Die Doppelzüngigkeit des Außenministers: Das Thema Syrien steht oben auf Westerwelles Reiseagenda
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Von REDAKTION, 5. Juni 2012 –
Die Intensität der Gefechte zwischen den Regierungstruppen und den Rebellen in Syrien nimmt zu. Außenminister Guido Westerwelle setzt angeblich trotzdem weiterhin auf eine politische Lösung. Die internationale Gemeinschaft müsse sich darum bemühen, dem Friedensplan von Sondervermittler Kofi Annan „mehr Nachdruck“ zu verleihen, sagte Westerwelle heute in Doha, der Hauptstadt des Golf-Staates Katar. Ein Plan, den US-Vertreter bereits vor seinem wirklichen Einsetzen als gescheitert verurteilt hatten.
„Mein Eindruck ist, dass alle ein Interesse daran haben, dass der Plan von Kofi Annan eine Chance bekommt“, sagte Westerwelle. Zugleich räumte er ein: „Bislang kann man nicht feststellen, dass die Gewalt ausreichend eingestellt worden ist.“
Die Aussage des Außenministers lässt sich nur als Heuchelei beschreiben. Denn Guido Westerwelle weiß genau, dass die „Freie Syrische Armee“ (FSA) sich von Anbeginn dem Friedensplan widersetzte und eine Eskalationstaktik betreibt. So ist die Zahl der Getöteten seit Beginn der offiziellen Waffenruhe in die Höhe geschnellt: 2100 Menschen wurden seitdem getötet.
Gestern verkündete die FSA, sich auch offiziell nicht an den UN-Friedensplan gebunden zu fühlen. Bereits am vergangenen Samstag wurden laut Angaben des in London ansässigen Syrischen Observatoriums für Menschenrechte über 50 Soldaten getötet. Die Nachrichtenagentur AFP zitierte einen Sprecher des dubiosen Observatoriums, das in der Vergangenheit durch seine einseitige Parteinahme gegen das Assad-Regime aufgefallen ist und schon manche Falschmeldung lancierte, mit den Worten, die Zahl „beinhaltet nicht die bewaffneten Gruppen der Schabiha (Pro-Regime Miliz), von denen Tausende seit Beginn des Konfliktes getötet wurden“. (1)
Auffällig ist der – auch von der Opposition eingestandene – hohe Anteil von Angehörigen der Sicherheitskräfte an den Opferzahlen. Je nach Quellenlage kommen auf einen getöteten Soldaten oder Polizisten zwei bis vier tote Zivilisten. Wobei zu den Zivilisten sowohl getötete Anhänger der Assad-Regierung zählen als auch bewaffnete Kämpfer der Opposition. Daraus lässt sich schließen, dass der Eindruck trügt, hier würde ein Regime Krieg gegen sein Volk und dessen friedliche Opposition führen.
Das von Westerwelle allseits unterstellte Interesse an dem Friedensplan erscheint vor dem Hintergrund der nun offiziell erklärten einseitigen Aufkündigung des Friedensplans besonders grotesk.
Gestern erklärte zudem eine neu gegründete und angeblich 16000 Kämpfer umfassende „Front Islamischer Brigaden“, den bewaffneten Kampf bis zum Regime-Sturz fortzuführen. Nur Stunden später trat die in Istanbul als Zusammenschluss bewaffneter Widerstandsbrigaden mit islamischem Hintergrund gegründete Front unter einem neuen, für westliche Ohren weniger negativ konnotierten Namen auf, nämlich als „Front der Syrischen Revolutionäre“. Die Front, die letzten Meldungen zufolge die Anzahl ihrer Kämpfer auf 12000 reduzierte, „kooperiere“ laut Angaben eines Sprechers in Istanbul mit der FSA. (2)
Das türkische Istanbul ist demnächst auch Westerwelles Reiseziel. Dort will er ausgerechnet eine Anti-Terror-Konferenz besuchen. Die von Kritikern vermutete Unterstützung der Türkei für terroristische Aktivitäten in Syrien wird dabei sicherlich nicht zur Sprache kommen. Gegenwärtig tourt Westerwelle durch die Golfstaaten – dieVereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Katar. Die Golfstaaten sind laut einem Bericht der New York Times neben Saudi-Arabien Hauptfinanziers der FSA und der ihr angeschlossenen Gruppen, zu denen bekanntermaßen auch islamistische „Brigaden“ gehören, die für zahlreiche Gräueltaten verantwortlich sind.
Anfang April erklärten die drei Golfstaaten, den Kämpfern der FSA 100 Millionen US-Dollar alleine für die kommenden drei Monate zukommen zu lassen. (3)
Auch die Vereinigten Staaten wollten nicht hinten anstehen, als es darum ging, die „Menschenrechte“ der Syrer gewaltsam von Personen und Gruppen durchsetzen zu lassen, deren Praxis man ansonsten als terroristisch bezeichnen würde. Anfang April erklärten die USA, die FSA mit Logistik in Höhe von 12 Millionen US-Dollar zu unterstützen. Darunter satellitengestützte Kommunikationsausrüstung, mit deren Hilfe sich die Rebellen besser bei ihren Aktionen koordinieren sollen. (4)
Allen voran die in der Provinz Homs agierende und der FSA angehörende al-Farouk-Brigade. Auf ihrer Facebook-Seite bedankte sie sich Ende März für den Erhalt von 100.000 US-Dollar. (5) Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Golfstaaten die islamistische Opposition ebenfalls mit Waffen versorgen. Wie vor Tagen bekannt wurde, beratschlagen auch Vertreter der EU, die syrische Opposition mit Waffen zu unterstützen. In einem Paradebeispiel blanken Zynismus warnen sie gleichzeitig sorgenvoll vor einen Bürgerkrieg. (6)
Folter an Gefangenen und deren anschließende Hinrichtung nach einem „Geständnis“ gehört zum Alltagsgeschäft der Brigade. Gegenüber dem Spiegel äußerte sich Ende März Abu Rami, hochrangiges Mitglied, zur Henker-Praxis seiner Organisation: „Seit vorigem Sommer haben wir nicht ganz 150 Mann hingerichtet, das sind etwa 20 Prozent unserer Gefangenen.“ (7)
„Mehr Arbeit als die Kriegsgefangenen machten den Scharfrichtern von Homs jedoch die Rebellen aus den eigenen Reihen“, schreibt der Spiegel und zitiert Rami: „Wenn wir einen Sunniten beim Spionieren erwischen oder wenn ein Bürger die Revolution verrät, machen wir kurzen Prozess.“ 200 bis 250 „Verräter“ habe die „Begräbnis-Brigade“ – die für die Hinrichtung zuständige Abteilung der Rebellen-Gruppe – seit Beginn des Aufstandes exekutiert.
Der Terror richtet sich nicht nur gegen Angehörige der Sicherheitskräfte und den der Regime-Anhängerschaft bezichtigten Zivilisten, auch gegen Angehörige religiöser Minderheiten, wie Christen und Alawiten, gehen die Gotteskrieger gewaltsam vor.
Wie Asia News bereits Anfang Februar berichtete, seien in der Provinz Homs bereits mehr als 230 Christen getötet worden.
„Der Konflikt, der mit populären Forderungen nach Demokratie und Freiheit begann, verwandelte sich in eine islamische Revolution“ wird eine Angehörige des syrischen Klosters von Saint Jacques le Mutilé zitiert. (8) Ein Einwohner von Homs berichtete, wie zwei junge Familieväter ermordet wurden, weil sie sich nicht an einen von den Rebellen verhängten Boykott hielten. Weil sie in einer Bäckerei Brot kauften, seien sie erschossen wurden. Auch andere seien von den Rebellen nur aus dem Grund ermordet worden, weil sie ihrer Arbeit nachgingen. (9)
Auch von anderen Städten ist bekannt, dass Rebellen mit Gewalt und Todesdrohungen Gefolgschaft erzwingen wollen, wie vergangene Woche in Damaskus, als sie Ladenbesitzer aufforderten, sich an einem Streik zu beteiligen.
Ende März berichtete die Christian Post, dass bereits 90 Prozent der Christen aus Homs vertrieben worden seien. Die syrische Orthodoxe Kirche, die über die Hälfte der im Land lebenden Christen repräsentiert, spricht von einer „andauernden ethnischen Säuberung“, die vor allem von der al-Farouk-Brigade betrieben werde. (10)
Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warf bereits vor Monaten den bewaffneten Kämpfern der Opposition schwere Menschenrechtsverletzungen vor. Darunter Entführungen und Hinrichtungen von Angehörigen der Sicherheitskräfte, aber auch von Zivilisten. (11)
Die al-Farouk-Brigade ist womöglich auch verantwortlich für das Massaker in al-Hula in der Provinz Homs, das der Westen entgegen der Beweislage der syrischen Regierung anlastet, und bei dem über 100 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, ermordet wurden. (12) Laut Augenzeugen sei das Blutbad nicht das Werk von Regimekräften gewesen. (13)
Es handelte sich augenscheinlich um eine gezielte Massenhinrichtung: Die Mehrzahl der Ermordeten, vor allem unter den Frauen und Kindern, waren Angehörige der Großfamilie Abdel-Razzaq, die als Anhänger des Präsidenten Assad gilt.(14) Zur Zielscheibe der Mörder wurden laut offiziellen syrischen Angaben auch Angehörige des Parlamentsabgeordneten Abdul-Moa’ti Mashlab. (15)
Auf einer Islamisten-Website tauchte unterdessen eine Erklärung im Namen der „Front der Siegreichen“ („Dschabhat al-Nusra“) auf. Darin hieß es, die Gruppe habe am 29. Mai in der Provinz Deir as-Saur 13 Angehörige der Sicherheitskräfte und der Schabiha-Miliz „hingerichtet“. Diese Front der Siegreichen verbreitet ihre Erklärungen in denselben Foren, die auch Botschaften von „al-Qaeda“ und anderen Terrororganisationen veröffentlichen.
Während in Deutschland eine Debatte um die Gefahr geführt wird, die von radikalen Islamisten (Salafisten) ausgehe, werden diese in Syrien – wie zuvor schon in Libyen – mit Geldern, Waffen, Kommunikationsmitteln und Ausbildung unterstützt und deren Verbrechen von der Politik geflissentlich übergangen. Gleichzeitig haben Vertreter des Westens von Anbeginn jene Kräfte der syrischen Opposition auf dem internationalen politischen Parkett marginalisiert, die auf eine friedliche Lösung des Konfliktes drängen und sich jegliche ausländische Intervention verbieten. Von Russland und China in den US-Sicherheitsrat eingebrachte Resolutionen, die die Verurteilung und Eindämmung der Gewalt beider Seiten vorsahen, wurden stets vom Westen abgeschmettert – und gleichzeitig mittels einer willfährigen Presse Russland öffentlich als das Land denunziert, das angeblich durch seine sture Haltung ein Ende der Gewalt unmöglich mache.
Bei Westerwelles Rundreise durch Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate dürfte es in erster Linie darum gehen, die Destabilisierung Syriens weiter voranzutreiben und die militärische Vorgehensweise – ob weiter im Rahmen einer verdeckten oder zukünftig im Rahmen einer offenen Kriegsführung – zu koordinieren. Gleichzeitig warnt der deutsche Außenminister vor einem „Flächenbrand“ – und gießt dabei eifrig Benzin ins lodernde Feuer.
Anmerkungen
(4) http://www.cbsnews.com/8301-505263_162-57407943/u.s-arab-nations-boost-help-for-syria-rebels/
(5) http://www.facebook.com/hatita.revolution/posts/329142103811897
(6) http://www.tagesschau.de/ausland/syrien1574.html
(9) ebd.
(10) http://www.christianpost.com/news/islamists-nearly-wipe-out-christians-in-syrian-city-72025/
(11) http://articles.latimes.com/2012/mar/20/world/la-fg-syria-rights-report-20120321
(12) Siehe dazu: http://www.hintergrund.de/201205302080/politik/welt/syrien-wer-traegt-die-verantwortung-fuer-das-massaker-von-hula.html
(13) http://www.syrianews.cc/syria-what-really-happened-in-al-hula-homs-689.html
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(14) Eine Liste der Opfer findet sich hier: http://translate.google.com/translate?hl=en&ie=UTF8&prev=_t&sl=auto&tl=en&u=http://webcache.googleusercontent.com/search%3Fq%3Dcache:mv_1cLdZxNQJ:http://www.dchrs.org/File/Al-Houleh_Massacre_Ar.xlsx
(15) http://sana.sy/eng/21/2012/05/31/422804.htm