Ohne Russland kein Frieden in Europa
Der Osteuropa-Experte Alexander Rahr stellt fest, dass Deutschland in der Welt und Europa nicht mehr die erste Geige spielt. Im Interview erklärt er, was er von dem Amtseintritt von Donald Trump und der neuen Regierung Deutschlands erwartet, wie er die Chancen auf einen Frieden in der Ukraine einschätzt und wie eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung einschließlich Russlands möglich sein könnte. Mit Alexander Rahr sprach ÉVA PÉLI.

HINTERGRUND Donald Trump ist erneut als US-Präsident vereidigt worden. Er hat ein baldiges Ende des Krieges in der Ukraine angekündigt. Was erwarten Sie von ihm in dem Zusammenhang?
ALEXANDER RAHR Ich denke, eine seiner ersten Betätigungen im Amt des US-Präsidenten wird sein, ernsthaft zu versuchen, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Warum? Die US-Amerikaner stellen sich auf einen langjährigen, sehr schwierigen und vielleicht hochgefährlichen Konflikt mit China ein. Die Chinesen sind die wahren Konkurrenten der USA, nicht die Russen. Russland wird eine militärische Supermacht bleiben, aber wirtschaftlich wird es die Vereinigten Staaten nicht herausfordern können, China schon.
Bei Trump zeigt sich etwas, was aus meiner Sicht sehr positiv ist: Er ist kein Werte-Politiker, sondern Realist. Er sagt, der US-amerikanische Wohlstand darf nicht leiden. Dieser Krieg in der Ukraine geht uns nichts an, es ist ein lokaler europäischer Krieg. Er geht, anders als in Europa, nicht davon aus, dass die Russen Europa angreifen wollen. Deshalb müsse der Krieg beendet werden, weil es andere, viel schwierigere und gefährliche Schauplätze gibt.
Die US-Amerikaner unter Joseph Biden scheinen geglaubt zu haben, den Russen auch eine Falle stellen zu können, sie ins offene Messer laufen zu lassen. Es ist bewiesen, dass Washington und London die Ukraine aufgerüstet haben in dem Wissen, dass die Russen dort intervenieren. Sie waren in dem Glauben, dass die Russen dort eine herbe Niederlage erleiden werden, wie die USA in Afghanistan. Es ist heute offensichtlich, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen wird, und des- halb muss man andere Schlüsse ziehen und eine andere Politik einschlagen. Die Vereinigten Staaten haben die historische Möglichkeit, den Krieg ohne Gesichtsverlust zu beenden und Führungsmacht in der Welt zu zeigen. Unter Biden oder Harris hätten die USA eher ihre Niederlage in diesem geopolitischen Krieg anerkennen müssen.
HINTERGRUND In der Bundesrepublik wird neu gewählt, nachdem die Regierung auseinanderkrachte. Welche außenpolitische Bilanz dieser Regierung mit einer grünen Außenministerin ziehen Sie insbesondere mit Blick auf den Ukraine-Konflikt?
RAHR Insgesamt ist der Einfluss Deutschlands in der Welt aus meiner Sicht erschreckend zurückgegangen. Der Fehler ist, dass die Grünen in Deutschland zu viel Macht bekommen haben.
Dass die gesamte Außenpolitik praktisch in die Hände von Frau Baerbock und den Grünen gelangt ist, hat Deutschland überhaupt nicht gutgetan.
In der deutschen Außenpolitik fehlt es vollkommen an Realismus. Mit Baerbock an deren Spitze sind alle aufgerufen, feministische Außenpolitik zu betreiben, Minderheitenschutz zu betreiben. Das hat mit den Problemen und den Herausforderungen, vor denen wir stehen, nichts zu tun.
Außerdem finde ich es fehlerhaft zu glauben, dass der Ost-West-Konflikt zurückgekehrt ist. Der Krieg in der Ukraine ist schlimm, und Deutschland musste reagieren, musste die Ukraine verteidigen. Das ist verständlich. Aber eigentlich haben wir einen Nord-Süd-Konflikt. Die wirklichen Herausforderungen für Europa und Deutschland kommen aus dem Süden und auch aus dem Nahen und Mittleren Osten. Das wird jedoch vernachlässigt.
Die Sichtweisen auf das heutige Syrien sind erschreckend. Die Situation in Syrien wird in wenigen Monaten vermutlich so sein wie in Afghanistan oder wie in Libyen. Aber man glaubt immer noch, mit einer Scheckbuchdiplomatie mit viel Geld die Leute bekehren oder disziplinieren zu können. Inzwischen sind die Chinesen und andere Länder der BRICS viel effektiver. Meines Erachtens ist das größte Problem die Realitätsverweigerung. Man will in Deutschland die BRICS nicht verstehen, man will die multipolare Welt nicht akzeptieren. Man verlässt sich darauf, dass Deutschland weiterhin die moralische Oberhoheit über die Weltpolitik hat. Das wird irgendwann mal der deutschen Politik sehr, sehr schmerzhaft auf die Füße fallen.
Sie [die Politik] muss einsehen, dass Deutschland nicht mehr die erste Geige spielt, weder in Europa noch in der Weltpolitik.
HINTERGRUND Welche Rolle spielte die NATO-Osterweiterung, die von kritischen Beobachtern als Ursache des Konflikts gesehen wird?
RAHR
Die NATO-Osterweiterung ist die Mutter aller Probleme.
Sie war wohl aus Sicht der osteuropäischen Länder, die Teil des Westens werden wollten, nicht zu verhindern. Doch eine NATO-Osterweiterung hätte gegenüber Russland abgefedert werden müssen, indem man Russland entweder eine Mitgliedschaft in der NATO zugesprochen hätte. Oder, was viel sinnvoller und realistischer gewesen wäre, die OSZE hätte als Organisation, als dritte Säule neben der EU und NATO für Europa, gestärkt werden müssen. Es gab ganz ernsthafte Vorschläge in der OSZE, in den 90er Jahren eine Art Europäischen Sicherheitsrat zu installieren, in dem Russland permanent einen Sitz gehabt hätte. Ich bin sicher, dass es dann zu diesem Konflikt wie heute nicht gekommen wäre.
Wir haben doch alle zusammen 1990 die Pariser Charta unterschrieben, als es noch den Warschauer Pakt und die Sowjetunion gab. Der hat den Frieden gebracht in Europa für viele Jahre. Dort heißt es neben dem Postulat, dass Europa sich Richtung Demokratie entwickeln wollte, dass in Europa keine Sicherheit gegen ein anderes Mitglied der europäischen Familie betrieben werden sollte. Doch wir haben genau das von vornherein gemacht. Wir haben Russland isoliert, wir haben Russland den Platz in diesem neuen Europa, den es verdient hätte, nicht gegeben. Im Gegenteil, man hat Moskau von Anfang an nur verdächtigt, imperialistisch zu sein, weshalb die Russen nicht nach Europa gehören würden. Ich kann das bezeugen, weil ich selbst in den 90er Jahren in diesen Strukturen gearbeitet habe, in der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ (DGAP). Das war ein Trugschluss und ein Fehlverhalten von europäischer Seite, weil Russland das größte Land in Europa ist, die Russen sind das größte Volk in Europa, und ohne die kann ein friedliches Europa nicht aufgebaut werden.
Der russische Fehler war, zu wenig auf Diplomatie gesetzt zu haben, um vor allem mit ihren unmittelbaren Nachbarn eine Verständigungspolitik durchzuführen, unabhängig davon, was Lawrow und Putin heute behaupten. Russland hat keine Soft Power, keine weiche Macht demonstriert, Russland fehlt einfach diese Tradition. Wie kann es sein, dass der russische Präsident, ob Jelzin, Putin oder Medwedew, seit 1991 kein einziges Mal seinen Fuß auf baltischen Boden gesetzt hat? Man kann natürlich die Schuld bei den Balten suchen. Aber ich sehe eine große Mitschuld für diese Entwicklung auch in Moskau.
HINTERGRUND Welchen Weg zum Frieden für die Ukraine sehen Sie?
RAHR Ich sehe nur einen realistischen Weg zum Frieden, nämlich dass ein Vermittler sich einschaltet, um Putin zu Verhandlungen zu bringen. Sowohl die Türken als auch die Chinesen haben bisher in dieser Hinsicht versagt. Die EU wollte das nicht und will das bis heute nicht. Aber scheinbar will das Trump. Also muss Trump es hinkriegen, dass Verhandlungen, so wie die auf unterster Ebene damals in Istanbul 2022 geführt wurden, weitergeführt oder neu begonnen werden. Sie werden aus meiner Sicht nicht zum Vorteil der Europäischen Union oder der Ukraine enden. Die Russen werden das Territorium, das sie heute besetzen, als eigenes anerkennen. Man wird Russland dort nicht verjagen können, weder mit militärischen noch mit wirtschaftlichen Mitteln.
Das vollständige Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 3/4 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.
ALEXANDER RAHR, führender Osteuropa-Experte in Deutschland, arbeitete in US-amerikanischen, deutschen, ukrainischen und russischen Think Tanks. Heute ist er Vorsitzender der „Eurasien Gesellschaft“.