China: Internet als Frühwarnsystem
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Von REDAKTION, 17. Oktober 2013 –
Chinas Regierung unternimmt gewaltige Anstrengungen, um Internet-Inhalte zu kontrollieren. Zu diesem Zweck beschäftigt sie eine ganze Armee an Zensoren. Doch es sind nicht kritische Äußerungen über Staat und Partei, die Chinas Machthaber Sorge bereiten.
Im riesigen China mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern verfügen laut dem China Internet Network Informationen Center (CNNIC) bereits 600 Millionen Menschen über einen Internetzugang. Die meisten von ihnen sind auf sozialen Netzwerken aktiv.
Ausländische Portale wie Facebook, Twitter oder Youtube werden durch die „Große chinesische Firewall“ gesperrt. Dafür erfreuen sich die chinesischen Pendants dieser Dienste, wie Weibo, der Twitter ähnelt, oder RenRen, das Facebook imitiert, großer Beliebtheit. Auch unter staatlichen Einrichtungen und Organisationen. Sechzigtausend von ihnen sollen laut Medienberichten bereits auf Weibo eigene Profile haben, jüngst kam sogar Chinas Staatsrat hinzu.
Die Kontrolle der Meinungsäußerungen in diesen Netzwerken stellt die herrschende Kommunistische Partei (KP) vor große Herausforderungen. Mit einem dreigliedrigen System der Zensur wird dem freien Meinungsaustausch entgegengewirkt. Neben der „Großen Firewall“ werden Webinhalte gezielt nach Signalwörtern durchkämmt, die als kennzeichnend für kritische Diskurse gelten.
Doch viele Internetnutzer schlagen dieser Maßnahme eine Schnippe, indem sie Metaphern und Umschreibungen, oder ähnlich klingende oder aussehende Schriftzeichen verwenden. Neben diesen beiden automatisierten Zensurmaßnahmen verlässt sich die Regierung auf „Analysten für öffentliche Meinung“, um zu erfahren, was die Menschen denken und sagen – und was davon unterdrückt werden soll. Laut einem Bericht der staatlichen Zeitung Beijing News werden bereits zwei Millionen solcher Analysten beschäftigt. Demnach bekommen sie täglich Themen vorgegeben, und durchforsten das Netz mit speziellen Suchprogrammen, die auf tausende Server zugreifen können. Nähere Details nennt der Bericht jedoch nicht.
Erlaubter Meinungsaustausch: Internet als Frühwarnsystem
„Das Ausmaß und die Raffinesse des Programms der chinesischen Regierung, Meinungsäußerungen der Bevölkerung selektiv zu zensieren, ist in der Weltgeschichte beispiellos“, schreibt ein Team von Wissenschaftlern der Harvard Universität, das intensiv die Zensur des Internets in China erforschte. (1) Dabei fand es Erstaunliches heraus, das den herkömmlichen Auffassungen über Sinn und Zweck der Zensurmaßnahmen im bevölkerungsreichsten Land der Erde widerspricht.
„Zweck des Zensurprogramms ist nicht die Unterdrückung von Kritik am Staat oder an der Partei“, stellen die US-Forscher fest. Die Wahrscheinlichkeit einer Zensur bestehe unabhängig davon, wie staatskritisch ein Beitrag ausfalle.
„Als Chinas Führung den Einzug sozialer Medien ins Reich der Mitte erlaubte, erlaubte sie damit auch die ganze Bandbreite positiver wie negativer Kommentare über den Staat, seine Politik und dessen Führung.“ Denn in kritischen Äußerungen sähen die Machthaber an sich keine Gefahr – im Gegenteil. Teilweise lässt die Regierung die Kritik offenbar bewusst zu und wertet sie aus, schreibt das aus Gary King, Jennifer Pan und Margaret E. Roberts bestehende Forscherteam. „Dies kann ein effektives Werkzeug für die Regierung sein, um zu erfahren, wie sie die Bedürfnisse des Volkes befriedigen und letztlich verändern kann“, resümieren die Wissenschaftler.
Die Auswertung des Internets dient der Regierung als eine Art Frühwarnsystem über Missstände, an denen sich (nicht-virtuelle) Proteste entzünden könnten. In diesem Sinne haben soziale Netzwerke bereits die Arbeit der Regierung beeinflusst, meint der bekannte chinesische Blogger Michael Anti in einem Interview mit der Nachrichtenagentur dpa. „Seit Gründung der Weibo im Jahr 2009 haben sie sich zu einem mächtigen Werkzeug entwickelt. Sie sind zu einem einflussreichen Sprachrohr geworden. Auf Provinzebene sind immer wieder korrupte Funktionäre überführt worden. Das hatte einen großen Einfluss.“
Die Ambivalenz sozialer Netzwerke aus der Perspektive der Staatsführung, die vor allem an stabilen Verhältnissen interessiert ist, besteht darin, dass diese in ihrer Funktion als Frühwarnsystem durchaus stabilisierend wirken können – solange darin ein freier Meinungsaustausch zugelassen wird. Auf der anderen Seite werden sie als mobilisierender Faktor gefürchtet, der Menschen zu gemeinsamen Handeln zusammen bringt – und möglicherweise in sozialen Unruhen endet.
Im Jahr 2010 gab es laut Soziologieprofessor Sun Liping von der Tsinghua Universität in China 180 000 „Massenaktionen“. (2) Diese sind eine permanente Gefahr für die Stabilität der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Ziel des Zensurprogramms ist es laut der Harvard-Studie daher, solche Aktionen bereits im Vorfeld zu verhindern.
Die staatlichen „Analysten“ zensieren folglich alle Themenkomplexe, an denen sich ihrer Ansicht nach Menschen zu gemeinsamen Aktionen zusammenfinden könnten. Die Wahrscheinlichkeit einer Zensur steigt, je konkreter in sozialen Netzwerken darüber diskutiert wird, „auf die Straße zu gehen“. Ganz unabhängig davon, worum es eigentlich geht. „Ob die Beiträge in den sozialen Medien mit dem Potential zu kollektiver Aktion den Staat bemängeln oder ihn anpreisen, oder in ihrem Thema gar nichts mit dem Staat zu tun haben“, sei dabei völlig gleichgültig, so die Studie.
„Worte sind nur Worte, aber Taten sind Taten. Proteste auf der Straße entfalten einen größeren Einfluss. Die Regierung ist sehr besorgt über Unruhen“, so der Blogger Anti. Meinungsfreiheit sei „keine wirkliche Gefahr“ für Chinas Machthaber. „Meinungsfreiheit und soziale Netzwerke stoßen keine Revolution in China an“, lautet sein Fazit.
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(mit dpa)
Anmerkungen
(1) http://gking.harvard.edu/files/censored.pdf
(2) http://www.nytimes.com/2012/05/11/world/asia/chinas-unique-economic-model-gets-new-scrutiny.html?_r=2&