Auf dem Weg zur multipolaren Weltordnung
Das alljährliche, nunmehr 16. BRICS-Gipfeltreffen fand vom 22. bis 24. Oktober 2024 im russischen Kasan statt. Ein Blick auf die Themen und die Ergebnisse des Treffens.
BRICS ist – das sei erinnert – das Akronym aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Das erste Treffen der Präsidenten Brasiliens, Russlands und Chinas sowie des Ministerpräsidenten Indiens fand im Mai 2009 in Jekaterinburg, also ebenfalls in Russland statt; Südafrika kam 2011 hinzu. Die Gründung der BRICS-Gruppe war, wie der französische Historiker und Demograf Emmanuel Todd in seinem kürzlich erschienenen Buch über den “Westen im Niedergang” feststellte, eine Antwort auf die Verantwortungslosigkeit des Westens in der damaligen Weltwirtschaftskrise. Die Globalisierung nach dem Kalten Krieg hatte sich als “Rekolonialisierung der Welt durch den Westen entpuppt”.
Gemeinsam fordern die BRICS-Staaten seit Anbeginn, ihren Ländern mehr Gewicht in den internationalen Organisationen zu verschaffen. Dazu rechnen sie nicht nur die UNO mit ihren Spezialorganisationen und die Welthandelsorganisation (WTO), sondern auch eine Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Das blieb auf der Tagesordnung, auch wenn der kollektive Westen dies bisher weitgehend zu blockieren verstand. 2014 vereinbarten die BRICS die Schaffung einer eigenen Investitions- und Entwicklungsbank sowie eines Gemeinsamen Reservefonds (analog zu IWF und Weltbank). So wurden Alternativinstitutionen geschaffen, die diesen Ländern selbst und allen Entwicklungs- sowie sogenannten Schwellenländern zur Verfügung stehen sollen. Das hat Wirkungen in der Welt, auch wenn eine Ablösung des US-Dollars als globale Reserve- und Abrechnungswährung noch dauern wird. Präsidentin der New Development Bank mit Sitz in Schanghai ist die frühere brasilianische Staatspräsidentin Dilma Rousseff. Mit der BRICS-Gruppierung formiert sich ein Gegenpol zur westlichen Welt; sie umfasst etwa die Hälfte der Weltbevölkerung – der Westen vertritt etwa zwölf Prozent.
Im Erweiterungsmodus
Während seiner BRICS-Präsidentschaft 2022 setzte China die Erweiterung der multilateralen Strukturen auf die politische Tagesordnung. Vereinbart wurde, die formellen Voraussetzungen für eine Erweiterung der BRICS zu schaffen und gemeinsam Verfahren zu erarbeiten, um dem international stark gewachsenen Interesse an einer Kooperation Rechnung zu tragen. Das wurde auf dem turnusmäßigen BRICS-Gipfel im August 2023 in Johannesburg (Südafrika) umgesetzt. Die Liste Beitrittsinteressierter war bereits lang und erstreckte sich über vier Kontinente: Argentinien, Türkei, Saudi-Arabien, Iran, Vereinigte Arabische Emirate, Senegal, Nigeria, Algerien, Ägypten, Thailand, Indonesien, Kasachstan. Jedes dieser Länder verfügt geopolitisch in seiner Region und im Hinblick auf globale Märkte, wie den Energie- oder den Nahrungsmittelmarkt, über eigene Potenziale, mit denen die BRICS-Gruppe gestärkt wird.
Gemäß südafrikanischen Angaben hatten bis zum Sommer 2023 mehr als 40 Staaten Interesse an einer Mitgliedschaft gezeigt, 23 Staaten einen Antrag gestellt. Nach dem Gipfel in Südafrika wurden Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate in die “BRICS+” aufgenommen. Saudi-Arabien war nach seinem Antrag 2023 ebenfalls eingeladen worden, hatte seine Mitgliedschaft danach jedoch nicht formalisiert. Das Land war aber in Kasan offiziell vertreten. Argentinien hatte unter dem neurechten Präsidenten Milei seinen Antrag zurückgezogen.
In Kasan wurde die Aufnahme von weiteren 13 “assoziierten Mitgliedern” bekannt gegeben. Dies sind Algerien, Belarus, Bolivien, Indonesien, Kasachstan, Kuba, Malaysia, Nigeria, Thailand, die Türkei, Uganda, Usbekistan und Vietnam – BRICS mit diesen Erweiterungen vertritt nun die Mehrheit der Weltbevölkerung.
Insgesamt nahmen in Kasan Delegationen von 36 Ländern teil, darunter 22 auf der Ebene der Staats-beziehungsweise Regierungschefs. Wie das mit den Erweiterungen weitergeht, muss abgewartet werden. Die Differenzierung zwischen Vollmitgliedern und assoziierten Mitgliedern ist augenscheinlich beabsichtigt und gibt den ursprünglichen BRICS-Staaten die Möglichkeit, den Gesamtprozess weiter kontrollieren zu können. Der Zusammenschluss ist auch weiterhin ein Bündnis souveräner Staaten auf der Grundlage politisch-diplomatischer Zusammenarbeit, nicht eine internationale Organisation mit eigenen Institutionen, wie die EU oder die NATO. Daher bestand das Gipfeltreffen aus einem Treffen der Vollmitglieder der Gruppierung und einem der erweiterten Runde. Hier ging es um “BRICS und der globale Süden – gemeinsam eine bessere Welt aufbauen”.
In der “Kasaner Erklärung” vom 23. Oktober wurde die “Stärkung des Multilateralismus für eine gerechtere und demokratische Weltordnung” betont. Es sind “neue Zentren der Macht, der politischen Entscheidungsfindung und des Wirtschaftswachstums” entstanden, die den Weg ebnen für eine gerechtere und demokratische multipolare Weltordnung. Dies eröffnet den Schwellen- und Entwicklungsländern (EMDCs) erweiterte Möglichkeiten, die Vorzüge einer universell vorteilhaften, inklusiven und wirtschaftlich gerechten Globalisierung zu genießen. Dabei fühlen sie sich einem Multilateralismus verpflichtet, der auf den Prinzipien des Völkerrechts und der UNO-Charta beruht.
Historischer Wandel
Der Abstieg der nordatlantischen Welt und der Aufstieg der BRICS-Staaten sind zwei Seiten derselben historischen Medaille. In ihrer wirtschaftlichen Entwicklung verzeichneten die BRICS in den vergangenen Jahren höhere Wachstumsraten als die G7 und überholten diese 2020 im realen Bruttoinlandsprodukt (BIP).
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ERHARD CROME (Jg. 1951) hat am Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg studiert. 1987 Habilitation. Von 2002 bis 2016 Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Geschäftsführender Direktor des WeltTrends-Instituts für Internationale Politik, Potsdam. Der Politikwissenschaftler publizierte in Verlagen der Eulenspiegel-Verlagsgruppe mehrere Bücher.