo anfangen? Nach der Emanzipation von den europäischen Kolonisatoren ist die Geschichte der lateinamerikanischen Nationen gezeichnet vom Hegemoniestreben der USA. Von deren Einmischung in die Konsolidierung der jungen Staaten, von Indoktrination, kultureller Demontage, Ausbeutung, Chaotisierung, Krieg, Invasion oder Blockade – die bekannte, bis heute gängige Praxis. Sie spiegelt den Werdegang der US-amerikanischen Nation, ihr eigenes, gnadenloses „making of a nation“ auf fremdem Boden.

Der amerikanische Doppelkontinent (43 Millionen Quadratkilometer) beherbergt rund 930 Millionen Menschen. Ein knappes Viertel seiner Fläche haben die USA an sich gebracht, in kaum 200 Jahren. Ihre Bürger (319 Millionen) sprechen von ihrem Land als „Amerika“ und von sich selbst als den „Amerikanern“. Sie verbrauchen jährlich ein Fünftel der Primärenergie unseres Planeten, das heißt pro Kopf siebenmal mehr als die ungeliebten „Latinos“ aus Mittel- und Südamerika. Denken sie an Ressourcen, so denken sie grenzenlos – an sich.

1910, vier Jahre vor der Fertigstellung des Panamakanals – die USA hatten dazu Kolumbien den Isthmus von Panama entrissen und darauf den Staat gleichen Namens gegründet – erklärte US-Präsident William H. Taft: „Der Tag ist nicht mehr fern, wo das Sternenbanner an drei … Punkten unser Territorium markieren wird. Am Nordpol, am Panamakanal und am Südpol. Die ganze Hemisphäre wird unser sein, so wie sie uns ja schon moralisch gehört dank unserer Überlegenheit der Rasse“ (Noam Chomsky: „Year 501“, 1993, Übs. W. G.).

Die Landnahmen nach dem spanisch-amerikanischen Krieg (1898), darunter Kuba, Puerto Rico und die Philippinen, hatten schon 1901 den Schriftsteller Mark Twain bewogen, sich der Anti-Imperialist League anzuschließen. Ein US-Kolonialreich erschien ihm unvereinbar mit Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung (1776) und der Fackelschwenkerin im New Yorker Hafen. Zu Buche schlugen 200.000 Tote allein auf den Philippinen, die Halbierung Mexikos, die Genozide an der Urbevölkerung und anderes mehr. Schon 1920 gab die Liga auf. Die Wall Street dekretierte längst die „national purposes“ (nationale Zwecke), 1925 zum Beispiel diesen: „Es gibt weltweit kein besseres Terrain zur Exploration als Brasilien.“ (Wall Street Journal, Übs. W. G.)

Bleiben wir beim Beispiel des demographisch zweit- und geographisch drittgrößten Landes der Hemisphäre, dessen Wirtschaftsleistung weltweit Platz sieben einnimmt: Brasilien gilt als Schlüssel zu Südamerika. Es verfügt über die bedeutendsten Reserven an Agrarflächen, Süßwasser, Zellulose, Erzen, Bauxit, an strategisch wichtigem Niobium, Mangan, Kobalt und Thorium, an erneuerbarer und fossiler Energie und anderen guten Dingen, deren Bedeutung Henry Kissinger 1979 als Repräsentant von David Rockefellers Trilateraler Kommission hervorhob: „Die Industrieländer werden nicht in derselben Weise leben können wie bisher, wenn sie nicht über die nicht-erneuerbaren Ressourcen des Planeten verfügen. Deshalb müssen sie feinere und wirksamere Pressions- und Zwangssysteme ausarbeiten, die das Erreichen ihrer Ziele garantieren.“ (Notícias Militares, 12.1.2012, Übs. W.G.). Kissingers „Systeme“ waren längst weltweit erprobte US-Praxis, die Tricks und Verbrechen der selbsternannten Führungsnation.

Brasilien suchte schon 1786 Kontakt zu der jungen nordamerikanischen Republik. Animiert von deren Gelingen, bat ein empörter Aufklärerzirkel der von Portugal extrem geschröpften Goldprovinz Minas Gerais im Südosten Brasiliens Präsident Jefferson um Rat und Waffen (gegen Vergütung). Jefferson sagte ab, wegen der vorteilhaften Handelsverträge seiner allerfreiheitlichsten Republik mit dem absolutistischen Unterdrücker Portugal. Die Erhebung des 21. April 1789, die „Inconfidência Mineira“ (Treubruch von Minas) scheiterte mangels Know-how,  inspirierte aber Brasiliens eigenen Weg zur Unabhängigkeit (1822). Ohne Hilfe aus dem Norden und noch vor Präsident James Monroes Doktrin „Amerika für die Amerikaner“ (1823), die man alsbald als „Amerika für die Nordamerikaner“ begreifen sollte.

Erst 1824 erkannten die Vereinigten Staaten die Unabhängigkeit des Kaiserreichs Brasilien an. Ihr erster Botschafter, der Banker Condy Raguet, gab 1826 die bis heute gültige, sendungsbewusste präpotente Tonart vor: „Es ist nun an der Zeit, dass wir die [brasilianische] Regierung den Einfluss fühlen lassen, zu dessen Erhaltung wir in dieser Hemisphäre der Freiheit bestimmt sind.“ (Bianca C. Pazinatto et.al.: „Relações entre Brasil e Estados Unidos no Século XIX”, Curitiba s. a., Übs. W. G.). Es setzte auf diplomatische Provokationen, bewaffnete Übergriffe auf See und in den Handelshäfen – Piraterie gehört zum britischen Erbe –, erpresserische Kriegsdrohungen und formulierte erste unverblümte Ansprüche auf das Amazonasbecken. Auf dessen Öffnung, auf territoriale Teilhabe und Internationalisierung des ganzen Flusssystems. Nordamerikanische „Siedler“ wurden infiltriert, lokale Indigene gegen die Zentralregierung aufgehetzt. Die Taktik der heutigen „Entwicklungshelfer“ von USAID und anderen US-finanzierten sogenannten Nichtregierungsorganisationen in Lateinamerika, die zum Beispiel in Bolivien und Venezuela längst ausgewiesen wurden, basiert nicht zuletzt auf dieser Tradition.

Die aktuelle Erzwingung von Freihandelsabkommen und freier Kapitalzirkulation hat ihren Ursprung ebenfalls im 19. Jahrhundert. Brasilien war erpressbar. 75 Prozent der Kaffee-Ernte gingen schon 1870 in die USA, und zollfreie US-Importe lähmten die brasilianische Industrieentwicklung. Noch 2013 machten Rohstoffe und Agrarprodukte 47, Industrieerzeugnisse aber nur 36 Prozent des brasilianischen Exports aus. Letztere produziert von Firmen ausländischen oder gemischten Kapitals, darunter rund 200 der 500 größten US-amerikanischen Unternehmen. Henry Kissinger erklärte dazu unverblümt: „Globalisierung ist ein anderer Name für die Dominanz der USA“ (Sens Public, 5.3.2005, Übs. W. G.).

Zur „Überlegenheit der Rasse“ und „Dominanz der USA“ passen die Versuche, Kultur und Eigenart der Brasilianer zu beeinflussen. 1850 beginnt die forcierte Verbreitung des Protestantismus mit Hilfe US-amerikanischer Prediger. Protestantische Observanz als mentales Trampolin zu Fortschritt, zu „time is money“ und „money is god“. Frei nach der Prädestinationslehre Calvins, die kapitalistischen Erfolg und Reichtum als göttlichen Vorabkredit verbucht. Der Name des Reverend Justin Cooley Fletcher ist Synonym der landesweiten Propagierung US-amerikanischer Religiosität. Nach dem nordamerikanischen Sezessionskrieg landeten spezielle Schifffahrtslinien etwa 15.000 amerikanische Protestanten an. Mormonen, Scientology und andere Sekten aus dem Norden komplettieren heute im Verein mit Hollywood & Co. die Pervertierung angestammten Denkens und Empfindens.

Trotz allem: Brasilien bewahrte sich beachtliche Eigenständigkeit, vor allem dank seiner kompetenten Außenpolitik. Es unterstützt  unter anderem wirtschaftlich und diplomatisch die Opfer Washingtons: Kuba, Bolivien, Venezuela, Argentinien, Uruguay. Die Maxime „Universalismus, Autonomie und Nichteinmischung“ wurde seit dem Zweiten Weltkrieg durchgehalten, selbst von Seiten der per se US-nahen Militärdiktatur (1964–1982). Brasilien akzeptierte weder US-Militärbasen noch Geheimgefängnisse der CIA, auch nicht die Einbindung in die Bündnissysteme Washingtons. Das Grauen vor dem globalen US-Staatsterrorismus, vor der Kuba-Blockade, vor der US-internen Faschisierung und sozialen Polarisierung nimmt in allen lateinamerikanischen Staaten zu. Und mit diplomatisch getarnter Besorgnis beobachten sie Obamas ambivalente Lächeloffensive gegenüber Havanna.

30 Prozent der brasilianischen Exporte gehen derzeit nach Asien; größter individueller Handelspartner ist die Volksrepublik China (17 Prozent, USA: zehn Prozent). Die USA ordnen sich im äußersten Kreis einer gedachten konzentrischen Darstellung brasilianischer Interessen ein. Den innersten Kreis belegen die bolivarisch orientierten Organisationen der lateinamerikanischen Integration: Mercosur (Gemeinsamer Markt Südamerikas), Unasur (Union Südamerikanischer Nationen) und CELAC (Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten). Daneben die ebenfalls von Brasilien mitbegründete Gruppe der BRICS-Staaten, die eine multipolare Welt- und Wirtschaftsordnung anstreben.

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In ihrer festungsartigen Botschaft in Brasilia brütet jedoch die US-Botschafterin Liliana Ayalde – als USAID-Leiterin aus Bolivien ausgewiesen, als Botschafterin in Paraguay mitverantwortlich für den Rio-Tinto-Alcan-Putsch gegen Präsident Fernando Lugo (2012), zuvor als zweite US-Vize-Außenministerin zuständig für die Beziehungen zu Lateinamerika – einschließlich Kuba. Die Spuren schrecken.

# Der Beitrag erschien zuerst in Ossietzky – Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft.

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