Knesset-Wahl

„Die Menschen wollen Stärke und nicht Schwäche“

Benjamin Netanjahu heißt der strahlende Sieger der Parlamentswahl in Israel. Zu seinem Comeback haben ihm militante Rechtsextremisten verholfen, die schon lange Aufwind haben und nun ihren Anteil an der Macht bekommen werden. Eine absehbare Katastrophe?

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Benjamin Netanjahu
Foto:Jolanda Flubacher, Lizenz: CC BY-SA, Mehr Infos

Er werde den Tag „mit einem Lächeln beenden“, hatte Benjamin Netanjahu siegessicher angekündigt. Gestern Nacht stand fest, dass die 25. Knesset-Wahl dem mit Abstand erfolgreichsten Stehaufmännchen in der Geschichte seines Landes sogar einen gewaltigen Triumph – vielleicht den größten in seiner Karriere – bereiten und er bald schon zum siebten Mal Ministerpräsident Israels sein wird.

Der von seinen Anhängern zärtlich „Bibi“, oft auch voller Bewunderung „König Bibi“ genannte Chef der rechten Likud-Partei hat wahrscheinlich nicht nur die Wahl gewonnen – er könnte sogar einen unerwartet großen Vorsprung vor seinem Rivalen Jair Lapid errungen haben: Nach gegenwärtigem Stand hat Netanjahu gemeinsam mit seinen ultrarechten Verbündeten 65 der insgesamt 120 Parlamentssitze erobert, falls aber noch einige der kleinen Parteien, die im gegnerischen Lager stehen, an der 3,25-Prozenthürde scheitern sollten, könnten es noch mehr werden (da die Wahllokale gestern erst um 22 Uhr geschlossen haben, wird das endgültige Ergebnis frühestens am Donnerstag bekannt gegeben werden können). Die linksliberale Meretz-Partei hat den Wiedereinzug in die Knesset jedenfalls schon sicher verpasst. Die Arbeitspartei konnte gerade noch mal vier Mandate ergattern. Eine saftige Ohrfeige für die Sozialdemokratie – und ein Extra-Bonbon für Netanjahu: „Die Menschen wollen Stärke und nicht Schwäche“, erklärte er genüsslich die Niederlage der parlamentarischen Linken, die er als Todfeind betrachtet, obwohl sie schon längst neoliberalisiert ist und sich von ihrer einst sozialistischen Agenda verabschiedet hat. Besonderen Anteil an Netanjahus glorreicher Rückkehr an die Macht – die er 2021 kurzzeitig verloren hatte – hat die extreme und in Teilen faschistische Rechte, die auf 15 Sitze gekommen ist.

Zukunft oder Vergangenheit

Die Knesset-Wahl fand unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt. Der Gaza-Streifen und das besetzte Westjordanland wurden in der Nacht von Montag auf Dienstag für 24 Stunden abgeriegelt – Zugang nach Israel wurde nur in Notfällen und mit Sondergenehmigung gewehrt. Es herrschte eine aufgeheizte Stimmung. Dafür sorgten vor allem Sympathisanten der hegemonialen radikalen Rechten, die von ihnen als „Linke“ gescholtene Gegner, in der Regel liberale Zionisten, vor den Wahllokalen anpöbelten und verhöhnten.

Die Nerven lagen blank. Kein Wunder: Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen, womöglich eine Patt-Situation, die es bei vergangenen Wahlen häufig gab, vorausgesagt worden: zwischen dem durch eine extrem rechte Liste verstärkten Netanjahu-Block und dem von dem Liberalen Jair Lapid angeführten Mitte-Links-Bündnis der Acht-Parteien-Koalition, die noch an der Regierung ist. Ihr gehört neben der rechten Jamina-Partei von Naftali Bennett – der bis Juni Ministerpräsident war und nach dem Scheitern der Koalition bereits nach rund einem Jahr vorzeitig gemäß dem vereinbarten Rotationsprinzip von Lapid abgelöst wurde – auch die Vereinigte Arabische Liste Raam mit fast ausschließlich muslimischer Wählerschaft an. Nach letzten Umfragen lag der rechte Block mit 59 bis 60 erreichbaren Sitzen drei bis vier Sitze vor der Regierungsparteien-Koalition, die vor allem ein Anti-Netanjahu-Bündnis war.

Obwohl die rund 6,8 Millionen Wahlberechtigten mittlerweile schon zum fünften Urnengang in dreieinhalb Jahren aufgerufen waren, hat sich offenbar keine Wahlmüdigkeit eingestellt. Mit 66,3 Prozent wurde sogar die höchste Beteiligung seit 1999 verzeichnet. Die Spitzenkandidaten hatten auch noch bis zur letzten Minute mit dramatischen Appellen ihre Anhängerschaft mobilisiert und eine Schicksalswahl ausgerufen: „Es geht um Zukunft oder Vergangenheit“, sagte Jair Lapid am Montagmorgen bei der Stimmabgabe in seinem Wahlbezirk. Tatsächlich hatten die Liberalen und die seit vielen Jahren schon geschwächten Linken allen Grund, nervös zu sein: Der Shooting-Star vor allem der radikalisierten Jungwähler aus dem Umfeld der militanten Siedlerbewegung ist der Rechtsextremist und Kahanist Itamar Ben-Gvir. Er war mit seiner Partei Jüdische Kraft, der nationalreligiösen Partei der Religiöse Zionismus von Bezalel Smotrich und der orthodox-religiösen Partei Noam eine Listenverbindung eingegangen und bei der letzten Wahl mit 5,11 Prozent in die Knesset eingezogen.1 Ben-Gvir gilt als Steigbügelhalter für Netanjahu, der bis heute tief in einem Korruptionsskandal streckt und gegen den ein Strafverfahren läuft – aber auch als der eigentliche Gewinner.

Untergangsstimmung

Entsprechend finster ist die Lage für seine Gegner. Die israelische Tageszeitung Haaretz vermeldete schon am Vorabend der Wahl, dass „Untergangsstimmung“ im Mitte-Links-Lager herrschen würde. Die Kahanisten könnten bereits feiern, weil sich Netanjahus Likud-Partei auf Wählerfang vor den Augen der israelischen Öffentlichkeit „schnell und alarmierend in den Ben-Gvir-Block verwandelt“ habe, so das Blatt weiter.i Diese Feststellung bilanziert einen weitgehend inhaltsleeren Wahlkampf, der von professionell orchestrierten Hetz-Kampagnen getragenen war. Zwar waren die hohe Inflationsrate und andere wirtschaftliche Probleme, die sich in Israel, wie in der gesamten westlichen Welt, durch die Ukraine-Krise gewaltig zugespitzt haben, ein Thema. Aber gepunktet hat Netanjahu auch bei seiner angeblich bürgerlichen Klientel mit Hass-Exzessen gegen Araber, „die Linken“ und mit der Verleumdung aller, die ihm auf dem Weg zu einem neuen Zenith seiner Macht irgendwie hinderlich sein könnten.

Besonders bitter ist die Lage für die Palästinenser. Nach vielen Jahren Paralyse und Resignation – nicht zuletzt wegen der aggressiven Siedlungspolitik und Festigung von Apartheidstrukturen in den besetzten Gebieten sowie ihrer wachsenden Diskriminierung und Entrechtung im Kernland Israels – hatte die Mehrheit der arabischen Bevölkerung zwar die große Gefahr erkannt. Und laut letzten Umfragen vom vergangenen Donnerstag gaben rund 70 Prozent der 1,7 Millionen arabischstämmigen Israelis an, sich an der Knesset-Wahl beteiligen zu wollen. Aber es zieht sich ein tiefer Riss durch die Landschaft der Parteien, die ihre Interessen vertreten: Raam, die sich mit dem rechtszionistischen Establishment in der israelischen Politik arrangieren will, eine Zwei-Staaten-Lösung anstrebt und 2021 als erste arabische Partei überhaupt an einem Regierungsbündnis beteiligt war, hat sich von einer gemeinsamen linksgerichteten Liste abgespalten, ebenso die Balad-Partei, die grundsätzlich jede Zusammenarbeit mit Zionisten ablehnt. Balad ist nun nicht mehr in der Knesset vertreten.

Maskerade der Demokratie

Die Pessimisten unter den Politikanalysten und -kommentatoren meinen nun, eine neue Rechtsregierung mit hohem Anteil von Kahanisten und anderen Ultras – die zustande kommen wird, falls es Netanjahu nicht gelingen sollte, konservativ-bürgerliche Parteien, die gegen ihn angetreten sind, in seine Koalition zu ziehen – könnte das Ende der bürgerlichen Demokratie in Israel einläuten. „Der Kahanismus hat gewonnen. Israel nähert sich jetzt einer rechten, religiösen, autoritären Revolution“, war heute Morgen im Haaretz-Editorial zu lesen.2

Gideon Levy, der international bekannteste kritische Journalist Israels, meint, dass diese Wahl ohnehin nur „eine Maskerade der Demokratie“ sei. „Wenn Sie heute in die Westbank gehen, sehen Sie zwei Dörfer nebeneinander: hier eine [jüdische] Siedlung, dort ein palästinensisches Dorf, beide unter israelischer Herrschaft. Die Siedlung darf an den Wahlen teilnehmen, das palästinensische Dorf nicht“, erklärte er der Berliner Zeitung in einem Interview.3

Ähnlich denkt Moshe Zuckermann, ein renommierter Vertreter der israelischen Linken: „Das, was als ,liberale Demokratie‘ zu gelten hat, ist in Israel schon lange tot“, sagte er im Gespräch mit Hintergrund. Der Historiker hat seit jeher darauf hingewiesen, dass die Ethnokratie, die in Israel seit der Staatsgründung 1948 herrscht und strukturell eine Gleichberechtigung der arabischen Minderheit gegenüber der jüdischen Mehrheit ausschließt, keine echte Demokratie sein kann.

Für Moshé Machover – Urgestein der israelischen radikalen Linken und ein ehemaliger Kopf der Sozialistischen Organisation in Israel (die nicht mehr existiert und im Alternative Information Center und anderen linken Parteien wie Balad aufgegangen war) – ist es eine Tatsache, dass es eine bürgerliche Demokratie in Israel „nie gegeben“ hat. Der Publizist, der das Land vor vielen Jahren verlassen hat und heute in London lebt, geht davon aus, dass nun der schon lange währende Prozess „der immer aggressiveren und gewalttätigeren zionistischen Kolonisierung verschärft und ausgeweitet wird. „Die fanatisch rassistischen Führer“ der kahanistischen und nationalreligiösen Parteien von Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, der bereits 2017 einen „Unterwerfungsplan“ präsentierte, der „jegliche nationale Hoffnung der Palästinenser auslöschen“ sollte, werden attraktive Ministerposten erhalten. Im Gegenzug werden sie Gesetze unterstützen, die den Obersten Gerichtshof entmachten und Netanjahu Immunität gegen die Vorwürfe der Bestechung und Untreue im Amt verschaffen, lautet Machovers düstere Prognose, die er auf Anfrage von Hintergrund gestellt hat.

Zum Wesen des Unwesens

Fest steht, dass die extreme Rechte alles daran setzen wird, die ihr von den israelischen Wählern eröffneten Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Smotrich will eine Theokratie in dem Judenstaat errichten. Ben-Gvir will die Deportation der Palästinenser aus Israel und ihren Transfer in andere arabische Länder durchsetzen. „Aber noch ist es nicht soweit“, glaubt Moshe Zuckermann. „Bevor das geschieht, bricht wahrscheinlich eher ein Bürgerkrieg aus.“ In jeden Fall aber stehen die Zeichen günstig für die Religiösen – die bei der Wahl gestern etwa 35 Sitze in der Knesset erreicht haben dürften –; das allein schon wegen einer bedeutenden demografischen Entwicklung: Sowohl die orthodoxen als auch die nationalreligiösen Kräfte werden ihren Einfluss in der israelischen Gesellschaft aller Voraussicht nach allein deshalb perspektivisch noch ausbauen können, erwartet Zuckermann, weil ihnen ihr enormer und stetig wachsender Kinderreichtum viele neue Wähler bescheren wird.

Nicht erst jetzt betrachtet Zuckermann die „Faschisierung der israelischen Gesellschaft“, vor der er seit langer Zeit eindringlich warnt, als die größte „Katastrophe“. Zu deren Beschleunigung habe die „zusätzliche Tragödie“ der Spaltung des arabischen Lagers durch die Richtungskämpfe beigetragen. „Man kann den Palästinensern keinen Vorwurf machen – ihre Enttäuschung und Abscheu von der israelischen Politik der Juden ist nachvollziehbar“, findet Zuckermann. „Aber sie haben sich selbst ins Knie geschossen: Mit der Überwindung der 3,25-Hürde hätte die Balad-Partei Netanjahus Comeback vielleicht verhindern können.“

Das „erschreckende Ergebnis“ sei vorprogrammiert gewesen, schrieb gestern Nacht der Haaretz-Journalist Zvi Bar’el. Es sei letztlich ein Kulminationspunkt eines „dramatischen Wandels“, der rund eineinhalb Jahrzehnte in vollem Gang sei – „ein Produkt der langen und undurchsichtigen Amtsführung Netanjahus, die von Täuschung, Korruption, Aufwiegelung und Rassismus geprägt war und in der es nur eine Freiheit gab, nämlich die Freiheit der Siedler, Gewalt auszuüben.“4 Moshe Zuckermann verweist ebenso auf eine lange und tiefgreifende Genese des Unheils und betont, dass das Wahlergebnis und der damit verbundene verheerende Rechtsruck besonders für die linken Israelis alles andere als eine Überraschung sei. Durch die 25. Knesset-Wahl sei zwar eine neue Quantität, aber keine neue Qualität erreicht. „Am Wesen des Unwesens hat sich nichts Wesentliches verändert.“

Quellen:

1 www.hintergrund.de/politik/meister-der-aggressiven-demagogie/

2 www.haaretz.com/israel-news/elections/2022-11-01/ty-article-opinion/.premium/as-kahanists-celebrate-israeli-liberals-doom-and-gloom-is-justified/00000184-2fa0-dee6-afac-aff33a850000?fbclid=IwAR3-CkQJPvAGLpTIe-tNio6BjV40LFZssdZ9ZmSi6Lv-EvOvWXBrnOEbpVU

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3 www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/haaretz-kolumnist-levy-die-wahl-in-israel-ist-eine-maskerade-der-demokratie-li.282414

4 www.haaretz.com/israel-news/elections/2022-11-01/ty-article-opinion/.premium/as-kahanists-celebrate-israeli-liberals-doom-and-gloom-is-justified/00000184-2fa0-dee6-afac-aff33a850000?fbclid=IwAR3-CkQJPvAGLpTIe-tNio6BjV40LFZssdZ9ZmSi6Lv-EvOvWXBrnOEbpVU

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