Türkei

Der gelungene Coup

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Nach dem gescheiterten Putsch einiger hochrangiger Militärs in der Türkei vollendet der autoritäre Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan seinen eigenen Staatsstreich.

Der Versuch, die AKP-Regierung in Ankara mit militärischen Mitteln zu stürzen, der am vergangenen Freitag um 21.30 Uhr Ortszeit begonnen hatte, dauerte in etwa 4 Stunden, bevor absehbar war, dass er scheitern würde. Er ging so kläglich zu Ende, dass seitdem darüber spekuliert wird, ob die Putschisten wahlweise verraten oder sogar staatlich angeleitet wurden.

Überhaupt nicht erfolglos verläuft dagegen ein Staatsstreich, der seit vielen Jahren – hervorragend geplant und mit Augenmaß umgesetzt – in der Türkei vor sich geht. Das Ziel dieses Coups formulierte der zunächst als Premier, dann als Staatspräsident regierende Autokrat Recep Tayyip Erdogan öffentlich: „Es gibt einen Präsidenten, der de facto die Macht in diesem Land hat, nicht einen symbolischen Präsidenten. (…) Ob man es akzeptiert oder nicht, das administrative System der Türkei hat sich verändert. Nun sollten wir die Verfassung dieser De-Facto-Situation anpassen“, erklärte er bereits im August 2015.

Das angestrebte Präsidentialsystem ist das zentrale Element des AKP-Putsches: Die parlamentarische Demokratie in der Türkei soll zugunsten eines Systems überwunden werden, in dem die gesamte exekutive, judikative und legislative Macht letzten Endes in einer Hand zusammenläuft. Weitere Elemente sind die außenpolitische Orientierung auf eine Vormachtstellung der Türkei in einem erneuerten osmanischen Reich in der Region sowie die schrittweise Zerstörung des von der Staatsgründung her stark verankerten Laizismus im Land. Vor Kurzem erörterte der einflussreiche AKP-Parlamentarier İsmail Kahraman öffentlich die Möglichkeit der Abschaffung des Laizismus in der Türkei: „Wir sind ein muslimisches Land. Deshalb brauchen wir eine religiöse Verfassung.“

Die letzte Etappe

Diese fundamentale Umgestaltung des politischen Systems der Türkei ist nicht weniger als ein Staatsstreich. Im Unterschied zu jenem der Militärs allerdings vollzieht sich dieser Putsch in gut geplanten und vorsichtig umgesetzten Etappen. Das Scheitern des Militärputsches leitete die finale Etappe dieses Putsches ein.

Wie bei jedem Staatsstreich müssen die Machthaber, in diesem Fall die AKP-Regierung, den Staatsapparat und die strategisch wichtigen Bereiche der Gesellschaft, wie den Bildungssektor, von oppositionellen Elementen „säubern“: In den vergangenen Tagen wurden zahlreiche hochrangige Soldaten verhaftet, Tausende Richter und Lehrer entlassen, Polizisten suspendiert und lokale Funktionsträger entmachtet. Etwa 50 000 Staatsbedienstete wurden insgesamt entlassen.

Konstruiert wird das Feindbild einer „Parallelstruktur“, die den Staat infiltriert und die legitime, staatlich gewählte Regierung stürzen will. Regierungsoffizielle nennen sie „FETÖ“, ein Akroym für „Fethullahs Terrororganisation“. Diese Struktur wird derzeit vor allem dem im US-Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen zugeordnet. Dieser war früher Verbündeter Erdogans, heute ist er sein Intimfeind. Tatsächlich verfügt die Gülen-Bewegung über großen Einfluss in bestimmten Teilen des Staatsapparates, vor allem in Justiz und Polizei, wobei er in letzterem bereits durch vorhergehende „Säuberungen“ stark geschwächt war. Im Militär dagegen waren es eher alte, kemalistische Eliten, die sich gegen Erdogan wandten. Zudem aber auch Generäle, die unter der AKP Karriere gemacht haben.

Für die Konstruktion des Feindbilds sind diese Differenzierungen aber gleichgültig und sogar schädlich. Die Erzählung muss lauten: Es gibt eine einzige, verschwörerische und hinterhältige Kraft, die sich gegen den großen Führer und Präsidenten wendet. Und wenn sie ausgelöscht ist, erstarkt die türkische Nation.

Die „Hunde“ am „eigenen Kragen“ aufhängen …

Wer solche Feindbilder konstruiert, ruft zugleich zur Hexenjagd gegen alle „Volksschädlinge“. Seit dem heutigen Mittwoch hängt auf dem symbolträchtigen Atatürk-Kulturzentrum am zentralen Istanbuler Taksim-Platz zwischen zwei überdimensionalen Erdogan-Porträts ein Transparent. Auf ihm steht geschrieben: „Du Hund des Teufels, Feto, wir werden dich und deine Hunde an euren eigenen Krägen aufhängen. Mit der Erlaubnis Gottes werden wir die Fahne der Demokratie am Himmel wehen lassen.“ Gezeichnet: „Die heiligen Helden dieser Nation.“

Die „heiligen Helden dieser Nation“ haben diesen Worten bereits Taten vorangehen lassen. Gefangene Soldaten wurden im Beisein der Polizei gefoltert und totgeschlagen, selbst die im Staatsfernsehen vorgeführten Militärgeneräle wiesen deutliche Spuren von Misshandlungen auf. In der ganzen Türkei füllten wütende Banden von AKP-Anhängern die Straßen und griffen Bevölkerungsgruppen an, die sie für oppositionell halten. So marschierten unter dem Schlachtruf „Hier ist die AKP, wo sind die Aleviten?“ in Malatya islamistische AKP-Anhänger in eine vor allem von der diskriminierten Religionsgruppe der Aleviten bewohnte Nachbarschaft. Aus Moscheen wurde zum Dschihad aufgerufen, in eher liberalen Stadtteilen wie Istanbul-Kadiköy vermeiden die Menschen es, auf die Straße zu gehen, bis sich die aufgeheizte Situation beruhigt hat.

Parallelstrukturen aufgebaut

Dass die Gülen-Bewegung und alte kemalistische Eliten „Parallelstrukturen“ aufgebaut haben, wie die AKP-Regierung behauptet, ist sicher zutreffend. Ebenso zutreffend ist, dass die AKP selbst „Parallelstrukturen“ aufgebaut hat und weiter aufbaut – und zwar schlagkräftigere und umfassendere. „Parallelstruktur“ bedeutet in diesem Fall militärische oder administrative Apparate sowie für die politischen Ziele mobilisierbare Gruppen, die nicht mehr an den türkischen Staat an sich – unabhängig von der jeweiligen Regierung – gebunden sind, sondern an Erdogans Partei.

Die Spezialeinheiten der Polizei – Polis Özel Harekat (PÖH) – haben in weiten Teilen solchen Charakter, ebenso wie diverse islamistische Gruppierungen und Lobbygruppen. Der Türkei-Experte Nick Brauns schrieb zudem in der Tageszeitung junge Welt kürzlich über eine Söldnerfirma, die Erdogan zu einer „Privatarmee“ hochrüste: „Gegründet wurde SADAT, das als eine Art islamistisches Blackwater erscheint, Anfang 2012 durch den Brigadegeneral im Ruhestand Adnan Tanriverdi und 23 weitere Offiziere. Bei diesen handelt es sich mehrheitlich um Soldaten, die Ende der 1990er Jahre aufgrund ‚reaktionärer‘, d. h. islamistischer Tendenzen aus der türkischen Armee ausgeschlossen wurden. (…)  Auf seiner Website wirbt SADAT auch mit Ausbildung in ‚unkonventioneller Kriegsführung‘ einschließlich Überfällen, Sabotage und Verschleppungen.“

Im Unterschied zu Gülen gelingt es Erdogan nun, seine eigenen Parallelstrukturen als neuen Staatsapparat zu verankern. Der Umbau des gesamten Staatsapparates nach dem gescheiterten Putschversuch hat genau das zum Ziel. Erdogans emphatische Beschwörung der „Demokratie“ ist in Wahrheit der alte Ruf: l’etat c’est moi.

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Syrianisierung der Türkei

Kurzfristig wird dieser brutal durchgesetzte Coup in der Folge zu einer Stabilisierung der Macht Erdogans führen. Langfristig wird er die Spaltung der Bevölkerung vertiefen und zur weiteren „Syrianisierung“ der Türkei führen. Die Bilder der gefolterten Soldaten haben in den kemalistischen Bevölkerungsteilen ein Trauma ausgelöst. Ist der erste Schock überwunden, werden auch sie sich Möglichkeiten suchen, sich gegen die Zerstörung ihres säkularen Lebensstils zu wehren. Ähnliches gilt für die Aleviten: Sie sahen sich im 20. Jahrhundert immer wieder Massakern fanatisierter Sunniten ausgesetzt. In manchen Stadtteilen rufen alevitische Gruppen deshalb schon jetzt zur bewaffneten Selbstverteidigung auf.

Erdogans hartes Durchgreifen hat eine friedliche Demokratisierung der Türkei in weite Ferne rücken lassen. Die Gefahr einer Fragmentierung und „Syrianisierung“ der Türkei oder einer Grabesruhe mit Massenflucht und innerer Emigration waren nie größer.

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