Aufstand der Eliten
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Ein Gespräch mit PHILLIP BECHER, 21. Juni 2013 –
Der Sozialwissenschafter Phillip Becher hat kürzlich seine Studie über den Rechtspopulismus in Europa und den Vereinigten Staaten veröffentlicht.* Mittlerweile gibt es in fast der Hälfte der 27 EU-Mitgliedsstaaten Parteien rechts von der „bürgerlichen Mitte“, die Sitze in den nationalen Volksvertretungen oder dem Europäischen Parlament erlangt haben. In den USA profiliert sich die von Öl-Multis unterstütze Tea-Party-Bewegung als eine Kraft, die sozialen und demokratischen Fortschritt bekämpft. Es ist bereits von einer „Renaissance des Rechtspopulismus“ die Rede. Susann Witt-Stahl sprach mit Phillip Becher über jüngste Entwicklungen des Phänomens, die Unterschiede zum Faschismus und welche Auswirkungen der Rechtspopulismus in den Regierungen hat. Sie fragte nach dem Verhältnis von Wilders, Strache & Co zum Neokonservatismus und Zionismus, ihren neuen Ideologemen und Strategien und ob die politischen Antworten der Anti-Rechts-Bündnisse überhaupt noch zeitgemäß sind.
Hintergrund: Ist von „Rechtspopulismus“ die Rede, assoziiert man bis heute Aschermittwochsreden, beispielsweise von Franz Josef Strauß in den 1970er-Jahren. Man denkt an Bier- und Bratwurstdunst, Law-und-Order-Rhetorik und andere Kraftmeierei, an Verbalinjurien, dumpfe Polemik und Schenkelklopfen. Was aber ist Rechtspopulismus im Kern, und welche sind seine zentralen Wesenszüge?
Phillip Becher: Ich glaube, dieser schwierigen Frage muss man sich über zwei Begriffsebenen nähern. Zum einen sollte man sich darüber verständigen, was rechte Politik ist. Zum anderen braucht man eine Definition von Populismus. Ende des 19. Jahrhunderts hätte man wohl Gruppen wie die russischen Volksfreunde oder die People’s Party in den USA als populistisch bezeichnet. Beide vertraten bäuerliche Interessen und waren echte Bewegungen von unten, die jeweils spezifische Antworten auf die kapitalistische Modernisierung zu finden versuchten. Dementgegen hat der Sozialwissenschaftler Reinhard Opitz den Begriff „populistisch“ in den frühen 1980er-Jahren einmal mit „völkisch“ übersetzt. Man sieht hier sehr gut die Wandlung des Ausdrucks „Populismus“. Und der von Ihnen genannte Franz-Josef Strauß ist an dieser Stelle in der Tat eine Art Stichwortgeber oder Vorläufer. Opitz hat die Strauß-CSU in den 1970er-Jahren als eine Organisation zwischen Sammlungsbewegung und Partei definiert, die eine Massenbasis für administrativ-autoritäre Politik herzustellen versucht. Diese Funktion erfüllt sie in dieser Form heute nicht mehr. Ein gewisses Bedürfnis, vor allen Dingen in Krisenzeiten, aber keineswegs auf diese beschränkt, die Gesellschaft auf diesem Wege von oben „zusammenzuhalten“ – zumeist auf Kosten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen – besteht aber weiterhin. Ich würde daher das Stichwort der administrativ-autoritären Politik als Zielstellung des neuen Rechtspopulismus definieren. Dieser tritt zwar auch als Anwalt von „Volksinteressen“ auf, definiert diese aber nicht sozial, sondern angeblich klassenblind. Hierbei erhält er, obwohl antielitär auftretend, Unterstützung von Teilen der Eliten. Die Entstehung des Rechtspopulismus hat auch mit der Entwicklung des Neoliberalismus zu tun. Der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Schui hat überzeugend aufgezeigt, wie die rechtspopulistischen Programmatiken den neoliberalen Zeitgeist in sich aufgenommen haben. Gleichzeitig agieren die rechtspopulistischen Führer in Europa und Nordamerika jedoch als Vertreter eines systemkonformen Protests. Sie plädieren dafür, gesellschaftliche Probleme mit der Hilfe starker Sicherheitsorgane zu lösen. Auch die Agitation gegen Zuwanderer und Muslime nimmt breiten Raum ein. Den Vorwurf des Faschismus würden diese Rechtspopulisten wohl alle entrüstet von sich weisen. Rechts, das heißt, im Anschluss an Opitz, zuvorderst inhaltlich antidemokratisch, sind sie dennoch. Man grenzt sich eben verbal vom „Extremismus“ ab.
Natürlich weisen Rechtspopulisten den Faschismusvorwurf weit von sich. Das tun verständlicherweise sogar viele Faschisten – nach den welthistorischen Verbrechen, die auf ihr Konto gehen. Aber es gibt doch nicht wenige Gemeinsamkeiten zwischen Rechtspopulisten und Faschisten. Welche sind das, und wo verläuft die Trennungslinie? Der von Ihnen erwähnte Ökonom Herbert Schui hatte Mitte der 1990er-Jahre die provokante rhetorische Frage „Wollt Ihr den totalen Markt?“ gestellt und darauf hingewiesen, dass beide immerhin das gleiche Ziel haben – nämlich die Verteidigung des Kapitalismus.
Rechtspopulismus und Faschismus sind beide extrem rechte politische Bewegungen, die sich zum Privateigentum bekennen. Daran kann kein Zweifel bestehen, und deshalb sind die Analysen von Schui immer noch gültig. Während Rechtspopulisten tatsächlich sehr stark auf eine bürgerliche Erscheinung Wert legen, gerieren sich Faschisten hingegen immer noch subversiv und bedienen eine lautstarke Sozialdemagogie. Bei ihnen mögen sich, im Vergleich mit dem frühen 20. Jahrhundert, einige äußere Merkmale geändert haben. Der pseudo-revolutionäre Habitus ist geblieben – kommt nur eben in neuen Gewändern daher. Ein wichtiges Unterscheidungskriterium ist zudem die Haltung zur Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Rechtspopulisten lehnen, anders als Faschisten, Gewalt verbal ab. Bei einer rechtspopulistischen Partei wie der italienischen Lega Nord, die sich selbst als „antifaschistisch“ bezeichnet, ist diese Unterscheidung zugegebenermaßen etwas schwierig. Ihre Funktionäre, wie etwa der notorische Polter-Rassist und EU-Parlamentarier Mario Borghezio, scheuen sich zum Teil selbst nicht vor Gewaltanwendung gegen Flüchtlinge. Grundsätzlich muss man jedoch konstatieren, dass seitens des europäischen Rechtspopulismus eher eine Aufrüstung der bestehenden staatlichen Exekutivorgane und keine eigenständige politische Gewalt befürwortet wird. Man darf allerdings nicht unterschlagen, dass das Gedankengut des norwegischen Massenmörders Anders Breivik sich aus der Agitation eben dieser politischen Richtung speiste.
Sie ordnen den Rechtspopulismus als eine Erscheinungsform der „extremen Rechten“ ein. Sie plädieren für eine „pragmatische“ Verwendung des Begriffs Rechtsextremismus, distanzieren sich aber von der sogenannten Extremismustheorie, wie sie beispielsweise von dem Politologen Eckard Jesse vertreten wird, der in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz politischen Extremismus als „Antithese des demokratischen Verfassungsstaates“ definiert und die Existenz eines Extremismus in der „bürgerlichen Mitte“ leugnet. Wie lautet Ihre Kritik an derartigen Auffassungen? Warum halten Sie gleichzeitig am Extremismusbegriff fest, und in welchem Kontext halten Sie ihn zum Zweck der Beschreibung von Phänomenen für hilfreich und sinnvoll?
Die Extremismustheorie ist in der Tat nicht das Leitbild meines Vorschlags für ein Verständnis der extremen Rechten. Sie setzt ja bekanntlich linksgerichtete politische Kräfte mit rechten Bestrebungen gleich. Gleichzeitig werden antidemokratische Tendenzen in der „Mitte“, hier nenne ich einmal exemplarisch die Thesen von Thilo Sarrazin, nicht berücksichtigt. Das kann natürlich keine sinnvolle Idee sein und wird daher zu Recht von vielen eher kritischen Sozialwissenschaftlern in Sachen Stichhaltigkeit angezweifelt. Man sollte sich das Ganze eher so vorstellen, dass es neben den konservativen oder christdemokratischen Volksparteien ein Spektrum verschiedener rechter Politikangebote gibt. Diese lassen sich untereinander anhand der Frage unterscheiden, wie vehement sie hinter die Demokratie zurückstreben – wobei für die Beantwortung sowohl die proklamierten Ziele als auch die hierfür gewählten Mittel in den Fokus genommen werden müssen. Den Begriff des „Rechtsextremismus“ oder der „extremen Rechten“ halte ich zur Beschreibung dieses Spektrums – Sie schnitten es bereits an – aus pragmatischen Gründen für sinnvoll. Hierbei muss man sich jedoch der Problematik der Wortwahl bewusst werden. Ich persönlich kenne aber noch keinen besseren Begriff für das so abgesteckte Feld. Den Rechtspopulismus mit dem Neofaschismus in eins zu setzen, hilft nämlich auch nicht weiter – weder politisch noch wissenschaftlich. Über den Begriff der extremen Rechten, der beide umfassen soll, versuche ich daher eine analytische Abgrenzung anzustellen, die zugleich Wechselwirkungen berücksichtigt.
Die neben der NPD derzeit führenden rechtsextremen Parteien haben, wie Sie in Ihrem Buch herausgearbeitet haben, ein unterschiedliches Verhältnis zu dem Begriff „Rechtspopulismus“. Die Pro-Parteien haben tendenziell ein positives, Die Freiheit hat ein negatives. Welches Politikverständnis steckt jeweils hinter diesen Haltungen?
Aus meiner Sicht hängen die unterschiedlichen Haltungen zum Begriff „Rechtspopulismus“ unter anderem mit dem jeweils favorisierten Strategie-Modell zusammen, von dem man sich Erfolg verspricht. Während die Pro-Bewegung eher der belgischen und der österreichischen Rechten nahesteht, lehnt sich die Partei Die Freiheit enger an das niederländische Vorbild von Geert Wilders an. Im Einzelnen bedeutet das, dass die Pro-Parteien, deren Akteure zum Teil eine Vergangenheit im Neofaschismus haben, den Begriff „Rechtspopulismus“ als positives Merkmal nutzen, um eine Distanz zur Rechten des frühen 20. Jahrhunderts aufzubauen und sich als Anwälte der kleinen Leute darzustellen. Haider beispielsweise hat die Traditionspartei FPÖ auch „auf Vordermann gebracht“ und in rechtem Sinne modernisiert. Die stark kriselnde Partei Die Freiheit hingegen kommt aus einer anderen Richtung. Ihr Gründer, René Stadtkewitz, war lange in der Berliner CDU aktiv. Auch Geert Wilders begann seine politische Karriere als Adlatus des Christdemokraten Frits Bolkestein. Den kennt man hierzulande wohl vor allem als Verfechter der Durchsetzung neoliberaler Prinzipien in der EU. Als Abtrünnige etablierter politischer Gruppierungen sind die Genannten wahrscheinlich stärker sensibilisiert für den Vorwurf des Populismus als jene, die ihn gerade als Qualitätsmerkmal betrachten. Stilbildend für diese Wilders-Linie ist, sich als bürgerliche Demokraten zu begreifen, die die Werte des Liberalismus in Stellung bringen gegen Politiker und Zuwanderer, die diese angeblich bedrohen würden. Hierbei wird jedoch der eigentlich universelle Charakter dieser Werte abgelehnt. Neu hinzugekommen ist seit Kurzem die Partei Alternative für Deutschland (AfD), in der sich stark heterogene Kräfte versammelt haben, die durch ein gemeinsames Unbehagen am Euro zusammengehalten werden. Sie in Gänze als rechtspopulistisch zu charakterisieren, würden nicht nur ihre Akteure, wie etwa ihr Kopf Bernd Lucke, ablehnen, sondern halte auch ich – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – für nicht unproblematisch. Allerdings sind die Hinweise von Alexander Häusler von der Fachhochschule Düsseldorf bezüglich rechtspopulistischer Rhetoriken auf Seiten der AfD zu beachten. Bemerkenswert ist in jedem Falle, dass die AfD das typisch rechte Bild vom angeblich drohenden nationalen Untergang, man denke hier nur an den deutschen Geschichtsphilosophen Oswald Spengler oder eben wieder an Sarrazin, nicht primär völkisch, sondern fiskalpolitisch auflädt. Dies bringt allerdings oft nicht weniger rückwärtsgewandte Folgeerscheinungen mit sich. Schaut man sich an, was im Web 2.0, also vor allem auf Facebook in den Kommentarspalten einiger AfD-Anhänger los ist, fühlt man sich schon an Goethes Zauberlehrling und die Geister erinnert, die er rief, aber nicht mehr loswird. Abzuwarten ist eben, in welche Richtung sich die eigentlich überhaupt nicht metaphysischen, sondern materiellen Interessen entspringenden Zauberbeschwörungen seitens der AfD im Bundestagswahlkampf entwickeln – oder anders gesagt, wie scharf die Rechtskurve wird.
Nun muss insgesamt festgestellt werden, dass die modernen neoliberalen Rechtspopulisten sich erfolgreich von den alten Rechtsradikalen-Klischees abgesetzt haben. Ihr Führungspersonal und ihre Identifikationsfiguren sind nicht mehr schmerbäuchige Hypotoniker mit Radau-Rhetorik. Heute sind eher smarte Businessdress-Träger mit gepflegtem Äußerem gefragt, die ein umfangreiches Body-Shaping-Programm absolviert haben. Pim Fortyn war der Prototyp dieser Spezies. Sie weisen in Ihrem Buch am Beispiel der Partei Die Freiheit kurz darauf hin, dass diese neuen Rechtspopulisten auch sehr versiert im Umgang mit „postmodernen Emanzipationswerten“ sind. Was genau meinen Sie damit – beispielsweise dass Pro Köln, wie jüngst geschehen, seine Teilnahme am Christopher Stress Day ankündigt? Und inwieweit haben die Rechtspopulisten womöglich ernsthafte emanzipatorische Bestrebungen?
Wie ich bereits erwähnte, gibt es eine Linie, die vor allem vom niederländischen Rechtspopulismus geprägt wurde und sich einer angeblichen Verteidigung liberaler Werte angenommen hat. Den Begriff der postmodernen Emanzipationswerte habe ich einer interessanten Untersuchung von dem Politikwissenschaftler Gerd Reuter zu den Niederlanden und Belgien entnommen. Das Beispiel des Versuchs von Pro Köln, am Christopher Street Day teilzunehmen, eignet sich gut zur Illustration dieses Sachverhalts und seiner Tragweite. Man versucht nun von rechts, die Fortschritte, die in der Frage der Gleichberechtigung von Homosexuellen bisher erzielt werden konnten, zu besetzen und sie als durch die angeblich rückständigen und unterpriviligierten Migranten bedroht darzustellen. Emanzipatorisch ist daran jedoch gar nichts. Das Ganze dient eher dazu zu unterstreichen, dass die Eigen-Gruppe zu „den Guten“ gehört, die angeblichen Fremden aber nicht. Eigentlich fortschrittliche Grundwerte werden als exklusiv postuliert und gelten eben nicht mehr für alle gleich. Homosexuelle Migranten kommen in einem solchen Weltbild beispielsweise überhaupt nicht vor.
Die überwältigende Mehrheit der Rechtspopulisten in Europa, die früher judenfeindliche Ressentiments verbreitet haben, distanziert sich mittlerweile vom Antisemitismus. Wie ist diese Kursänderung zustande gekommen? Ist das bloße Strategie? Welcher Zweck wird damit verfolgt?
Auch hier übernahm die Rechte in den Benelux-Staaten eine Vorreiterrolle. Den meisten dürften die Aussagen Jean-Marie Le Pens bekannt sein, der den Völkermord an den europäischen Juden zu einem bloßen Detail des Zweiten Weltkrieges erklärte und damit zu verharmlosen versuchte. Der belgische Vlaams Belang und bereits seine Vorläuferorganisation, der Vlaams Blok, haben irgendwann den begrenzten Erfolg einer solchen Politikansprache erkannt. Anfang der 2000er-Jahre waren Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Antwerpen massiven psychischen und körperlichen Bedrohungen und Übergriffen ausgesetzt. Diese schreckliche Situation gipfelte in antisemitischen Morden. Der Vlaams Belang erkannte seine Chance, schwang sich als Beschützer der Antwerpener Juden auf und nutzte so das Sicherheitsbedürfnis der Menschen aus. Als Grundproblem wurden arabische Jugend-Gangs ausgemacht. Man sollte die tatsächliche Anzahl der Wähler des Vlaams Belang mit jüdischem Glauben keinesfalls überschätzen. Das wäre Unsinn und letztlich nur eine Reproduktion des rechten Wunschdenkens. Allerdings waren sich die Akteure von rechts der Wirkung ihrer Propaganda bewusst. Andere Rechtspopulisten sind dem belgischen Beispiel anschließend gefolgt. Ob die postulierte Gegnerschaft zum Antisemitismus heute lediglich reine Strategie ist, lässt sich in vielen Fällen nur sehr schwierig feststellen. Bei einer Traditionspartei wie der FPÖ bin ich der Meinung, dass die aus dem deutschnationalen Lager kommenden Kräfte zum Teil wahrscheinlich nach wie vor antisemitischen Denkmustern verhaftet sind. Man verzichtet bei Wahlkämpfen jedoch darauf, diese zu verbalisieren. Im Falle von jüngeren Menschen, die sich vielleicht aus Enttäuschung von der Christdemokratie abwenden und zum Rechtspopulismus finden, ist der Fall, denke ich, nicht so einfach. Diese glauben vielleicht teilweise wirklich, dass Antisemitismus ein Problem ist, das sich durch die Begrenzung von Zuwanderung aus der Welt schaffen ließe. Damit hätten die Rechtspopulisten allerdings schon einen wichtigen ideologischen Erfolg errungen – sie wollen ja von den Ursachen gesellschaftlicher Missstände ablenken. Man sollte in diesem Zusammenhang jedoch auch noch erwähnen, dass für die klassisch orientierten Neofaschisten der Antisemitismus immer noch wichtig ist. Man hat ihn in diesen Kreisen als Instrument nicht aus der Hand gegeben. Die Idee einer Weltverschwörung, laut der „die Juden“ sowohl für die Misslichkeiten des Kapitalismus als auch für die sozialistischen Opposition gegen denselbigen verantwortlich sein sollen, ist dort nach wie vor virulent.
Die europäischen und US-amerikanischen Rechten treten heute offensiv für den Zionismus ein und unterstützten die israelische Besatzungspolitik. Einige befürworten sogar die endgültige Annektion der Westbank und die Vertreibung der Palästinenser nach Jordanien. Geert Wilders verkündete 2010: „Die Zukunft der Welt hängt an Jerusalem. Wenn Jerusalem fällt, dann werden Athen, Rom – und Paris, London und Washington – die nächsten sein.“ Israel scheint eine immense politische und symbolische Bedeutung für die Rechtspopulisten erlangt zu haben.
Ich denke nicht, dass man wirklich von einer Parteinahme für „den Zionismus“ sprechen kann. Der marxistische Autor Theodor Bergmann hat vor einigen Jahren einen sehr bemerkenswerten Essay zum Nahost-Konflikt verfasst. Er plädiert dort für eine Unterscheidung verschiedener Strömungen des historischen Zionismus. Mit Poalei Zion beispielsweise, also der dezidiert linken Richtung des Zionismus, haben die Rechtspopulisten natürlich nichts am Hut. Was aber auf jeden Fall stimmt – und dafür ist das Wilders-Zitat ein sehr markantes Beispiel –, ist, dass die Rechte sowohl in den USA als auch in Westeuropa zum Teil Israel als Vorposten im angeblichen „Kampf der Kulturen“ betrachtet. Das ist der ideologische Widerschein einer Geopolitik, in der ein großer Teil der Militäroperationen der NATO-Staaten und ihrer Verbündeten in islamisch geprägten Ländern stattfindet und hat meistens gar nichts mit einem Eintreten für das Existenzrecht Israels oder der Sorge um die israelische Demokratie zu tun. Israel gilt dann als Teil der oft bemühten westlichen Zivilisation, die man gegen die angebliche Barbarei in Stellung bringt. Hierbei wird verschwiegen, dass die zwei anderen wichtigen Verbündeten der westlichen Staatengemeinschaft in der Region die Türkei, die von der Erdogan-AKP – sie verficht einen „neoliberalen Islam“ – autoritär regiert wird, und das auf ganzer Linie reaktionär-monarchistische Saudi-Arabien sind. Analog zu seiner Haltung zum Antisemitismus macht der Neofaschismus dies nicht mit und agitiert gegen einen „Zionismus“, der mit dem Staat Israel gleichgesetzt wird und letztlich als Chiffre für „die Juden“ dient. Beide Strategien, also die scheinbare Parteinahme für Israel als eine Art westliches Bollwerk einerseits und klassischer faschistischer Antisemitismus in zum Teil neuen Gewändern andererseits, erfüllen jeweils spezifische Anforderungen in den derzeitigen politischen Auseinandersetzungen. Der Kurs der Rechtspopulisten entspricht eben geopolitischen Erwägungen, während die Neofaschisten ihrer Menschenfeindlichkeit einen „antiimperialistischen“ Anstrich geben, der natürlich ein Trugbild ist.
Ergänzt werden muss allerdings, dass der linke Zionismus in Israel seit Langem kaum noch eine Rolle spielt und sich die sozialistische Kibbuz-Bewegung in der Auflösung befindet – vor allem aber dass israelische Regierungen nicht wenige Anknüpfungspunkte für europäische und US-amerikanische Rechtspopulisten bieten. Bereits 2003 wurde Gianfranco Fini, ehemaliger Vorsitzender der Alleanza Nazionale, Kronprinz des italienischen Faschistenführers und Mussolini-Gefolgsmannes Giorgio Almirante, von dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon als „guter und freundlicher Anführer“ begrüßt. 2010 bereitete der damalige Außenminister Avigdor Lieberman Geert Wilders einen herzlichen Empfang. Vorläufiger Höhepunkt der Kooperation von israelischen Politikern und der europäischen Rechten war im Dezember desselben Jahres die Reise einer Delegation führender Rechtspopulisten zu der „Konferenz gegen islamischen Terror“ in Ashkelon und die Veröffentlichung der „Jerusalemer Erklärung“. Heinz-Christian Strache (FPÖ), Filip Dewinter (Vlaams-Belang), Kent Ekeroth (Schwedendemokraten) und René Stadtkewitz (Die Freiheit) durften auf der Ehrentribüne der Knesset Platz nehmen und trafen den Parlamentspräsidenten, Abgeordnete der rechten Regierungskoalition, der Schas-Partei und Liebermans Yisrael Beitenu. Im Gush-Kativ-Museum hieß sie dann noch der damalige israelische Vizepremierminister und heutige Verteidigungsminister, Moshe Yaalon, willkommen, der einen Gruß von Premierminister Netanjahu (Likud) überbrachte. Wirtschaftsminister Naftali Bennett (HaBajit haJehudi), ein Aktivist der Siederbewegung, der zumindest große Teile des Westjordanlandes annektieren will, ist ein lupenreiner Rechtspopulist. Vor diesem Hintergrund: Sind rechte Zionisten nicht ein Teil der von Ihnen beschriebenen Phänomene – besonders im Hinblick darauf, dass Rechtspopulisten seit einiger Zeit an israelischen Regierungen beteiligt sind?
Ich bin kein Experte der israelischen Politik und habe mich in meinem Buch aus verschiedenen Gründen auf Europa und Nordamerika spezialisiert. Aber von meinem Standpunkt aus betrachtet haben Leute wie Bennett oder auch andere offenkundig starke inhaltliche Überschneidungen mit dem Rechtspopulismus. Vor diesem Hintergrund haben dann auch die Gegenbesuche von nationalistischen Politikern aus Israel in Europa Sinn. Als Beispiel hierfür lässt sich die von der Pro-Bewegung im Jahr 2011 in Gelsenkirchen veranstaltete „Deutsch-Israelische Konferenz“ anführen, die eine Schimäre sondergleichen gewesen ist – schon die Namensgebung war der blanke Hohn. Die von Ihnen genannten Kontakte zwischen den Rechten in Israel und in Europa untermauern die von einigen der Akteure favorisierte Bündniskonstellation, auf die die vertiefte internationale Solidarität mit den fortschrittlichen Kräften eine Antwort sein könnte.
In den Vereinigten Staaten hat die Tea-Party-Bewegung, die den Aufstand der Eliten probt und offensiv Konzerninteressen vertritt, eine Schanierfunktion zwischen den Christian Rights und Neokonservativen (die beide auch, das sei nebenbei bemerkt, sehr eng mit dem rechten Lager in Israel kooperieren). In welchem Verhältnis stehen Rechtspopulismus und Neokonservatismus? Wo im Spektrum der Rechten sind die Neocons überhaupt einzuordnen?
Ich würde den Neokonservatismus zu allererst als eine intellektuelle Strömung betrachten, während der Rechtspopulismus eine organisierte politische Bewegung ist. Man könnte den Neokonservatismus auch als eine US-amerikanische Abteilung der Neuen Rechten bezeichnen. Die Neue Rechte lief seit den 1970ern quasi als Update über das Grundbetriebssystem der „alten Rechten“ und aktualisierte einige ihrer Inhalte. Die Ergebnisse dieses Updates wirken sich auf die einzelnen Segmente der politischen Rechten sehr verschieden aus. Man kann auf jeden Fall feststellen, dass sie eine der ideologischen Quellen des heutigen Rechtspopulismus ist. Man denke nur an den Ethnopluralismus, der im Gegensatz zum alten Wertunterscheidungsrassismus hauptsächlich die angebliche Unaufhebbarkeit kultureller Differenzen postuliert. Bei der Agitation gegen Muslime spielt das beispielsweise eine ganz wichtige Rolle. Konkret für den US-amerikanischen Fall zeigt sich, dass neokonservative Denkanstöße die Tea Party inhaltlich mit befeuern. Dies betrifft vor allem die Vorstellung, dass eine durch und durch marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaft mit traditionalistischen Verzierungen die beste aller Welten sei. Allerdings gibt es trotz der inhaltlichen Übereinstimmung auch Reibungen. Teile der Tea Party, die außenpolitisch eher isolationistisch ausgerichtet sind, fühlen sich vor den Karren der Neocons gespannt. Sie wissen aber auch nicht wirklich, wo die Reise stattdessen hingehen soll und wie ein eigenständiges Profil überhaupt aussehen könnte. Wichtig ist aus meiner Sicht, bei allem Irrationalismus, der sich einem scheinbar im Falle der Tea Party entgegenstellt, nach dem zweckrationalen Kern zu suchen, in dem sich soziale Interessen ihren Weg bahnen. Die christliche Rechte in den USA spricht sich sehr aggressiv gegen Umweltschutzmaßnahmen aus. Die Tea Party hat dieses Denkmuster aufgenommen und verbreitet es lautstark. Der Sinn erschließt sich, wenn man die großzügige Unterstützung bedenkt, die der Tea Party seitens der Öl-Industrie zukommt. Bekanntermaßen ist die Gewinnung von Öl nicht gerade umweltschonend. In einem Land, wo die Religion eine sehr große Rolle spielt, wie es in den USA der Fall ist, kleidet sich die Interessenvertretung von rechts eben auch in entsprechenden Gewändern.
Die britischen Islamwissenschafter Robert Lambert und Jonathan Githens-Mazer bescheinigen den Neocons, in den rechtspopulistischen Islamhassern und Unterstützern des „War On Terror“ – etwa der English Defence League (EDL) oder dem Bloc Identitaire – eine Massenbasis gefunden zu haben. Sie sagen, „die EDL und verwandte Organisationen recyceln neokonservative Propaganda“, wie sie beispielsweise der Bush-Berater Richard Perle oder auch Großbritanniens Ex-Premier Tony Blair verbreitet haben, und sie meinen, es sei ein „neokonservativer Extremismus“ entstanden. Ich würde noch ergänzen, dass der vorhin schon von Ihnen erwähnte Anders Behring Breivik ein Neocon-Terrorist ist – der norwegische Gewerkschafter Jonas Bals hat ihn als „neoliberalen Terroristen“ bezeichnet – und keineswegs ein Nazi, wie einige meinen, die nicht wahrhaben oder vertuschen wollen, dass die ideologische Matrix von Breiviks Anschauungen in westlichen Regierungen, Think Tanks und Stiftungen führender Parteien produziert wurde.
Mit diesen Einschätzungen kann ich inhaltlich weitestgehend d‘accord gehen, ohne jetzt im Einzelnen alle Bezeichnungen genau so zu übernehmen. EDL und Identitäre bringen Elemente der neokonservativen Ideologie in radikalisierter Form auf die Straße. Das könnte man durchaus als „Recycling“ bezeichnen. Mein bisheriger Eindruck ist, dass die Identitären jedoch stärker von der französischen Neuen Rechten inspiriert sind als vom US-amerikanischen Neokonservatismus. EDL und Identitäre haben sich auf jeden Fall beide dem Straßenaktivismus verschrieben. Sie zeigen sich auf öffentlichen Plätzen, veranstalten so oft wie möglich Marsch-Demos oder nutzen alternative Aktionsformen wie Flashmobs, die man bisher eher der politischen Linken zugeordnet hat. Eine andere Liga stellt hingegen Breivik und seine Bluttat dar. Ich würde die Frage, ob er ein „neoliberaler Terrorist“ ist, etwas differenzierter beantworten wollen. Neoliberal wäre Breivik insoweit Neoliberalismus und Rechtspopulismus Komplementärstrategien sind, wie es die Wiener Politikwissenschaftlerin Eva Kreisky einmal formuliert hat. Das Spezifikum seiner Tat sollte jedoch berücksichtigt werden. Der Neoliberalismus alleine bringt den Terrorismus noch nicht unmittelbar hervor, die ideologische Bearbeitung der ihm inhärenten Widersprüche durch die Bedienung eines Feindbilds seitens der Rechtspopulisten erleichtert dies jedoch. Ich habe es eben bereits angedeutet: Falls die Weltsicht der Rechtspopulisten als real betrachtet und die Linke darin als tatsächlich dabei behilflich wahrgenommen wird, die westliche Welt einer angeblichen Islamisierung zu unterwerfen, kann eine mögliche Konsequenz für Anhänger dieser Perzeption sein, diesen Entwicklungen Widerstand mit allen Mitteln entgegenzusetzen – selbst wenn die rechtspopulitische Parteien offiziell Gewalt als Mittel ablehnen mögen. Im Falle von Breivik ergibt sich daraus dann, wenn man so will, individueller Rechtsterrorismus. Hiermit will ich allerdings auf keinen Fall die Produzenten seiner „Matrix“, wie Sie es ausgedrückt haben, in ihrer Bedeutung geringschätzen oder gar der Einzeltäter-These das Wort reden. Wenn ich die Defence League von Breivik abgrenze, will ich damit ebenfalls nicht suggerieren, dass die Parolen der EDL nicht auch gewalttätige Konsequenzen zeitigen können.
Sie gehen ausführlich auf die Situation in Ungarn ein. Dort regiert die rechtspopulistische Fidesz-MPSZ mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Die neofaschistische Jobbik-Partei (samt diversen paramilitärischen Organisationen, die Terror gegen ethnische Minderheiten und Linke ausüben), die historisch an die nationalsozialistischen Pfeilkreuzler anknüpft, ist formal in der Opposition. Aber objektiv ziehen diese beiden Parteien an einem Strang und agieren, wie Sie herausstellen, nach dem Motto: „Wo Fidesz versagt, schreitet Jobbik zur Tat.“ Neben drastischem Demokratie- und Sozialabbau treiben sie, Hand in Hand mit dem Arbeitgeber- und Industriellenverband und rechtsgerichteten Gewerkschaften, den Korporatismus voran. Das klingt so, als sei Ungarn auf dem Weg zu einem modernen faschistischen Staat.
Ungarn entwickelt sich auf jeden Fall in Richtung eines rechtsautoritären Staates. Ob am Ende ein moderner Faschismus steht, ist noch unklar. Meiner Meinung nach sind die Spielräume der demokratischen Kräfte noch groß genug, um dies zu verhindern. Darauf hoffe ich selbstverständlich. Der Rechtspopulismus an der Macht, wenn man das so formulieren will, hat in Ungarn nicht nur immense Rückschritte sozialer und demokratischer Natur erreicht, von deren Ausmaß die Berlusconis oder Wilders auf dem Kontinent bisher nur träumen konnten – er kann sich auch auf eine verhältnismäßig wohlwollende Haltung konservativer Politiker in anderen Ländern Europas stützen. So sind alle bisherigen Versuche gescheitert, den Deutschen Bundestag zu einer deutlichen Verurteilung der Entwicklungen in Ungarn zu bewegen. Das ist für die Orbán-Regierung natürlich eine gewichtige Unterstützung. Bezeichnenderweise sieht man auf Seiten der europäischen Konservativen Orbán ja zum Teil sogar als Garanten gegen die Neofaschisten, was die Verhältnisse komplett auf den Kopf stellt. Das nationalistische Treiben in Budapest macht die Jobbik im Gegenteil sogar noch stärker gesellschaftsfähig und lässt sie, sofern sich irgendwann ein Scheitern der Fidesz-Konzeption abzeichnen sollte, als Alternative erscheinen. Das würde dann die faschistische Gefahr, nach der Aushöhlung der Demokratie durch Fidesz, in der Tat schlagartig erhöhen. Die demokratische Opposition hat es, aus meiner Sicht, bisher noch nicht vermocht, die Empörung über die Einschnitte und die Repression im kulturellen Bereich, die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die Situation der ethnischen Minderheiten und die Lage der Grundrechte zu bündeln und in einen vorwärtsgerichteten Protest zu verwandeln. Das liegt auch daran, dass man einige ihrer Parteien mit den Ursachen für wirtschaftliche und soziale Miseren verbindet, aus denen nun paradoxerweise ausgerechnet Fidesz nach Ansicht vieler Ungarn einen Ausweg zeigen soll. Erfolgreiche antifaschistische Strategien haben in der Vergangenheit jedoch stets soziale und demokratische Aspekte miteinander verbunden. Ohne Wechselstimmung und mit institutioneller Hilfe durch entsprechende Wahlrechtsänderungen ist derzeit davon auszugehen, dass Fidesz nach den Wahlen im Frühjahr 2014 weiterregieren wird. Eine Besserung der Situation im Land wäre dann weit und breit nicht in Sicht.
Beschleunigt durch die Euro-Krise, die prekäre Lage in Griechenland, Spanien und Portugal – könnten die besorgniserregenden Entwicklungen auf dem Balkan wegweisend für ganz Europa sein, oder ist Ungarn ein Sonderfall?
Beides ist im Prinzip richtig. Ungarn ist einerseits tatsächlich ein Sonderfall, da die politische Kräftekonstellation in dieser Form einmalig ist. Rechtspopulisten und Neofaschisten nebeneinander gibt es auch in bedeutendem Maße in anderen Ländern, aber eben nicht in der Stärke wie in Ungarn. Anderseits kann eine gewisse potentielle Vorbildfunktion nicht abgestritten werden. Ich teile die Einschätzung des Politikwissenschaftlers Erhard Crome, der zu diesem Thema ein interessantes Buch geschrieben hat. Er sieht Ungarn als ein Versuchslabor zur Erprobung autoritärer Antworten auf die Wirtschaftskrise. Dass sich andere etwaige Nachahmungen dann äußerlich so darstellen wie in Ungarn, ist allerdings unwahrscheinlich. EU-Kommissionspräsident Barroso hat vor einigen Jahren über die Möglichkeit von Militärdiktaturen in Südeuropa gesprochen. Auch so könnte der Versuch einer „Krisenlösung von oben“ aussehen. Eine der Hauptfragen wird in diesem Zusammenhang sein, wie sich die sozialen Auseinandersetzungen in Griechenland weiterentwickeln. Laut aktuellen Umfragen haben die griechischen Neofaschisten im Moment das Potential, drittstärkste Kraft im Land zu werden. Ihre Verbindungen zu Teilen der Sicherheitsorgane im Land sind hinlänglich bekannt und stark alarmierend. Vor diesem Hintergrund wird jedoch klar, dass die derzeitigen starken sozialen Protestpotentiale von der Puerta del Sol bis zum Taksim-Platz, vor denen die öffentliche Ordnung angeblich geschützt werden muss, gerade zu den Garanten für die Demokratie werden könnten.
Angesichts der Bestandsaufnahme und Analyse, wie Sie sie in diesem Gespräch geleistet haben: Ist die nahezu ausschließliche Fixierung – zumindest hierzulande ist die ja festzustellen – der organisierten Antifaschisten (sowie Parteien und Bewegungen, zu deren Grundsätzen die Positionierung „gegen Rechts“ gehört) auf die Bekämpfung und das Verbot der NPD, autonomer Nazi-Strukturen und völkisch-nationalistischer Ideologeme überhaupt noch historisch angemessen?
Stehen Antifaschisten heute nicht längst auch vor neuen, größeren Herausforderungen, und müssten sie nicht viel mehr auf internationaler Ebene agieren?
Der Faschismusforscher Jürgen Lloyd und ich haben vor einiger Zeit in einem Artikel für das Magazin der VVN-BdA die Auffassung vertreten, dass antifaschistisches Handeln mehr ist als die Bekämpfung einer einzelnen Ideologie. Es muss sich bemühen, all diejenigen zu sammeln, die objektiv kein Interesse an der Etablierung faschistischer Herrschaftsverhältnisse haben. Mit anderen Worten: Antifaschismus bedeutet „für die Demokratie“ – egal, was die Extremismustheorie suggeriert. Die Forderung nach einem Verbot der NPD ist dabei sehr wichtig, darin können sich die Aktivitäten jedoch nicht erschöpfen. Es ist heute also einfach so, dass die Aufgaben diverser geworden sind. Neben die Organisierung von Protesten beispielsweise gegen NPD-Parteitage tritt der Einsatz für die Rechte von Flüchtlingen. Zu der genauen Beobachtung von rechtspopulistischen Organisationen und der Offenlegung des Kerns ihrer Agitation kommt die Verteidigung von Grund- und Bürgerrechten und mehr. Angesichts dieser Vielzahl an Aufgaben, wäre auch die stärkere internationale Vernetzung sinnvoll – über das bisherige Maß hinaus. Ich stimme Ihnen also zu. Eine solche Vernetzung liegt ohnehin durch ähnliche Interessenslagen nahe und könnte, neben der grundsätzlichen Solidarität, über Ländergrenzen hinweg Erfahrungswerte für alle nutzbar machen.
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Herzlichen Dank für das ausführliche Gespräch.
* Phillip Becher: Rechtspopulismus, PapyRossa Verlag, Köln 2013