Die „regelbasierte Ordnung“ ist längst aufgekündigt
Russland hat die Missachtung der Regeln der internationalen Politik generalisiert. Es sind nicht mehr nur die USA und ihre Verbündeten, die das Völkerrecht brechen. Eine kurze Rückschau auf die vergangenen Jahrzehnte.
Der große Vorwurf dieser Tage lautet, Russland habe mit dem Angriff auf die Ukraine die regelbasierte Weltordnung aufgekündigt. Völkerrechtsbruch. Lauthals beklagen das unsere Politiker. Aber diese regelbasierte Ordnung, die die USA für sich ohnehin kaum gelten ließen, ist schon längst durch zahllose Völkerrechtsbrüche, vom Westen begangen oder gutgeheißen, verletzt worden.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat die bisherige Missachtung der Regeln in der internationalen Politik jetzt generalisiert. Vor diesem Hintergrund kann man auch sagen: Ein Kommunist ist er sicher nicht. Von einem Kommunisten würde man erwarten, dass er nicht nur um die Sicherheit und Machtposition des eigenen Landes besorgt ist, sondern auch das Wohl der Weltgesellschaft im Blick behält. Aber lassen wir Putin! Diese Personalisierung dient nur der Ablenkung von einem geopolitischen Konflikt. Dieser Krieg ist eine Katastrophe, keine Frage, nicht nur weil er wie jeder Krieg Tod und Zerstörung mit sich bringt und viele Menschen heimatlos macht. Er birgt auch enorme Risiken für Europa und für die Welt in sich. Nicht auszudenken, wenn eines der vier AKWs der Ukraine beschädigt wird. Teile des AKW Saporischschja sind bereits unter Beschuss geraten, auch das von den Russen besetzte AKW Tschernobyl war von Kampfhandlungen und einem Stromausfall betroffen.
Unabhängig von dieser speziellen Bedrohung ist die Umweltbelastung durch eine solche Invasion enorm. Wer redet jetzt noch von der Reduktion der Emissionen? Nachhaltigkeit ist kein Thema mehr, auch weil der Westen alle umweltpolitischen Vorsätze vergisst, um aufzurüsten und um Russland zu sanktionieren. Frackinggas aus den USA statt konventionelles russisches Gas. Vom Bericht des Weltklimarats zeigt man sich zwar verbal alarmiert. Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt findet: “ein flammendes Dokument über eine brennende Welt.” Aber die Prioritäten sind jetzt anders gesetzt. Klimaschutz und Artenschutz geben keine Schlagzeile mehr her. Der zerstörerische Charakter des auf Wachstum programmierten Systems gerät völlig aus dem Blick.
Begründet ist also die Befürchtung, dass unser Planet durch diesen Krieg endgültig nicht mehr zu retten sein wird. Zusammen mit der verständlichen Angst schürt das die Wut auf den Verursacher, den man durch Putin personifiziert sieht. Die Angst ist umso größer, als er als unberechenbarer Psychopath dargestellt wird. Wut mischt sich mit einer rauschhaften moralischen Empörung, die von den Medien angeheizt wird. Wie in beiden Weltkriegen wird ein ganzes Volk zum Opfer eines Feindbilds. Die grassierende Russophobie ist erschreckend. Sportler, Musiker, Künstler werden ausgegrenzt. Dass es innerhalb Russlands Proteste gegen den Krieg gibt, auch Appelle von Intellektuellen für Friedensgespräche, bleibt unbeachtet.
Aber wozu diese Empörung? Die „regelbasierte Ordnung“ ist, wie gesagt, längst aufgekündigt, und zwar vom Westen. Nehmen wir nur die Rechtsbrüche seit dem Ende der Sowjetunion: 1999 die Bombardierung Jugoslawiens, 2001 der Überfall auf Afghanistan mit der umstrittenen Rechtfertigung nach Artikel 51 der UN-Charta, für die USA sei der Verteidigungsfall eingetreten, 2003 der zweite Krieg gegen den Irak mit der schonungslosen Zerstörung von Großstädten wie Falludja, alles ohne UN-Mandat, 2011 der Angriff auf Libyen unter missbräuchlicher Anwendung eines Sicherheitsratsbeschlusses. Den Staatschef ließ man von islamistischen Banden ermorden. Gern bedient man sich solcher Fanatiker oder Söldner in Stellvertreterkriegen wie in Syrien, das als Brückenkopf für den Iran gilt. Deshalb war bisher kein breiter Protest dagegen zu vernehmen, dass das NATO-Mitglied Türkei zwei syrische Provinzen okkupiert hat und nach wie vor besetzt hält. Das ist ebenso völkerrechtswidrig wie die wiederholten, fast regelmäßigen Raketen- und Bombenangriffe Israels auf Syrien.
Die Folge jener Kriege ist die Destabilisierung des Nahen Ostens und der Sahelzone, aber auch eine gigantische Umweltzerstörung. Die Lebensverhältnisse in Afghanistan und Irak sind unerträglich. Zeitweise herrschte aufgrund des fehlenden staatlichen Gewaltmonopols das Chaos. Nach wie vor ist das Leben von Gewalt geprägt. Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Die Infrastruktur ist weithin zerstört. Im Irak sind ganze Landstriche durch den Einsatz von Uranmunition radioaktiv verseucht. Die Zerstörung Libyens ist zu einer der Ursachen für die Ausbreitung des islamistischen Terrorismus in den Staaten der Sahelzone geworden.[1]
Es gibt deshalb keinen Grund für die maßlose Empörung über den gegenwärtigen Angriffskrieg. Den US-Präsidenten als moralischen Sieger zu feiern, ist grotesk. Die Ukrainer erleiden jetzt, was die Iraker vor knapp zwanzig Jahren erlitten. Man könnte glauben, das Leben eines Irakers und einer Irakerin sei den Menschen im Westen weniger wert als das eines Ukrainers, einer Ukrainerin. Moralische Empörung ist wenig hilfreich. Stattdessen ist ein nüchterner Blick auf die heutige Mächtekonstellation in der Welt gefordert. Es gibt keinen Systemgegensatz mehr wie vor 1990, aber höchst gefährliche Rivalitäten. Geboten ist der Aufbau eines neuen Sicherheitssystems, das allen Konfliktparteien Sicherheit verspricht. Erst dann wird es möglich sein, den Planeten noch zu retten und die Apokalypse abzuwenden.
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[1] Georg Auernheimer (2018): Wie Flüchtlinge gemacht werden. Über Fluchtursachen und Fluchtverursacher. Köln: PapyRossa.
Der Autor war bis zu seiner Emeritierung Professor für Interkulturelle Pädagogik an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Seitdem arbeitet er als politischer Publizist. Zuletzt erschien von ihm „Wie gesellschaftliche Güter zu privatem Reichtum werden. Über Privatisierung und andere Formen der Enteignung“ (PapyRossa, 2021)