An Aufklärung nicht interessiert
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Am 11. März 2012 ermordete der US-Soldat Robert Bales 16 Menschen in Kandahar. Nun wurde er verurteilt –
Von EMRAN FEROZ, 28. August 2013 –
Robert Bales, der mutmaßliche Verantwortliche des Kandahar-Massakers wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Für die Opfer ist das Urteil kein Grund zur Freude. Sie sehen darin weder Gerechtigkeit, noch eine vollständige Aufklärung des Falls.
Mohammad Wazir ist ein armer Bauer aus der südafghanischen Provinz Kandahar. Allerdings gibt es ein Sprichwort, das besagt, dass ein Mann gar nicht arm sein könne, solange er eine Familie um sich hat. Die Familie war auch der Reichtum Wazirs, bis ihm diese in jener Nacht genommen wurde. Es war der 11. März 2012 als ein US-Soldat in Wazirs Haus im kleinen Dorf Panjwai eindrang und fast alle Personen, die sich darin aufhielten, ermordete. Zu diesem Zeitpunkt hielt sich der Bauer bei Verwandten auf und befand sich nicht im Dorf.
Einige Zeit später erfuhr Wazir am Telefon, dass seine vier Töchter sowie sein Sohn getötet wurden. Gemeinsam mit einigen weiteren Verwandten verlor der Bauer insgesamt elf Familienmitglieder durch das Massaker. Doch das war nicht alles. Auch die geliebten Weintraubenfelder und Granatapfelbäume des Bauers wurden zerstört. „Mir wurde alles in jeder Hinsicht genommen“, sagt Wazir, dessen Urgroßvater schon Bauer am selben Hof war. Seitdem verlangt er Gerechtigkeit. Kurz nach dem Massaker wurde der blutige Vorfall von einer afghanischen Untersuchungskommission unter die Lupe gekommen. Diese kam zum Schluss, dass es sich nicht um einen Einzeltäter gehandelt haben könne. (1)
Die Ergebnisse dieser Kommission wurden unter anderem auch vor hohen Regierungsbeamten und in Anwesenheit des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai vorgetragen. Wazir und weitere Hinterbliebene aus Kandahar war anwesend und gaben ihre Aussagen ab. Immer wieder verlangten sie mit Blick auf Karzai Gerechtigkeit. Doch der Hauptverdächtige – Robert Bales – war zu diesem Zeitpunkt schon längst außer Landes. Insgeheim wusste wohl jeder, der an der Kommission teilnahm, dass man gegenüber den Vereinigten Staaten machtlos ist.
Doch die Opfer aus Kandahar verlangten bei jeder Gelegenheit nach Gerechtigkeit. Durch den Kurzfilm „Stille Nacht“ der Journalistin Lela Ahmadzai wurden die Gesichter Wazirs und anderer Hinterbliebene auch in westlichen Medien bekannt. An ihren Aussagen und bedrückenden Schilderungen hatte sich nichts geändert. Im Laufe der vergangenen Monate wurden sie mehrmals von Ahmadzai und Mahmoon Durrani, einem afghanischen Journalisten vor Ort, interviewt. (2)
Doch kaum jemand schenkte ihren Aussagen Beachtung. Die Opfer hatten weder einen offiziellen Vertreter, noch sonst irgendeine Person, die sich ernsthaft um ihre Belange kümmerte. Als der Prozess gegen Bales begann und deutlich wurde, dass er der Todesstrafe entgehen würde, waren Wazir und die anderen außer sich vor Wut.
Dann – vergangene Woche – ging der Prozess in die zweite Runde. Nun waren neun Angehörige vom Militärgericht in Seattle als Zeugen vorgeladen. Mohammad Wazir war auch unter ihnen. Er, der fast seine ganze Familie verloren und mittlerweile seinen Heimatort aus Schmerz und Trauer verlassen hat, hatte sich fest vorgenommen, vor Gericht alles zu sagen, was ihm auf dem Herzen lag.
Das passte jedoch dem Richter nicht. Er entgegnete Wazir, dass er nicht „zu viel sprechen solle“ und dass er nur zu antworten habe, wenn er gefragt wird. Ähnlich ging es den anderen Zeugen. Die Tatsache, dass mehrere Soldaten während des Massakers gesehen wurden, wurde in keinster Weise berücksichtigt. Auch die Ergebnisse der afghanischen Kommission waren nicht Thema der Verhandlung. (3)
Abgesehen davon machte ein Gerücht die Runde, das Grund zur Sorge gibt. Berichten zufolge gelang es Journalisten nicht, Wazir und die anderen Zeugen auf irgendeine Art und Weise für ausführliche Interviews zu kontaktieren. Dies lässt den Schluss zu, dass sie seitens der US-amerikanischen Behörden vollständig abgeschirmt wurden. Warum diese Maßnahme getroffen wurde, lässt Fragen offen. Möglicherweise wollte man nicht, dass „unbequeme Details“, die nicht vor Gericht angesprochen wurden, an die Öffentlichkeit kommen.
Das Kandahar-Massaker zählt zu den schlimmsten Verbrechen des Afghanistans-Krieges. Das Handeln der Amerikaner kurz nach dem Massaker sowie die jüngsten Ereignisse haben jedoch bewiesen, dass man nicht an einer vollständigen Aufklärung interessiert ist. Viel mehr wollte man das Ganze schnell hinter sich bringen. Man wollte einfach abschließen. Die Opfer und die Hinterbliebenen spielten da keine Rolle.
Da Mohammad Wazir elf Familienmitglieder verlor, wurde er mit 550 000 US-Dollar (50 000 US-Dollar pro Todesopfer) „entschädigt“. Mit diesem Geld kann er nicht seine kleinen Töchter oder seinen Sohn wiederbeleben. Alles war er wollte, war Gerechtigkeit – und diese blieb ihm verwehrt.
Anmerkungen
Abo oder Einzelheft hier bestellen
Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.
# Foto: Lela Ahmadzai
(1)http://www.hintergrund.de/201303122474/globales/kriege/ein-jahr-trauer-das-massaker-von-kandahar.html
(2)http://www.ahmadzai.eu/allgemein/stille-nacht-das-massaker-von-kandahar
(3)http://www.theguardian.com/world/2013/aug/21/staff-sergeant-robert-bales-afghanistan-massacre