Weltpolitik

Charkow: Terror gegen Regimekritiker

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Die Menschenjagden der ukrainischen Regierung werden aggressiver. Politische Aktivisten nach Entführungsversuch durch Rechten Sektor und Kiewer Geheimdienst im Untergrund –

Interview über eine gescheiterte Entführung, 24. Mai 2014 –

Es geschah am 20. Mai am helllichten Tag im Zentrum der Millionen-Stadt Charkow in der Ostukraine: Schüsse, Panik, Hilfeschreie auf dem Swoboda-Platz in der Nähe des Lenin-Denkmals. Auf einem Video (s.u.)  ist zu sehen, wie ein Mann zu Boden geworfen wird. Es ist Denis Levin, Vorsitzender der Ortsgruppe der marxistischen Organisation Borotba** in Donezk. Maskierte und schwer bewaffnete Männer versuchen, ihn in einen Lieferwagen zu zerren. Einer der Täter nimmt die Borotba-Aktivistin Svetlana Licht, die ihrem Genossen beistehen will, in den Würgegriff. Jemand schreit: „Der Rechte Sektor ist hier!“ Einige der herbeigeeilten Polizeibeamten helfen nicht etwa den Opfern, sondern den Entführern. Sie ermöglichen ihnen sogar einen ungehinderten Rückzug, nachdem Passanten und Borotba-Anhänger mit lauten „Fashisty, Fashisty!“-Rufen beherzt eingegriffen, das Verbrechen verhindert und Denis Levin befreit haben.
Denis Levin und Svetlana Licht konnten aus Charkow fliehen. Sie halten sich derzeit an einem geheimen Ort im Südosten des Landes auf. Susann Witt-Stahl sprach mit Svetlana Licht* über den Entführungsversuch und andere Gewaltverbrechen gegen Oppositionelle in der Ukraine

Wie geht es Ihnen?

Wir sind okay. Es geht uns nicht schlecht.

Gedenktafel für ermordete Antifaschisten Charkow. Foto: Susann Witt-Stahl

Was genau ist am 20. Mai geschehen?

Der ukrainische Geheimdienst hat versucht, Denis Levin in seine Gewalt zu bekommen. Wir hatten gerade ein Bahnticket gekauft, mit dem Denis nach Moskau zu einem TV-Interviewtermin fahren wollte. Anschließend sind wir auf den Swoboda-Platz gegangen, wo unsere Aktivisten von Borotba Charkow eine Gedenkveranstaltung für all die Menschen abgehalten haben, die in der Ukraine von Neonazis ermordet wurden. Danach gingen wir zur Metro-Station Universytet. Unten kamen einige Personen auf uns zu. Ein kräftig gebauter junger Mann sprach Denis Levin an.

Was wollte er?

Er sagte, er sei vom ukrainischen Geheimdienst. Denis müsse mitkommen. Denis erwiderte, dass er das nicht tun werde. Er wollte weiter zur U-Bahn gehen. Aber in diesem Moment packten sie ihn. Ich rannte zu Denis und griff nach seiner Hand und hielt sie fest, damit sie ihn nicht abführen konnten. Dann nahmen sie auch mich fest und schoben uns zum Ausgang der Metro-Station. Als wir oben angekommen waren, sah ich als erstes einen VW-Lieferwagen. Ich erinnerte mich daran, dass unsere Genossen aus Charkow von so einem Wagen berichtet hatten, aus dem vor einigen Wochen zwei Antifaschisten erschossen worden waren.

Was geschah weiter?

An dem Wagen standen drei maskierte Männer mit Waffen. Sie sahen zu, wie uns die Geheimdienst-Mitarbeiter in ihre Richtung stießen. Wir begannen, um Hilfe zu rufen. Unsere Genossen von Borotba kamen angerannt. Sie versuchten, uns wegzuziehen. Es gab eine Rangelei. Die Polizei kam, einer der Beamten wollte uns beschützen. Als er einen der Geheimdienst-Männer wegschob, legte ein anderer von denen Denis Handschellen an und verletzte ihn. Es kamen viele Leute, die uns halfen. Einige riefen mit ihren Handys die Polizei an. In dem Handgemenge konnten wir entkommen.

Wohin?

Wir rannten in den Park. Auf der anderen Seite nahmen wir uns ein Taxi und fuhren weg. Später konnten wir die Handschellen entfernen. Denis Hand ist zwar nicht gebrochen, aber die Verletzung bereitet ihm einige Probleme.  

Wie hat die Polizei reagiert?

Einige Beamte waren schon vor Ort, um den ordnungsgemäßen Ablauf der Kundgebung unserer Genossen von Borotba sicherzustellen. Zwei Polizisten haben die Geheimdienstleute unterstützt, ein anderer war auf unserer Seite. Die Mehrheit der Polizisten in der Stadt ist aber loyal gegenüber unserer Bewegung. Beispielsweise gab es einen Beamten, der sich geweigert hat, illegale Befehle auszuführen. Er bekam große Schwierigkeiten und ist mittlerweile auf der Flucht. Die Polizisten, die hier im Auftrag der Kiewer Junta die Gesetze brechen, etwa willkürliche Verhaftungen vornehmen, stammen in der Regel aus anderen Regionen. Um zu verhindern, dass die Polizei von Charkow vollständig die Seiten wechselt, hat die Regierung des Verwaltungsbezirks Polizeikräfte aus anderen Oblasten zur Verstärkung angefordert, die der Junta treu ergeben sind. Der Polizist, der uns gegen die Entführer geholfen hat, hat unserer Organisation übrigens geraten, ein Schreiben an die Behörden aufzusetzen, in dem wir dokumentieren, dass wir ohne Rechtsgrundlange mit Repression belegt und von Faschisten verfolgt werden. Damit soll die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen die Täter erzwungen werden.

Welche Rolle spielt der faschistische Rechte Sektor?

Es deutet vieles darauf hin, dass die drei maskierten Männer mit den Schusswaffen, die uns in den VW-Lieferwagen zerren wollten, Mitglieder des Rechten Sektor sind. Mittlerweile wissen wir, es war dasselbe Fahrzeug, das regelmäßig von den Faschisten in Charkow genutzt wird. Die Kennzeichen sind identisch. Vor einigen Wochen haben Aktivisten von Borotba mit eigenen Augen gesehen, wie aus diesem VW-Lieferwagen zwei Antifaschisten erschossen wurden. Nach unserer Kenntnis arbeitet der ukrainische Geheimdienst mit dem Rechten Sektor zusammen. In der Spezialeinheit Alpha operieren Mitglieder des Rechten Sektors und anderer Nazi-Banden. Auch bei der Polizei in Odessa. Am 9. Mai ist das Büro von Borotba angegriffen und verwüstet worden. Kurz danach wurde ein Genosse, der der Initiative Verteidiger von Charkow angehört, von Geheimdienst-Leuten und Faschisten in der Nähe seines Wohnhauses brutal zusammengeschlagen, und sie haben ihm gedroht, seiner Familie und seinen Kindern etwas anzutun.

Sind die Morde an den beiden Antifaschisten aufgeklärt?

Am Abend des 14. März hatten sich Anhänger der Verteidiger von Charkow in der Nähe des Lenin-Denkmals versammelt. Sie hatten Informationen erhalten, dass der Rechte Sektor einen Angriff geplant hatte. Zwischen 22 und 23 Uhr fuhr der VW-Lieferwagen vor, mit dem wir gekidnappt werden sollten. Aus dem Wagen wurde in die Menge geschossen. Aktivisten der Verteidiger von Charkow rannten dem VW hinterher und sahen, dass er vor dem Büro des Rechten Sektor in der Rymarski Straße 18 hielt. Die Faschisten eröffneten das Feuer auf die Antifaschisten. Zwei Männer wurden getötet. Der eine war gerade einmal 19 Jahre alt, der andere, ein Arbeiter, etwa 30 Jahre alt. Es gab auch Verletzte. Die Mörder wurden nicht verhaftet – sie sind bis heute auf freiem Fuß.

Und wie wird es jetzt für Sie weitergehen – sind Sie jetzt in Sicherheit?

Ja, jedenfalls im Moment. Aber wir wissen nicht, was uns erwartet. Die Leute, die hier im Südosten Proteste gegen die Regierung organisieren, berichten, dass es hier häufig zu Kidnappings durch den Geheimdienst kommt – nicht nur von Anführern der Oppositionsbewegungen, auch von Aktivisten. Die Anzahl der Opfer ist uns allerdings nicht bekannt.

Was werden Sie jetzt tun?

Wir gehen jetzt in den Untergrund und werden versuchen, unseren Protest von dort aus zu organisieren und fortzusetzen. Für uns ist diese Situation ganz neu. Wir müssen jetzt erst einmal damit klar kommen.

Wäre es nicht besser, das Land zu verlassen – ist Ihnen das überhaupt möglich?

Ich weiß es nicht. Vor allem für Denis Levin dürfte es schwierig werden. Einige Genossen aus Odessa haben einen Weg gefunden, die Ukraine zu verlassen. Wir werden bis auf Weiteres bleiben. Ich denke, wir dürfen den Widerstand nicht aufgeben. Wir müssen uns neu formieren und organisieren. Und falls es hier eines Tages nicht mehr weitergeht und zu gefährlich wird: Ich hoffe, wir finden einen Fluchtweg nach draußen.

Was könnte und müsste von Europa aus getan werden, damit die Angriffe auf Regierungsgegner aufhören und ihre Verfolgung gestoppt werden können?

In den Medien muss endlich die Wahrheit gesagt und verbreitet werden. Menschenrechtsorganisationen müssten sich für die Verfolgten in der Ukraine einsetzen. Die Solidaritätskundgebungen, die es bereits in vielen Ländern gibt, sind sehr wichtig. Wir freuen uns über alles, was getan wird. Die Aktionen sind ein Zeichen dafür, dass Menschen in Europa angefangen haben zu begreifen, was hier in der Ukraine wirklich geschieht.


 

* Name von der Redaktion geändert

** borotba.org/eng.html

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