EU-Politik

Tauwetter in den West-Ost-Beziehungen?

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Über ein spätes Eingeständnis des EU-Kommissionspräsidenten zur Ukraine-Krise in Zeiten verschärfter anti-russischer Rhetorik –

Von WOLFGANG BITTNER, 14. März 2016 –

Kürzlich war in der Wochenzeitung DIE ZEIT Erstaunliches zu lesen, was allerdings schon seit Monaten kundige, unvoreingenommene Zeitgenossen sagen: Die Ukraine sei ein „failed state“, mit anderen Worten: ein Pleitestaat, „ein marodes, kleptokratisches, von bestechlichen Bürokraten und milliardenschweren Oligarchen für ihre eigenen Zwecke ausgeplündertes Staatswesen. Die Korruption blüht. Die Justiz ist zum Handlanger der Machtmafia geworden. Der Rechtsstaat funktioniert nicht. Die Wirtschaft befindet sich im freien Fall.“(1)

Anlass zu diesem Artikel war eine Aussage des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Er hat in einer Rede in Den Haag gesagt: „Die Ukraine wird definitiv in den nächsten 20 bis 25 Jahren kein Mitglied der EU werden, und auch kein Mitglied der NATO.“(2) Nun mag Juncker für die EU sprechen; ob er aber für die NATO sprechen darf, ist sehr fraglich. Denn das „Verteidigungsbündnis“ untersteht letztlich dem Regime der USA. Und da auch die europäische Außenpolitik weitgehend von Washington gelenkt wird, bleibt abzuwarten, was aus der Erklärung des EU-Kommissionspräsidenten wird. Möglich, dass sie schon bald wieder vergessen ist, zumal die sogenannten Leitmedien kaum darauf eingegangen sind.

Jedenfalls hatten bisher weder die Kiewer Regierung und ihre Freiwilligenbataillone in der Ostukraine noch die Hardliner im US-Kongress ein Interesse daran, das Minsker Abkommen zur Beendigung des Bürgerkriegs zu erfüllen. Man muss kein Hellseher sein, um vorherzusagen, dass die Ukraine noch lange ein Krisenherd in Europa bleiben wird, der jederzeit für die imperialen Zwecke der USA aktiviert werden kann.

Insofern sind die dortigen Auseinandersetzungen nach wie vor der gefährlichste Konflikt, mit dem wir es derzeit global zu tun haben. Dort brennt eine Zündschnur, aber darüber wird kaum noch berichtet. Griechenland, Terroranschläge, der Krieg in Syrien und seit Monaten nun der Flüchtlingszustrom überlagern sämtliche anderen Probleme, die es zu diskutieren und zu lösen gälte, vor allem die immer unhaltbarer werdende Lage sowohl in der Ost- als auch in der Kiewer Westukraine.

Den führenden Politikern Westeuropas, denen ihre Medien assistieren, war diese Verdrängung unmittelbar existenzieller Probleme bisher offenbar recht. Sollte die Stellungnahme Junckers jetzt tatsächlich ein Umdenken signalisieren, wäre das ein wirklicher Lichtblick. Denn nach wie vor stehen sich in Europa zwei hochgerüstete Atommächte gegenüber, und es bedürfte nur eines Funkens, und die Situation könnte außer Kontrolle geraten. Dass der Krieg in Syrien, worauf zurzeit der Fokus liegt, den Anlass geben könnte, ist unwahrscheinlich. Denn trotz der Provokationen durch die Türkei wird sich Russland kaum auf eine Konfrontation mit dem NATO-Mitglied einlassen. Syrien ist fern, dagegen beträgt die Entfernung von Kiew nach Moskau nur 750 Kilometer. Das Konfliktpotenzial ist in Europa angelegt.

Feindpropaganda

Dementsprechend geht der Kalte Krieg Hand in Hand mit der Feindpropaganda weiter. Derzeit wird Russland – wieder einmal in der Person des verteufelten Präsidenten Putin – beschuldigt, Deutschland zu zersetzen. So titelt die Bild-Zeitung am 10. März: „‘Destabilisierung Deutschlands‘ ist das Ziel.“ (3) Und Focus meldet: „Mit Propaganda-Aktionen: Russland arbeitet an ’Destabilisierung Deutschlands‘.“ (4)Angeblich mischt sich Russland immer mehr in die deutsche Politik ein; davor warnen der Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), Guido Müller, und der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen. (5)

Wir sind ja inzwischen vieles gewöhnt, aber das ist in letzter Zeit die dreisteste und dümmste Umkehrung der Fakten, eine grobschlächtige Lügenpropaganda. Wer hat denn die Ukraine destabilisiert? Wer fährt seine Militärmaschinerie an den russischen Grenzen auf? Und wer verhängt Wirtschaftssanktionen gegen Russland mit fadenscheinigen Begründungen (Annexion der Krim, die de facto eine Sezession, eine friedliche Abspaltung nach dem blutigen Staatsstreich in Kiew war). Es gibt die Aussage der EU-Beauftragten des US-Außenministers, Victoria Nuland, vom Dezember 2013, wonach die USA mehr als fünf Milliarden Dollar in den Regime-Change in der Ukraine investiert haben. (6) Und Henry Kissinger sagte in einem Interview bei CNN, in Kiew sei das passiert, was die USA gern auch in Moskau tun würden. (7)

Die USA verfolgen seit Jahren die Strategie, Russland als Machtfaktor in der internationalen Politik auszuschalten (deswegen auch die Verteufelung Putins), und durch Wirtschaftssanktionen, Beeinflussung der Kapital- und Energiemärkte sowie durch aufgezwungene Nachrüstungskosten zu ruinieren, offensichtlich mit dem Ziel, das Land den westlichen Kapitalinteressen zu öffnen. Die mehr oder weniger verdeckte Übernahme der Ukraine als bedeutender Wirtschaftsraum und strategisch wichtiges Brückenland ist also lediglich ein Vorspiel.

Dazu schreibt der Kommentator Theo Sommer in der ZEIT: „Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, dann kann sie nicht der Vorposten des einen gegen den anderen sein – sie sollte vielmehr als Brücke zwischen ihnen dienen. (…) Die Ukraine als Objekt einer Ost-West-Konfrontation zu behandeln, hieße auf Jahrzehnte hinaus jede Chance vertun, Russland und den Westen (besonders Russland und Europa) in ein kooperatives internationales System einzubinden.“

Sommer ist der Ansicht, den Ukrainern sei zugemutet worden, „sich zu entscheiden: für Russland oder für den Westen, die EU und die Nato“. Dadurch sei das Land gespalten worden, „in den Ereignissen wurde es zerrissen“. Jean-Claude Junckers „Haager Anfall rückhaltloser Aufrichtigkeit“ komme dem „späten Eingeständnis gleich, dass dies ein schwerer Fehler war. Aus einer Kommerzfrage wurde dadurch ein strategischer Wahlzwang. Ein Interessenausgleich mit Russland wurde nie versucht. Darin aber lag der Keim der Krise.“

Immerhin! Das sind ungewohnte Töne in dem Atlantiker-Blatt. Es ist allerdings nur die halbe Wahrheit, wenn man die Langzeitstrategie der USA hinsichtlich Russland und Westeuropa berücksichtigt (dazu Zbigniew Brzezinski, „Die einzige Weltmacht“ (8) sowie George Friedman (9) und Joe Biden (10) ).Und insofern kann Junckers späte „Aufrichtigkeit“ nur der Versuch sein, eine Entspannung im Verhältnis zu Russland herbeizuführen, was verstärkt von Vertretern der europäischen Wirtschaft und inzwischen auch einigen Spitzenpolitikern gefordert wird. (11) Wenn diese Initiative ernst gemeint sein sollte, müssten sich die westeuropäischen Staaten von der Aggressions- und Imperialpolitik Washingtons unverzüglich distanzieren, bevor sich die Teilung Europas verhärtet und die Gefahr einer Katastrophe immer näher kommt.


 

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Anmerkungen

(1) Theo Sommer, Weder Russland noch Europa, Die Zeit, 8.3.2016, http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-03/ukraine-eu-nato-mitgliedschaft-5vor8
(2) A.a.O.
(3) Bild-Zeitung am 10.3.2016, http://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/bnd/russland-plant-die-destabilisierung-deutschlands-44873080,var=a,view=conversionToLogin.bild.html
(4) Focus v. 10.3.2016,http://www.focus.de/politik/ausland/geheimdienste-warnen-mit-propaganda-aktionen-russland-arbeitet-an-destabilisierung-deutschlands_id_5346979.html
(5) A.a.O.
(6) Siehe Wolfgang Bittner, Die Eroberung Europas durch die USA, Westend Verlag 2015, S. 25 i.V.m. S. 23 mit weiteren Nachweisen.
(7) A.a.O., S. 146.
(8)  Siehe Wolfgang Bittner, a.a.O. S. 146: Eurasien ist nach Brzezinski „das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird“.
(9) A.a.O. S. 147 f: Das Hauptziel der US-Außenpolitik ist nach Friedman, eine Kooperation zwischen Deutschland und Russland zu verhindern, damit sich nicht „deutsches Kapital und deutsche Technologie mit russischen Rohstoff-Ressourcen und russischer Arbeitskraft zu einer einzigartigen Kombination verbinden“.
(10) A.a.O. S. 153 f: Vizepräsident Joe Biden brüstet sich damit, dass der US-Präsident die EU-Repräsentanten dazu genötigt habe, Sanktionen gegen Russland trotz wirtschaftlicher Nachteile für die eigenen Länder zu verhängen.
(11) German-Foreign-Policy, 9.3.2016, Stimmungsumschwung in Brüssel, http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59325

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