Streit um EU-Flüchtlingspolitik eskaliert
Luxemburgs Außenminister Asselborn fordert Ausschluss Ungarns aus der EU
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Wenige Tage vor dem Treffen der 27 EU-Staats- und Regierungschefs am Freitag in Bratislava, bei dem vor allem über die Zukunft der EU nach einem „Brexit“ beratschlagt werden soll, hat Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn den Streit um die Flüchtlingspolitik der Staatenunion mit der Forderung nach einem Ausschluss Ungarns aus der EU neu entfacht.
„Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“, sagte Asselborn der Welt. Dies sei die einzige Möglichkeit, um den Zusammenhalt und die Werte der EU zu bewahren.
„Der Zaun, den Ungarn baut, um Flüchtlinge abzuhalten, wird immer länger, höher und gefährlicher.“ Ungarn sei nicht mehr weit entfernt „vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge“, sagte Asselborn weiter. Wenn das Land heute EU-Mitglied werden wollte, hätte es keine Chance, aufgenommen zu werden, so der Außenminister. Auch dem Ansehen Europas in der Welt würde dies schaden. „Typen wie Orbán haben uns eingebrockt, dass die EU in der Welt dasteht wie eine Union, die sich anmaßt, nach außen Werte zu verteidigen, aber nach innen nicht mehr fähig ist, diese Werte auch aufrechtzuerhalten“, sagte Asselborn weiter.
Hintergrund ist Ungarns Abschottung seiner Südgrenze mit Stacheldrahtzäunen gegen Flüchtlinge. Zugleich lehnt die rechts-konservative Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán beschlossene und eventuelle künftige EU-Quoten zur Verteilung von Asylbewerbern über die EU-Mitgliedsländer strikt ab.
Die Reaktion aus Budapest auf die Ausschluss-Drohung erfolgte prompt. Der ungarische Außenminister Peter Szijjarto bezeichnete seinen luxemburgischen Amtskollegen als „unernste Figur“. Asselborn habe sich „schon längst selbst aus der Reihe der ernstzunehmenden Politiker ausgeschlossen“, sagte Szijjarto nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur MIT. Man sehe, dass Asselborn nicht weit von Brüssel entfernt zu Hause ist, denn er sei „belehrend, arrogant und frustriert“, fügte Szijjarto hinzu.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier distanzierte sich umgehend von Asselborns Vorschlag und betonte, es handele sich dabei um „keine abgestimmte Haltung“. „Es ist jetzt nicht meine persönliche Haltung, einem europäischen Mitgliedsstaat die Tür zu weisen“, sagte Steinmeier am Dienstag bei einem Besuch in Lettland. „Wir müssen uns den komplizierten Debatten, die es da manchmal gibt, auch stellen.“ Er könne aber verstehen, „dass mit Blick auf Ungarn einige in Europa ungeduldig werden angesichts der fortdauernden Debatten zwischen der EU-Kommission und der ungarischen Regierung.“
Steinmeier nimmt in der lettischen Hauptstadt Riga an einem Treffen mit den Außenministern der drei Balten-Republiken Estland, Lettland und Litauen teil. Der lettische Außenminister Edgars Rinkevics bezeichnete Asselborns Vorschlag als „Megaphon-Diplomatie“. „Diese Rhetorik hilft uns nicht.“ Litauens Außenminister Linas Linkevicius verurteilte ebenfalls die Aussage seines Amtskollegen: „So radikale Statements sind nicht immer hilfreich.“
Am 2. Oktober will die ungarische Regierung ihre Flüchtlingspolitik durch eine Volksabstimmung bestätigen lassen, was in Brüssel für besonderen Unmut sorgt. „Wir haben nun die Chance, dass wir mit der Volksabstimmung die Notbremse ziehen“, sagte Orbán dazu nach Angaben des regierungsnahen Internet-Portals pestisracok.hu bei einer Veranstaltung am Wochenende. Das ungarische Beispiel könne eine Welle in Europa auslösen, so Orbán.
Mit harten Worten kritisierte er den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz. Diese seien „Nihilisten“, die die europäische Elite „okkupiert“ hätten. Die Flüchtlingskrise sei für diese Politiker „eine Schnellstraße, um das auf Nation und Christentum beruhende Europa zu zerstören“.
Auch wenn kein anderer Staatschef innerhalb der EU die Flüchtlingspolitik der Staatenunion so vehement attackiert wie Orbán, so steht er mit seiner Abschottungspolitik keineswegs allein. Ungarn ist neben der Slowakei, Tschechien und Polen Mitglied der sogenannten Visegrad-Staaten, die sich alle für einen schärferen Grenzschutz aussprechen und Verteilungsquoten ablehnen.
Berlins scheinheilige Politik
Dass mittlerweile deutlich weniger Flüchtlinge in Deutschland ankommen, ist der vor einem halben Jahr erfolgten Entscheidung zur Grenzschließung durch die Anrainer der Balkan-Route – Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien – geschuldet. Seit März hat sich die Zahl der neu registrierten Flüchtlinge auf rund zwanzigtausend monatlich eingependelt – im November 2015 waren es noch zehnmal so viele.
Im ganzen Land werden Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber geschlossen – die derzeitige Auslastungsquote liegt bei rund 35 Prozent – , in der Hauptstadt wird die Zahl für Containerunterkünfte für Flüchtlinge deutlich reduziert. Bereits im April erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts der sinkenden Flüchtlingszahlen, nun stünde die Integration der bereits eingereisten Menschen im Vordergrund. Sie sprach auch von „Fortschritten“ bei der Bekämpfung von Fluchtursachen.
Also alles unter Kontrolle? Die Bundesregierung ist jedenfalls bemüht, diesen Eindruck zu erwecken. Die sinkenden Flüchtlingszahlen schreibt sich die Bundeskanzlerin auf die eigene Fahne. Der umstrittene Deal mit der Türkei habe dies ermöglicht. Tatsächlich war es jedoch die Schließung der Balkan-Route, die „umgehend“ zum Rückgang der Flüchtlingszahlen führte, wie die EU-Grenzschutzagentur Frontex im Juni feststellte – nicht das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei.
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Die Anfang März endgültig erfolgte Schließung der Balkan-Route – Mazedonien hatte seine Grenzen zu Griechenland gerade dicht gemacht – hatte die Bundeskanzlerin noch mit den Worten verurteilt: „Das ist nicht die Lösung des Gesamtproblems.“ Sich mit den Resultaten einer Politik zu schmücken, die man selbst öffentlich verurteilt – mit dieser scheinheiligen Haltung dürfte es Angela Merkel schwer haben, die osteuropäischen Partner von einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik zu überzeugen. Asselborns Drohungen gegenüber den widerspenstigen Ungarn dürften sich auch als wenig hilfreich erweisen.
(mit dpa)