Wann kommt der Brexit und wer will ihn noch?
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Nach dem Referendum vom vergangenen Donnerstag steht die Zukunft Großbritanniens in der heutigen Form auf dem Spiel
Wenige Tage nach der historischen Brexit-Abstimmung ist in Großbritannien eine Debatte über die Zukunft des Landes entbrannt. Zugleich steigt die Nervosität unter den EU-Regierungen, die heute, am zweiten Tag des EU-Gipfels, zum ersten Mal ohne britische Beteiligung zusammenkamen. Der britische Premier David Cameron hat auf dem EU-Gipfel gestern erwartungsgemäß keinen offiziellen Austrittsantrag gestellt. Solange es diesen nicht gibt, hat das Referendum keine Rechtswirkung. Cameron erklärte nun, diesen müsse ein Nachfolger stellen. Wer das sein kann, ist völlig unklar. In seltsamer Verkehrung der Positionen vor einer Woche drängen nun die EU-Regierungen und EU-Spitzenpolitiker auf einen raschen Austritt, während britische Politiker plötzlich auf Zeit spielen – auch die bisherigen Brexit-Befürworter.
Schwierige Fragen stellen sich für die Zukunft Großbritanniens überhaupt. In Schottland, wo erst vor zwei Jahren ein Unabhängigkeitsreferendum knapp gescheitert war, wächst die „Independence“-Bewegung erneut. Nicola Sturgeon, Schottlands Regierungschefin, genannt „Erste Ministerin“, versprach, Schottland in der EU zu halten. Am heutigen Mittwoch will sie mit den Spitzen des Europäischen Parlaments darüber sprechen. Ein Treffen mit EU-Ratspräsident Donald Tusk lehnte dieser (noch) ab. „Der Wille des schottischen Volkes ist es, in der EU zu bleiben“, sagte Sturgeon. Die beste Option sei die Unabhängigkeit, wenn sich herausstelle, dass diese das Beste für Schottland sei, um es in der EU zu halten. Rund 62 Prozent der Schotten stimmten vergangene Woche für einen Verbleib in der EU. Laut einer Umfrage des Instituts Survation würden nun 54 Prozent der Schotten für die Unabhängigkeit Schottlands votieren.
Auch in Nordirland kommt Unruhe auf. Der stellvertretende Erste Minister für Nordirland, Martin McGuinness von der pro-irischen Sinn Féin, erklärte bereits, nun sei die Zeit für ein Referendum über die irische Wiedervereinigung. Auch hier waren die pro-EU-Stimmen zuletzt in der Mehrheit. Wegen des jahrelangen blutigen Konflikts um eine Unabhängigkeit ist die Lage hier besonders heikel.
Von den EU-Regierungen kommt mehrheitlich Druck auf London, nun schnell den Austrittsantrag nach Artikel 50 des EU-Vertrages zu stellen. Sowohl Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sagten gestern ausdrücklich, sie halten den Austritt Großbritanniens aus der EU nach dem Referendum nun für unumkehrbar. Ähnlich Frankreichs Staatspräsident François Hollande: „Nichts ist schlimmer als die Ungewissheit“, sagte er. Die Regierungschefs der EU fürchten offensichtlich nichts so sehr wie eine jahrelange Hängepartie und darauf folgendes „Rosinenpicken“ weiterer EU-Länder.
Am Dienstag war David Cameron noch auf dem EU-Gipfel anwesend, der sein letzter gewesen sein wird. Er erklärte gestern im Ton des Bedauerns, dass Großbritannien nun das Referendum umsetzen werde, aber dazu noch Zeit brauche. Im September wird der nächste EU-Gipfel bereits ohne britische Beteiligung stattfinden.
Camerons Widersacher Boris Johnson, der für den Brexit gekämpft hatte, sieht nun plötzlich keinen Grund für Eile und würdigte Cameron ironischerweise als einen „der außerordentlichsten Politiker unserer Zeit“. Die Konservativen sind tief gespalten, ein Nachfolger für Cameron soll bis September gefunden sein. Ob es Johnson sein wird, ist völlig offen.
Auch die oppositionelle Labour-Partei wird von einer Führungskrise erschüttert. Deren Chef Jeremy Corbyn hat gestern eine Vertrauensabstimmung unter den Labour-Abgeordneten des Unterhauses verloren. Ihm wird vorgeworfen, in der Brexit-Debatte nicht energisch genug gegen einen Austritt argumentiert zu haben. Parteikenner gehen jedoch davon aus, dass es sich dabei lediglich um einen Vorwand handelt, da der dem linken Flügel angehörende Corbyn dem neoliberal gewendeten Labour-Establishment ohnehin ein Dorn im Auge ist. Corbyn wird vor allem von der Parteibasis unterstützt, die nach der Abstimmung im Unterhaus spontan über zehntausend Anhänger in London auf die Straße mobilisierte, um dem Parteichef den Rücken zu stärken. Ein Drittel der Labour-Anhänger hatte entgegen den Empfehlungen der Parteiführung für den Brexit gestimmt. Beobachter sehen Labours Bedeutung nach der unklaren Position in der Brexit-Debatte weiter schwinden. Teilweise wird dies vermutlich der Unabhängigkeitspartei UKIP zugutekommen.
Noch ist vollkommen unklar, wie und wann das Ergebnis des Referendums tatsächlich umgesetzt werden wird und wie die Europäische Union danach aussehen wird. Alte Ideen eines Europas der „zwei Geschwindigkeiten“ oder des „Kern-Europas“ leben wieder auf. Aber wie diese genau aussehen sollten, darüber hat niemand eine konkrete Vorstellung.
In Großbritannien selbst gibt es bereits Rufe nach einer Revision des Referendums. Bereits vier Millionen Mal wurde eine entsprechende Online-Petition für ein zweites Referendum unterzeichnet – allerdings können auch Nicht-Briten die Petition unterschreiben, zudem entpuppten sich bereits Zehntausende der abgegebenen Stimmen als Fälschung.
Umso interessanter ist es, darüber klar zu werden, wie es zu diesem folgenschweren Ergebnis überhaupt kommen konnte. Entgegen den Erwartungen von professionellen Beobachtern, Buchmachern der Wettbüros und Umfrageagenturen hatten 51,9 Prozent der britischen Wähler am vergangenen Donnerstag für den EU-Austritt gestimmt. Wie konnte es dazu kommen? Wer sind die 17.410.742 Briten, die dieses Ergebnis herbeigeführt haben?
Gespaltenes Land
Die statistische Analyse des Wählerverhaltens und der Vergleich mit demografischen Eigenschaften der Wahlbezirke ergibt das Bild eines gespaltenen Landes: in Alt und Jung, in gut und schlechter Ausgebildete sowie in Reich und Arm. Die Statistik zeigt, dass die radikalen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die Großbritannien seit den Umwälzungen der Thatcher-Ära erfahren hat, ihre Spuren hinterlassen haben.
Die auffälligste Spaltung ist geografisch-politisch: England (und Wales) haben mehrheitlich für den Brexit gestimmt, Schottland und Nordirland dagegen. Außerdem gibt es eine Stadt-Land-Spaltung. Vor allem die Metropole London zeigt ein deutliches pro-EU-Übergewicht, auch das Zentrum von Liverpool, während vor allem auf dem Land mit den kleineren Städten die meisten gegen die EU gestimmt haben.
Darunter kommen aber weitere Spaltungen zum Vorschein. Den deutlichsten statistischen Zusammenhang mit dem Wahlverhalten ergab das Bildungsniveau. Wo besonders viele Menschen mit höheren Abschlüssen leben, war der „Remain“-Wähleranteil deutlich höher. Das ist ein deutlicher Hinweis auf die Motivation der Brexit-Wähler: Es sind vor allem diejenigen, die sich „abgehängt“ fühlen und von den radikalen Veränderungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte nicht profitieren konnten. Es rächt sich nun, dass die politische Elite des Landes sich für die Lebensperspektiven einer großen Gruppe der Bevölkerung kaum interessiert hat.
Ein zweiter wichtiger demografischer Faktor war das Alter: Je älter die Wähler, desto häufiger wurde für den Brexit gestimmt. So stimmten rund sechzig Prozent der über 65-jährigen für den Austritt aus der EU, während in der Wählergruppe der 18 bis 24-Jährigen fast drei Viertel für den Verbleib votierten. Schnell machte der Vorwurf die mediale Runde, die Jugend sei von den Alten um ihre Zukunft betrogen worden. Doch diese Interpretation hat einen gewaltigen Haken: Es ist zwar richtig, dass es ein relatives Übergewicht der Alten in der Bevölkerungsverteilung gibt, somit mehr alte als junge Menschen abstimmen konnten. Dieser Effekt wurde noch verstärkt, weil die Wahlbeteiligung unter den Älteren auch noch überdurchschnittlich hoch war. Von den unter 24-Jährigen – und das ist der Haken – hat jedoch nur jede/r Dritte abgestimmt. Rechnet man die „Remain“-Stimmen dieser Altersgruppe auf die Gesamtheit der jungen Wahlberechtigten, also einschließlich der Nicht-Wähler, dann haben auch die jungen Leute nicht verhältnismäßig öfter für den Verbleib gestimmt, als die Alten. Wenn schon die Zukunft der Jugend in diesem Zusammenhang bemüht wird, dann lässt sich feststellen, dass sich ein Großteil der jungen Generation nicht sonderlich für diese zu interessieren scheint. Wenn überhaupt, dann ließe sich sagen, die Jungen haben sich selbst betrogen.
Auch das Einkommen spielte eine Rolle, wenngleich der Zusammenhang nicht so signifikant war wie bei den Bildungsunterschieden: In Wahlkreisen mit höheren Durchschnittseinkommen war der pro-EU-Anteil der Stimmen höher. Besonders interessant sind dabei einzelne Regionen wie etwa East London, eine vorwiegend von Arbeitern bewohnte Gegend. Traditionell hatte hier die Labour-Partei eine sichere Hochburg. In der vergangenen Unterhaus-Wahl hatte sich aber bereits mit hohen Stimmanteilen für die Unabhängigkeitspartei UKIP gezeigt, dass sich das Wählerverhalten verschiebt. Entsprechend ist das hohe Brexit-Ergebnis hier konsequent. Dagegen hat das „Remain“-Lager in den wohlhabenden Londoner Stadtteilen Kensington und Chelsea mit etwa 60:40 eine hohe Zustimmung erfahren.
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Insgesamt zeigt sich, dass die sozial abgehängten Regionen starke Neigung für den Brexit hatten: Das sind vor allem diejenigen Kleinstädte, die seit den 1970er Jahren besonders unter der Deindustrialisierung gelitten hatten. Aus diesen Gegenden hören die Beobachter viele Stimmen des Frustes und Protestes. Die nach Margaret Thatcher begonnene soziale Auflösung des Landes hat im Wahlverhalten in der Brexit-Abstimmung ihre Spuren hinterlassen.
Hier macht sich das allgemeine Gefühl des Vergessen- und Verlassen-Werdens bemerkbar. Aus diesen Regionen sind die klassischen, sicheren Industriejobs verschwunden, aber die neuen Jobs sind meist anderswo, nämlich vor allem in London entstanden. Die hohe Immigration in den vergangenen Jahren, vor allem aus Polen und anderen Ländern Mittelosteuropas, hat hier in vielen Regionen zu weiterer Verunsicherung derjenigen beigetragen, zu denen die Immigranten in Job-Konkurrenz traten. Auch hier hat sich bei den Wählern offensichtlich die Erkenntnis breit gemacht, dass ihre Sorgen und Interessen bei den meist aus der „upper class“ stammenden Regierenden auf wenig echtes Interesse stoßen.