Der Terrorstaat
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In der Türkei flammt der Kampf zwischen der Regierung und der kurdischen Befreiungsbewegung wieder auf. Der Staat bedient sich dabei islamistischer und faschistischer Mörderbanden –
Von HANS BERGER, 15. Oktober 2014 –
Zum ersten Mal seit beinahe zwei Jahren haben türkische Kampfflugzeuge vorgestern Stellungen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bombardiert. „Der Waffenstillstand wurde durch Angriffe auf zwei Guerilla-Basen in Oramar und in der Gegend von Gever in der Provinz Hakkari veerletzt“, bestätigten Kommandeure der PKK. Am frühen Nachmittag des 13. Oktober sei zudem Artilleriebeschuss auf Stellungen der Guerilla zu verzeichnen gewesen, diese habe mit Mörsergranaten geantwortet.
Der Bruch des Waffenstillstands durch die Türkei kommt in einer ohnehin für den sogenannten „Friedensprozess“ kritischen Phase. Dieser war bereits seit langem auf der Kippe, da die Regierung in Ankara im Unterschied zur kurdischen Seite kaum eine ihrer festgelegten Verpflichtungen erfüllt hatte. Vor allem aber seit Beginn der Schlacht um die syrisch-türkische Grenzstadt Kobane, in der Einheiten der mit der PKK verbündeten kurdischen Volksverteidigungskräfte YPG gegen Milizen des Islamischen Staates kämpfen, sieht es so aus, als könnte auch der Krieg zwischen der kurdischen Befreiungsbewegung in der Türkei und der Regierung der neoliberal-islamistischen AKP wieder aufflammen.
Hizbullah und Graue Wölfe
Den Grund für die Massendemonstrationen von Kurden und türkischen Linken, die in den vergangenen Tagen die Türkei erschütterten, war die undurchsichtige Strategie, die die türkische Regierung in Syrien verfolgt. Offenkundigt unterstützte man aus Ankara lange Zeit dschihadistische Kräfte massiv in ihrem Kampf gegen die syrische Regierung in Damaskus und die kurdische Autonomie im Norden des Landes (Rojava). Auch als sich in Kobane bereits abzuzeichnen begann, dass ein Massaker droht, wenn der Islamische Staat die Stadt einnimmt, blieb die türkische Regierung bei ihrem Kurs, die kurdischen Kräfte in Syrien zu schwächen.
Als nun die Proteste in der Türkei an Größe und Militanz zunahmen, griff man auf ein Mittel zurück, das vielen in Erinnerung ist aus jenen Zeiten, in denen man sich parastaatlicher Mörderbanden bediente, um die revolutionäre Bewegung in der Türkei zu bekämpfen. Marodierende Gruppen bewaffneter Islamisten und Faschisten zogen durch die Straßen und machten Jagd auf politisch aktive Kurden und Linke. Fotos zeigen die mit Messern, Schwertern, Knüppel und Gewehren bewaffneten Banden, die von der Polizei nicht behelligt werden. Im Gegenteil – die Angriffe erfolgen oft koordiniert und gemeinsam.
Organisatorisch sind es vor allem zwei Gruppierungen, die sich – neben den Anhängern der Regierungspartei AKP – im Kampf gegen die kurdische Bewegung als verlängerter Arm der türkischen Regierungspolitik andienen: Die türkische Hizbullah (die nichts mit der namensgleichen Organisation im Libanon zu tun hat) und die faschistischen Grauen Wölfe.
Während letztere ultranationalistische Kräfte aus dem Umfeld der zweitgrößten Oppositionspartei MHP umfassen, die vor allem aus Hass gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK handeln, ist die Hizbullah ein Relikt aus den 1990er-Jahren, als der Staat mittels der Todesschwadrone JITEM versuchte, die kurdische Bewegung durch gezielte Mordanschläge zu schwächen. Tausende Menschen fielen diesem Terror zum Opfer.
Täter „unbekannt“
Nachdem Anfang der 2000er Jahre die Hizbullah zu stark geworden war, sah auch sie sich juristischer Repression – wenn auch nur halbherziger – ausgesetzt, einige ihrer Mitglieder und Führer wurden verhaftet. Dennoch wurde sie nicht ganz zerschlagen, organisatorisch überlebte sie unter anderem in Gestalt der Partei HÜDA-PAR, die sunnitisch-islamischen Fundamentalismus mit Linkenhass kombiniert.
Nun wird sie wieder aktiv. „Als die Proteste in der Türkei und Nordkurdistan gegen die Haltung des türkischen Staates begannen, fing auch die Hizbullah in der Türkei an systematisch gegen die Demonstranten vorzugehen, auf sie zu schießen, Parteibüros anzuzünden und gemeinsam mit der Polizei zu agieren“, schreibt der Historiker Michael Knapp auf der kurdischen Nachrichtenplattform Civaka Azad.
Weit über 40 Menschen sind bislang bei den Auseinandersetzungen der vergangenen zwei Wochen gestorben. Viele der Morde tragen die aus den 90er-Jahren bekannte Handschrift. Damals ließ die mit dem NATO-Netzwerk Gladio verbundene informelle Geheimdienststruktur JITEM massenhaft kurdische Aktivistinnen und Aktivisten „verschwinden“. Fälle wie der des vorgestern ermordeten kurdischen Zeitungsverteilers Kadri Bağdu erinnern an diese Praxis. Dieser wurde in Adana von hinten in den Nacken geschossen, die Täter blieben unerkannt. Ähnlich ist auch der Fall von Musa Bayram in Antep, der nach der Teilnahme an einer Demonstration für Kobane mit einer AK 47 tödlich verwundet wurde. Auch hier sind die Täter „unbekannt“, kurdische Quellen sprechen von „türkischer Polizei und faschistischen rassistischen Gruppen“.
Gewalt gegen „Ungläubige“
Nach Jahren der schleichenden Islamisierung und des Bruchs mit den vormals ein Mindestmaß an Säkularismus garantierenden Traditionen der Türkei durch die seit zwölf Jahren regierende AKP ist in der Türkei ein Klima entstanden, das durchaus den Nährboden für islamistische Banden bildet. Recep Tayyip Erdogan, auch nach der Übergabe des Amtes des Ministerpräsidenten an seinen Parteifreund Ahmet Davutoglu der unangefochtene Führer seiner Partei, setzte stets auf die Mobilisierung religiöser Ressentiments zur Stabilisierung seiner Macht.
Diese politische Instrumentalisierung des Islam bringt bei verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen die Bereitschaft hervor, Gewalt gegen vermeintliche „Ungläubige“ auszuüben. Dabei muss es sich nicht um offene Sympathisanten des Islamischen Staates handeln. Weder HÜDA-PAR, noch die „Grauen Wölfe“ können einfach unter die Kategorie IS-Unterstützer subsumiert werden. Vielmehr ist ihr gemeinsamer Nenner der Hass auf die kurdische Befreiungsbewegung und die türkische Linke, den Erdogan und seine AKP für ihre Zwecke nutzen. Sowohl die kurdische Linke wie die kurdische Befreiungsbewegung werden von der AKP regelmäßig als vom Ausland gesteuerte dunkle Kräfte dargestellt, die einer starken, auf einem islamischen Fundament gebauten Türkei schaden wollen. Diese Propaganda kommt, angesichts der Stimmung in einigen Sektoren der Gesellschaft, einem Aufruf zum Mord gleich.
IS-Supporter in der Türkei
Zwar kleiner als die marodierenden Banden von Hizbullah, Grauen Wölfen und AKP-Anhängern, aber doch auch vorhanden, sind offene Unterstützer der Dschihadistenmiliz Islamischer Staats. Eine Umfrage der türkischen Metropoll vom 24. September 2014 wies insgesamt 1,3 Prozent der Befragten als Unterstützer des IS aus, unter den Wählern der Regierungspartei lag der Wert fast doppelt so hoch, bei 2,2 Prozent. Weniger als die Hälfte der AKP-Wähler sehen der Umfrage zufolge im Islamischen Staat „eine Gefahr für die Türkei“. Auf die Frage, ob sie glauben, dass der Islamische Staat „innerhalb der Türkei organisiert ist“, antworteten 52 Prozent mit Ja.
Der Umstand, dass die Umfrage nur 1,3 Prozent der Befragten als direkte Sympathisanten des Islamischen Staates ausweist, lässt keineswegs den Schluss zu, dass hier keine Gefahr bestünde. Zum einen sind 1,3 Prozent von 75 Millionen nicht wenig, zum anderen zeigen die Zahlen der an der Seite des Islamischen Staats kämpfenden Militanten, dass der IS in der Türkei erfolgreich – und durch staatliche Repression ungehindert – rekrutiert. Die Türkei gilt als „Drehkreuz“ des internationalen Dschihad und als wichtigstes Transitland für junge radikalisierte Männer und Frauen, die nach Syrien oder in den Irak reisen wollen. Angeworben werde mittlerweile schon in Cafés und auf Marktplätzen, zitiert die Welt einen namentlich nicht genannten Experten. (3)
Auch innerhalb der Türkei führen die Sympathisanten des neuen Kalifats mittlerweile öffentliche Aktionen durch. So verschafften sich in Istanbul mit Baseballschlägern bewaffnet Zugang zu einer Universität, griffen Studenten an und forderten die Entfernung eines Plakats, das die Gräueltaten des IS verurteilte. Gefunden wurden zudem kürzlich von der türkischen Polizei 150 Kilogramm des Sprengstoffs C4, genug um ‘eine Stadt in die Luft zu sprengen’, wie die Behörden anmerkten. (4) Nachdem man in einem absurden Reflex zu Beginn die kurdische Arbeiterpartei PKK verdächtigte, vermuten nun sogar türkische Behörden den IS hinter dem Transport.
Gefährliche Mischung
Die zunehmende Verankerung unterschiedlicher islamistischer Strömungen im politischen Leben der Türkei, von einem angeblich „moderaten“ Islamisierungskurs der AKP bis hin zu Dschihadisten wie Hizbullah und IS, schafft ein gefährliches Klima in einem der mächtigsten Staaten der Region.
Für politisch dissidente Strömungen wie die Linke und die kurdische Bewegung, aber auch für religiöse Minderheiten wie die Aleviten könnte sich dadurch die Situation erneut verschlechtern. In Istanbul, so berichtete der CHP-Abgeordnete Hüseyin Aygün wurden im Stadtteil Sarigazi Häuser von alevitischen Familien mit einem X markiert, Schriftzüge wie „Tod den Aleviten“ gemalt.
Anmerkungen
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