Der Tod lauert im Küchenschrank
Der Ostteil der irakischen Großstadt Mossul ist nach der Großoffensive der Anti-IS-Koalition befreit. Doch die Gefahr für Soldaten und zurückkehrende Bewohner ist längst nicht gebannt: Tausende Sprengfallen und Minen sind in der Stadt versteckt. Räumkommandos gehen einer lebensgefährlichen Aufgabe nach.
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Mossul. Ein Kämpfer der kurdischen Peschmerga transportiert eine Sprengfalle wie mit Samthandschuhen vorsichtig aus einem Haus im Osten der Stadt. Mit konzentriertem Blick hockt er über der Konstruktion wie über einem Modellbauset. Der Spezialist für Minen- und Sprengfallenentschärfung versucht mit einfachen Mitteln, seine gefährliche Arbeit zu erledigen: eine simple, kleine Kneifzange, etwas Isolierband und ein Feuerzeug. Zwei Soldaten stehen leicht versetzt neben ihm, die Anspannung ist bei allen Beteiligten zu spüren. Ein falscher Handgriff und die Männer werden schwer verletzt – oder sogar in den Tod gerissen. Endlich ist es geschafft, die Sprengvorrichtung ist entschärft. Die wenigen Minuten, die die Operation gedauert hat, sind wie in Zeitlupe vergangen.
Die irakische Armee hat den Ostens Mossuls mit ihren Verbündeten schon befreit – aber die Arbeit ist noch lange nicht erledigt. Häuser müssen wieder aufgebaut, Stromleitungen erneuert, Wasserrohre repariert werden. Bevor all das beginnen kann, sind die Räumkommandos gefragt. Der sogenannte Islamische Staat hat Tausende Sprengfallen und Minen versteckt. Selbst das Öffnen eines Küchenschranks kann tödliche Konsequenzen haben.
Mehr Tote durch Sprengfallen als durch Kämpfe
Während die Spezialisten in den befreiten Teilen der Stadt ihr Handwerk verrichten, bereiten sich die Armee und ihre Verbündeten auf den Angriff auf die verbliebenen IS-Stellungen im Westen Mossuls und auf die Überquerung des Tigris vor. Auf Ihrem Weg stoßen sie immer wieder auf Massengräber. Wie jenes im Vorort Hamam Ali, in dem der IS zweihundert Zivilisten ermordet haben soll.
Mehrere verlustreiche Wochen in einem harten Abnutzungskampf liegen hinter den Männern. Mit genauen Zahlen über die getöteten irakischen Soldaten hält sich das Verteidigungsministerium in Bagdad zurück, jedoch schätzt man die Verluste auf Seiten der Anti-IS-Koalition auf 2500 bis 3000 Gefallene. Laut Aussage des Peschmerga-Kommandeurs Bahrin Jasin fügen Sprengfallen und Minen den Koalitionären die größten Verluste zu. „Es sterben mehr Kämpfer durch diese heimtückischen Minen als im direkten Gefecht“, stellt der junge Kommandeur mit gesenktem Blick und resigniertem Ton fest.
Gleich zu Beginn der Operation hat er einen seiner besten Männer verloren. Sein Name: Dr. Said Kürükaya. Der Kurde wurde in der Osttürkei geboren und lebte seit vielen Jahren in Hamburg als Wäscherei-Unternehmer. Nach dem Aufstieg des „Islamischen Staates“ wollte er seine kurdischen Landsleute unterstützen. Mehrfach im Jahr hielt er sich im Irak auf.
Es war ein Tag wie jeder andere im vergangenen November, als der Entschärfungs-Spezialist Kürükaya und seine Einheit nach Baschika, einem Vorort von Mossul, aufbrachen. Die Kämpfer erzählen, Kürükaya habe allein in Mossul und Umgebung Dutzende Minen und Sprengfallen entschärft. Doch von seinem letzten Einsatz kehrt er nicht zurück: Ein Handgriff, den er schon unzählige Male ausgeführt hat, kostet ihm das Leben.
Zunächst wird der Schwerverletzte noch nach Erbil gebracht, anschließend fliegt ihn die Bundeswehr in ein Militärkrankenhaus bei Koblenz. Dort erliegt er einige Tage später seinen Verletzungen.
Kürükaya wird für seine Erfahrung und seinen Mut von vielen Menschen bewundert, erfährt man aus Gesprächen. Nicht nur im Nordirak. Er gilt als Märtyrer, als Sahid, wie die Kurden sagen. Wenige Tage nach seinem Tod wehen über den Militärstützpunkten in Frontnähe Fahnen mit seinem Konterfei. Peschmerga-Kämpfer tragen Schals mit den kurdischen nationalfarben Grün, Rot und Gelb, die das Gesicht des Verstorbenen zeigen.
Dass seine Arbeit nicht in Vergessenheit gerät, daran glaubt auch sein Bruder, Selim Kürükaya. Wir fahren mit ihm und einem Kamerateam des kurdischen Fernsehsenders Rudaw von der alten Basis seines Bruders an dessen letzten Einsatzort. Dort ergibt sich ein Bild der kompletten Zerstörung. Selim Kürükaya betont, wie wichtig die Arbeit seines Bruders im Kampf gegen den IS gewesen sei. Und er sagt: „Die Peschmerga brauchen insbesondere bei der schwierigen Minenentschärfung mehr Unterstützung des Westens.“
Apokalyptische Szenen
Nicht allein Minen und Sprengfallen bereiten den Zurückkehrenden Sorgen. Schulen sind geschlossen, öffentliche Einrichtungen und die Infrastruktur zerstört oder beschädigt, die medizinische Versorgung wird nur unzureichend gewährleistet. „Meine Tochter wird bald sterben. Niemand hilft uns, die irakische Armee hilft uns nicht und die Kurden halten uns für Terroristen“, berichtet der sunnitische Araber Mohamed in Qayyarah, einem Vorort von Mossul. Die einzige medizinische Versorgung stellen die Militärlazarette dar. Diese sind jedoch häufig schlecht ausgestattet, notleidende Zivilisten werden oft abgewiesen. Es kommt immer wieder vor, dass Patienten ihren Verletzungen auf dem Weg in ein anderes Lazarett erliegen.
Während Mohamed weinend von seiner Tochter erzählt, nähert sich ein weiterer junger Mann. Er möchte seinen Namen nicht nennen, da er mehrere Jahre für die US-Army im Irak als Übersetzter tätig war und Verfolgung befürchtet. Er will am liebsten in den USA in seinem erlernten Beruf des Elektroingenieurs arbeiten. Doch dass dieser Traum in Erfüllung geht, daran kann auch er nur schwer glauben.
Plötzlich verdunkelt sich der Himmel über uns.
Es sind die Wolken der brennenden Ölquellen von Qayyarah. Deren beißender Gestank kriecht in die Ritzen der Häuser hinein oder er zieht direkt durch die zerbrochenen Glasscheiben. Früher oder später landet er in den Atemwegen. Nach wenigen Minuten leiden die Betroffenen unter starken Kopfschmerzen und Übelkeit. Zwar gelang es einem dutzend Feuerleute einige Brände zu löschen, doch es lodern immer noch zu viele. Ein Ende ist nicht absehbar.
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Mit einem alten Löschfahrzeug und Bulldozern, die mit Stahlplatten verstärkt wurden, stellen sich die Feuerwehrleute dem brennen Inferno entgegen. Es sind apokalyptische Szenen. Neben Ihrem Fuhrpark ist auch die persönliche Schutzausrüstung sehr beschränkt. Nur die wenigsten verfügen über Sauerstoffmasken. Wie gehen die Löscharbeiten voran? „Selbst wenn die großen Brände gelöscht sind, unter der Oberfläche lodern schon neue Flammen“, sagt ein Feuerwehrmann. Ein Bild, das sich auf die gesamte Region übertragen ließe. Der „Islamische Staat“ befindet sich in der Verteidigung, aber seine Ideologie brennt weiter.
(Fotos: Sylvio Hoffmann/ Text: Thomas Fritz)