„Demonstriert!“
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Nach Großbritanniens Ausscheren aus der Kriegsfront – Aufwind für das Friedenslager –
Von SUSANN WITT-STAHL, 30. August 2013 –
Die Propagandamaschine neokonservativer und anderer Pro-Krieg-Hardliner läuft derzeit nicht wie geschmiert. Während im Weißen Haus intensiv darüber gegrübelt wird, wie das bislang nicht erwiesene Überschreiten einer von der US-Regierung prononcierten „Roten Linie“ mit militärischen Mitteln „bestraft“ werden kann, zeigen Politiker, soziale Bewegungen, vor allem die Mehrheit der Bevölkerung in der westlichen Welt, den Kriegstreibern die Rote Karte – zumindest kein Interesse an der Ausweitung des ohnehin schon flammenden Infernos im Nahen Osten.
Nach einer beispiellosen Abstimmungsniederlage im Unterhaus hat Großbritanniens konservativer Premierminister David Cameron jede Beteiligung seines Landes an einem Angriff auf Syrien ausgeschlossen. „Das britische Parlament und die britische Bevölkerung wünschen keine militärische Aktion. Ich nehme das zur Kenntnis, und die Regierung wird entsprechend vorgehen“, sagte Cameron in der Nacht zum Freitag. Und auch Verteidigungsminister Philip Hammond bestätigte, es werde keine Militäraktion mit britischer Beteiligung geben. Die US-Regierung wird jetzt zumindest einmal ohne ihren treusten Vasallen auskommen müssen, der bislang nie gezögert hatte, sich an vorderster Front der in der Regel vom Welthegemon angezettelten neuen imperialistischen Kriege des Westens zu engagieren.
Premierminister Cameron verlor die Abstimmung, weil ihm Abweichler in seiner Partei die Gefolgschaft versagten. Insgesamt stimmten 285 Abgeordnete gegen die Beschlussvorlage, die als Reaktion auf den mutmaßlichen Giftgaseinsatz mit mehreren hundert Toten „grundsätzlich“ militärische Schritte der Briten gegen die Regierung von Baschar al-Assad möglich gemacht hätte. Mit der Opposition votierten 30 der insgesamt 304 Mitglieder von Camerons Conservative Party.
Vernichtender Schlag gegen Camerons Autorität
Die Schlappe, die Cameron nach einer erbitterten, über mehr als sieben Stunden geführten Debatte kassiert hat, wird in Großbritannien als schwere Demütigung und fette Blamage für den kriegsaffinen Regierungschef aufgefasst. Die Tageszeitung The Guardian spricht sogar von einem „vernichtenden Schlag gegen seine Autorität“. (1) Der blaublütige Börsenmaklersohn, ein Nachfahre von König Wilhelm IV., und sein Außenminister William Hague hatten sich nämlich mit der von ihnen gewohnten Arroganz der Macht weit aus dem Fenster gelehnt und im vorauseilendem Gehorsam gegenüber den USA auf dem internationalen Parkett für eine harte Haltung gegen Damaskus getrommelt. Aber nicht nur das: Sie hatten sogar erklärt, eine einstimmige Haltung der fünf Vetomächte des UN-Sicherheitsrats sei für einen Militärschlag gar nicht notwendig.
Oppositionsführer Ed Miliband von der Labour Party begrüßte das Ergebnis des Votums. „Das Unterhaus hat für das britische Volk gesprochen, das nicht in den Krieg rennen will“, stimmte er plötzlich Töne an, die bei den neoliberalisierten britischen Sozialdemokraten unter Tony Blair so gut wie völlig verstummt waren. Die jüngsten Umfragen hatten gezeigt, dass die große Mehrheit der Briten eine Militäraktion ablehnt. Für die Ignoranz gegenüber dem Willen der Bevölkerung warf Miliband Cameron „Hochmut und Rücksichtslosigkeit“ vor. Politische Kommentatoren sehen jetzt die Position Camerons als Regierungschef deutlich geschwächt: Dieser habe die Kontrolle über seine Außen- und Sicherheitspolitik verloren.
Die USA im Glashaus
US-Präsident Barack Obama schert sich indes nicht um vox populi urbi et orbi und behält sich trotz des britischen Neins eine Intervention – notfalls im Alleingang, wahrscheinlich aber mit Frankreich an seiner Seite – vor: „Wie wir bereits sagten, wird Präsident Obamas Entscheidung von den besten Interessen der Vereinigten Staaten abhängen“, sagte Sprecherin Caitlin Hayden der Nachrichtenagentur dpa. Obama sei überzeugt, „dass Länder, die internationale Normen verletzen, zur Verantwortung gezogen werden müssen“.
Mit derartigen Aussagen bewegt sich der US-Präsident und Friedensnobelpreisträger argumentativ auf äußerst dünnem Eis – denn nach Obamas Maßstäben zählten die Vereinigten Staaten weltweit zu den heißesten Kandidaten für Strafexpeditionen. Das gilt nicht nur während Edward Snowden einen von der Obama-Administration zu verantwortenden schweren Bruch von internationalen Gesetzen und Abkommen nach dem anderen sowie eine breite Palette hässlicher Wahrheiten aus ihrer keineswegs mehr auf rechtstaatlichen Boden platzierten Black Box US-Geheimdienst ans Tageslicht befördert. Obamas moralischer Imperativ wirkt zudem nicht nur vor dem Hintergrund der Tatsache lächerlich, dass das von den voraufklärerischen Wertekodizes der Evangelikalen durchwirkte amerikanische Rechtssystem an dem Soldaten Bradley Manning, der aus Gewissensgründen Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak aufgedeckt hatte, vor Kurzem ein Exempel statuiert hat, um weitere humane Regungen innerhalb des Sicherheitsapparates bereits im Keim zu ersticken. Die Welt hat auch noch nicht vergessen, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor allem die USA, ebenso andere westliche Länder, in den vergangenen Dekaden begangen haben.
„Es gibt viele Verbrechen dieser Art“, bestritt der Politikwissenschaftler Michael Lüders gestern in der ARD bei Beckmann, dass der „Tabubruch“, der Assad angelastet wird, einer ist und erinnerte an den von dem damaligen Verbündeten der USA Saddam Hussein befohlenen Giftgas-Angriff bei Halabdscha 1988, bei dem zwischen 3.200 und 5.000 Menschen, vorwiegend Kurden, ums Leben kamen und dessen Verurteilung durch den UN-Sicherheitsrat am Veto der USA scheiterte. „Man könnte auch den Einsatz von weißem Phosphor durch die israelische Armee über dem Gaza-Streifen zum Jahreswechsel 2008/2009 nennen. Es ist doch so, dass unsere Wahrnehmung durchaus selektiv ist“, kritisierte Lüders (begleitet durch verärgerte Zwischenrufe von Stefan Kornelius, Auslandsressortchef der Süddeutschen) die manipulative und überaus tendenziöse Berichterstattung deutscher Medien und äußerte arge Zweifel, dass die gewalttätigen Interventionen des Westens im Nahen Osten „allein von Edelmut getragen“ sind. (2)
„Keine Bomben lösen auch keine Probleme“
Das Establishment der deutschen Medienvertreter stört es aber kein bisschen, dass die USA und ihre Verbündeten, moralisch gesehen, im Glashaus sitzen und unentwegt mit Steinen schmeißen. Es verlässt sich einfach darauf, dass das Recht des militärisch Stärkeren schon wieder irgendwie exekutiert wird. Von der neolinksliberalen taz bis zum neokonservativen Focus – die Journalisten wissen, im Gegensatz zu den UN-Inspektoren, die noch in Syrien ermitteln, schon lange ganz genau, was sie schon immer wussten: Nämlich dass die, die sich dem Diktat des Westens nicht beugen wollen, immer die Schurken sind und es nur eine Lösung gibt: Krieg. „Keine Bomben lösen auch keine Probleme“ (Malte Lehming, Cicero); „Einmischen, jetzt!“ (Kristin Helberg, taz) „Vor 70 Jahren weigerten sich die Alliierten, Auschwitz zu bombardieren. So konnten die Nazis ungestört die Juden ermorden. Daraus sollten wir gelernt haben, Gewaltherrschern das Handwerk zu legen“ (Rafael Seligmann, Bild).
Offenbar beflügelt von alttestamentarisch-primitiven Rachefantasien und anderen atavistischen Regungen oder Sehnsüchten nach verlorenen Paradiesen, in denen Carl Peters, der von den Indigenen „blutige Hand“ genannte Gründer der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“, renitenten „Negern“ mal ordentlich zeigte, wo’s langgeht, fordern einige sogar unisono mit Obama lauthals eine „Bestrafung“ für die ungezogenen Syrer.
Aber vereinzelt dringen im dichten Ideologienebel nach und nach mehr kritische Stimmen durch. Der Mainzer Professor Günter Meyer vom Zentrum für Forschung zur Arabischen Welt warnte in einem Interview mit ZDF spezial eindringlich davor, die Behauptungen der US-Regierung, „die ganz klare propagandistische Interessen“ hat, ungeprüft als Wahrheit zu akzeptieren: Wenn man sich ernsthaft frage, wer von dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen mit chemischen Kampfstoffen profitiere, dann komme man zu dem Schluss, das „kann nicht das Regime sein, das genau weiß, das ist die Rote Linie. Wenn wir chemische Kampfstoffe einsetzen, dann haben wir die stärkste Weltmacht gegen uns“, gab Meyer zu bedenken. „Das heißt aus der logischen Überlegung her kann das Assad-Regime nicht dafür verantwortlich sein. Allein die Aufständischen dürften das Ganze inszeniert haben“, lautet seine Vermutung. Und falls die USA tatsächlich Beweise präsentieren sollten: „Wir haben schon einmal gesehen, welche Belege die Amerikaner vor dem Einmarsch in den Irak vorgelegt haben. Diese Belege kann man beliebig fälschen und beliebig auslegen. Das heißt, es wird mit Sicherheit keinen eindeutigen Beweis geben.“ (3)
Ein historischer Moment?
Das weiß das Friedenslager auch und fordert die westlichen Regierungen auf, ihre Aggressionen unverzüglich zu stoppen und sich endlich an den Verhandlungstisch zu begeben. Nicht nur mit Assad und Russland – auch mit dem Iran. Es geht um nichts weniger als darum, eine Katastrophe zu verhindern. Viele Menschen spüren das. Die jüngsten Umfragen zeigen, die ohnehin krisengebeutelten westlichen Gesellschaften sind kriegsmüde. Wachsende Teile der Bevölkerung glauben den Lügen ihrer Regierungen und der Vierten Gewalt nicht mehr.
Nicht zuletzt deshalb werten die Kriegsgegner in Großbritannien die Entscheidung des Unterhauses als weit mehr als nur eine Pleite für Cameron. Sie sei ein „historischer Moment“, heißt es in einer Erklärung der Stop the War Coalition. „Es bedeutet den Sieg der mehrheitlichen Haltung gegen den Krieg über die Interessen der Elite Großbritanniens, die länger als seit einem Jahrzehnt enthusiastisch an den von den USA geführten Kriegen partizipiert.“ Die Friedensbewegung feiert nicht nur ihren Erfolg – sie nutzt ihn auch als Rückenwind für weitere Proteste: „Wir haben Cameron gestoppt, aber Obama plant immer noch den Krieg“, appelliert sie an die Bevölkerung, nicht locker zu lassen und „den Druck aufrecht zu erhalten“. Factum brutum ist, dass die militärischen Vorbereitungen für einen Angriff auf Stellungen in Syrien ungeachtet aller Diplomatie vorangehen und am Donnerstag ein fünfter Lenkwaffenzerstörer der US-Marine mit Marschflugkörpern im östlichen Mittelmeer eingetroffen ist.
„Dass wir Cameron den Krieg vermasselt haben, ist ein herber Dämpfer für die Kriegspläne des Westens. Aber nun müssen wir die Anstrengungen verdoppeln und den Angriff auf Syrien verhindern. Demonstriert!“, so der dramatische Aufruf der Stop the War Coalition, sich am Samstag an den Friedensmärschen und am 3. September an Protesten vor der US-amerikanischen Botschaft zu beteiligen. „Die Welt wird morgen nach London schauen. Wir brauchen eine größtmögliche Mobilisierung, um die Botschaft rund um den Globus zu senden, dass die Antikriegsmehrheit auf den Straßen bleiben wird!“
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(1) http://www.theguardian.com/politics/2013/aug/30/cameron-mps-syria
(2) http://mediathek.daserste.de/podcast/13866730_beckmann/16832262_droht-ein-flaechenbrand-im-nahen-osten-
(3) https://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=eS2NzGXZAkM