Ohne Rückfahrkarte und Alternative: Zug der Ukraine nach Westen
Eine Tagung in Berlin gab Einblicke in die Hintergründe der angestrebten und zugesagten EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Dabei standen rechtliche und wirtschaftliche Fragen im Mittelpunkt. Während die ukrainischen Teilnehmer immer wieder die vermeintlichen westlichen Werte hervorhoben, beschrieben deutsche Vertreter vor allem die handfesten materiellen Interessen.
Beim geplanten Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union (EU) geht es um vieles, aber nicht um die Interessen der Ukraine und ihrer Menschen. Es geht auch nicht um die wirkliche Unabhängigkeit des Landes. Die wird wie die anderen ukrainischen Interessen für die materiellen Interessen des Westens geopfert. Die Menschen werden dafür nicht nur aus der Geschichte des Landes, sondern viele auch aus ihrem Leben gerissen.
Worum es tatsächlich fern allen ideologischen Begleittheaters geht, zeigten die „12. Wirtschaftspolitischen Gespräche“ des Ostinstituts Wismar am Donnerstag, 4. Mai, in Berlin. „Die Ukraine auf dem Weg in die Europäische Union“ war das Hauptthema. Das 2008 gegründete Institut aus Wismar hat sich bis Februar 2022 vor allem mit den Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Russland beschäftigt. Dann geriet es ins Visier jener, die alle Verbindungen zum großen Land im Osten zerstören wollen. Nun will sich das Ostinstitut hauptsächlich mit der Ukraine und Zentralasien beschäftigen.
68 Milliarden Euro
Vor allem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Ukraine kamen nicht ohne ideologisches Beiwerk aus – bis zum mehrfachen Dank für die westliche Unterstützung einschließlich der Waffenlieferungen. Sie lieferten einen Einblick, wie sich die heutige Ukraine „selbst befreit“, um sich vollständig den Vorgaben der EU zu unterwerfen. Die Professoren, Juristen und Regierungsmitarbeiter behaupteten, dafür tue die Ukraine trotz des Krieges alles.
Dafür wird auch noch jede wirtschaftliche, geschichtliche, kulturelle und mentale Verbindung zu Russland aus den zurückliegenden Jahrhunderten gekappt. Die Veranstaltung gab einen Einblick, wie weit das geht und wie der aktuelle Stand dabei ist. Was Ivan Nagornyak online zugeschaltet dazu berichtete, waren lauter Erfolge und Anstrengungen Kiews auf dem Weg in die EU-Mitgliedschaft. Er ist stellvertretender Generaldirektor des Kiewer Regierungsbüros für die Europäische und Euro-Atlantische Integration (GOCEEI).
Auch Dirk Schübel, Sondergesandter für die Östliche Partnerschaft im Europäischen Auswärtigen Dienst, kam natürlich nicht ohne ideologisches Beiwerk aus und betonte, wie wichtig es sei, die Ukraine zu unterstützen. 68 Milliarden Euro hat die EU seit dem 24. Februar 2022 Kiew zur Verfügung gestellt, berichtete er per Videoschalte. „Das wird sicher weitergehen“, erklärte Schübel.
Zuvor hatte er wie Nagornyak das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine als Basis für deren möglichen Beitritt bezeichnet. Dieses Abkommen gab 2013 den Anstoß, dass der Konflikt um die Ukraine zwischen dem Westen und Russland offen ausbrach – bis zum heutigen Krieg. Anders als Russland forderte die EU von Kiew, sich ultimativ zwischen West und Ost zu entscheiden. Das tat der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch auf dem EU-Gipfel in Vilnius im September 2013 nicht. Dafür wurde er durch einen vom Westen geförderten Staatsstreich im Februar 2014 aus dem Amt gejagt.
Verschlossene Türen nach Osten
Auf westlicher Seite wurden Warnungen vor den Folgen der ultimativen EU-Position ignoriert. So mahnte die Politologin Katrin Böttger im Januar 2014 in einem Beitrag, „zumindest die russischen Interessen in der Region mit in Betracht zu ziehen, besser noch den Dialog mit Russland oder den Trialog EU-Ukraine-Russland zu suchen“. Geschehen ist in diese Richtung nichts. Moskau wurde stattdessen vorgeworfen, von Kiew eine Entweder-oder-Entscheidung zu fordern.
Im September 2014 wurde noch vereinbart, das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Kiew 2016 erst nach Dreiparteienkonsultationen zwischen Russland, der Ukraine und Brüssel umzusetzen. Russlands UN-Botschafter Witali Tschurkin erklärte damals, das sei „alles, was Russland gewollt hat“. Doch auch daran erinnert sich heute längst niemand mehr.
Stattdessen wurde die Ukraine im Juni 2022 von der EU als Antwort auf den russischen Einmarsch zum „Beitrittskandidaten“ erklärt. Das habe in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht „die Tür nach Westen noch weiter aufgemacht und die Tür nach Osten noch weiter zugemacht“. So schätzte das Stefan Kägebein vom Ostauschuss der Deutschen Wirtschaft auf der Veranstaltung die „klare strategische Richtung“ ein. „Der eigentliche Beitritt selbst wäre ein wichtiges politisches Signal.“
20.000 Gesetze und Vorschriften der EU
Doch dafür muss die Ukraine ihre rechtlichen Normen und Gesetze noch vollständig an die Standards der EU anpassen. Da gibt es noch allerhand zu tun, wie EU-Diplomat Schübel erklärte. Grundlage seien die „Kopenhagener Kriterien“, die Staaten erfüllten müssen, die der EU beitreten wollen. Dazu gehören im politischen Bereich institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten. Im Wirtschaftssektor müssen die Kandidaten eine „funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten“, nachweisen. Hinzu kommt dass sie das gesamte EU-Recht übernehmen müssen, den „gemeinschaftlichen Besitzstand“ (Acquis communautaire).
Konkret heißt das laut Schübel, dass die Ukraine 33 Kapitel voller Forderungen der EU erfüllen und 20.000 EU-Gesetze und -Vorschriften übernehmen muss – „150.000 Seiten, die die Ukraine in nationale Gesetzgebung umsetzen wird müssen“. Wo da die Unabhängigkeit und Souveränität des Landes bleibt, wurde auf der Tagung nicht erklärt, ebenso nicht, ob Moskau jemals Ähnliches von Kiew gefordert hat. Dem EU-Diplomaten zufolge ist die Ukraine in einigen Bereichen auf einem „guten Niveau“, so im Energiebereich, bei der Zollunion, in der Außenwirtschaft sowie in der „gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“.
Im Oktober soll ein sogenannter Erweiterungsbericht analysieren, was die Ukraine noch tun muss, um ihrem Ziel eine EU-Mitgliedschaft näher zu kommen. Laut Schübel soll es keine Sonderregelungen für das Land geben. Darauf würden auch die anderen Kandidaten wie Moldau und Georgien achten. Erst wenn die Ukraine alle Kriterien erfüllt habe, könne sie der EU beitreten. „Es wird vielleicht nicht so schnell gehen, wie die Ukrainer sich das wünschen“, dämpfte er in der Diskussion die Erwartungen.
Sterben für „europäische Werte“
Wie hoch die sind, zeigten die Aussagen der teilnehmenden ukrainischen Juristen und Wissenschaftler, die vor allem aus dem ostukrainischen Charkow kamen. Sie betonten der Reihe nach, dass alles getan werde, um die EU-Anforderungen zu erfüllen, ob beim Kampf gegen die Korruption und gegen Geldwäsche, für Rechtsstaatlichkeit, der rechtlich abgesicherten Privatisierung der Wirtschaft, der Dezentralisierung der Kommunalverwaltung und der sogenannten De-Oligarchisierung. „Die Ukraine tut tatsächlich sehr viel“, sagte Daryna Kravchuk, Rechtsanwältin und Dozentin an der Universität Kiew. „Unsere Werte sind gemeinsam, die sind gleich. Täglich büßen Ukrainer ihr Leben für diese Werte.“
Angeblich gibt es auch im Medienbereich große Fortschritte beim Anpassen an die „Werte“ der EU. Das behauptete in der Veranstaltung Yuliia Zabuha von der Nationalen juristischen Jaroslaw-Mudry-Universität Charkow. Es seien wichtige Schritte für die Pressefreiheit, die Vielfalt der Medien und deren Unabhängigkeit getan worden. Dank der De-Oligarchisierung gebe es keine Einmischung der Oligarchen in die Arbeit der Medien mehr, erklärte sie tatsächlich.
Was sie als Belege dafür anführte, so das neue, seit Ende März geltende Mediengesetz, wird allerdings von der Realität widerlegt und selbst in der EU und in der Ukraine kritisiert. Das Gesetz räume dem Nationalen Fernseh- und Rundfunkrat „und damit dem Präsidenten“ eine große Machtfülle ein, stellte dazu Bernhard Clasen in einem Beitrag für das Medienmagazin „M“ fest. Laut dem Vorsitzenden der ukrainischen Journalistengewerkschaft Sergiy Tomilenko enthalte das Gesetz „Instrumente von Zensur“ und sei eine Bedrohung der Informationsfreiheit.
Ignoranz gegenüber der Realität
Was für Kiew „ein großer Schritt in Richtung EU“ ist, die auch eine Medienreform fordert, ist aber selbst für ein Blatt wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) „eher ein Rückschritt“. Für den Europäischen Journalistenverband enthalte das Gesetz „viele Bestimmungen, die den europäischen Werten zuwiderlaufen“. Ricardo Gutierrez, der Generalsekretär des Verbandes, habe es sogar als „der schlimmsten autoritären Regime würdig“ bezeichnet.
Doch das kümmerte vor allem die ukrainischen Teilnehmer der Veranstaltung in Berlin wenig, die immer wieder betonten, ihr Land kämpfe für europäische Werte und brauche weiter jede Unterstützung. Es geht eben vor allem gegen Russland und alles Russische, wie Jura-Professorin Zabuha bestätigte. Nach ihren Worten dürfen Personen aus dem „Aggressorland“ keine Medien oder entsprechende Lizenzen in der Ukraine mehr besitzen. Auch die Inhalte werden kontrolliert: Niemand dürfe mehr die Ereignisse in der Ostukraine als „Bürgerkrieg“ oder das, was der Staat macht, „falsch“ darstellen. Und natürlich nicht die „Sichtweise des Aggressorlandes“ wiedergeben.
Aussagen in der Veranstaltung zum Recht in der Wirtschaft und zur Privatisierung des bisherigen Staatssektors in der Wirtschaft gaben einen interessanten Einblick darin, wem das nutzt. Vitali Pashkov, ebenfalls von der Universität in Charkiw, schilderte nicht nur, dass der Energiesektor noch vom Oligarchen Renat Achmetov dominiert wird. Während die Bundesregierung die deutschen Atomkraftwerke abschalten ließ, hätten die ukrainischen Atommeiler bereits Strom in die EU, auch nach Deutschland, geliefert.
Im Pharmaziesektor der Ukraine gehört laut Pashkov der deutsche Konzern Bayer zu den zehn größten Lieferanten für die Apotheken. Wenn die Gesetzgebung an die EU-Normen angepasst wird, gibt es ein Problem: Bayer verkaufe vor allem Nahrungsergänzungsmittel an die ukrainischen Apotheker, so der Jurist. Das sei im Gegensatz zu Deutschland möglich, weil dieser Bereich bisher nicht so streng reguliert sei. Die Ukraine werde ihre Gesetze ändern, versprach Pashkov und fragte: „Was geschieht dann mit diesen Lieferungen?“
Weichenstellungen für westlichen Profit
Was aus dem ukrainischen Staatseigentum wird, zeigte der Charkiwer Jura-Professor Volodymyr Emelianenko am Beispiel der Eisenbahn des Landes. Er erinnerte daran, dass im Januar 2020 in Davos eine Vereinbarung zwischen der Deutschen Bahn (DB) und der staatlichen ukrainischen Eisenbahn JSC Ukrsalisnyzja (UZ) unterzeichnet wurde. Laut Emelianenko soll in der Folge die UZ aufgespalten werden. Nur die Infrastruktur solle in ukrainischer Hand bleiben.
Die DB werde alles übernehmen, was auf den Schienen fährt, den Passagier- und den Transportbereich: „Wir planen jetzt, die Züge unter die Verwaltung der Deutschen Bahn zu überstellen.“ Dabei geht es nach dem Juraprofessor vor allem darum, „die europäische Erfahrung der entwickelten Länder mit einer stabilen Demokratie“ zu übernehmen. Dazu gehört, dass die bisherige aus der Sowjetunion stammende Spurweite 1520 Millimeter des ukrainischen Schienennetzes von etwa 23.000 Kilometern Berichten zufolge auf das schmalere EU-Maß von 1435 Millimeter geändert werden soll. Damit wolle sich die Ukraine „von dem Aggressor trennen und den Transport in den Westen erleichtern, von dem sie nun besonders abhängig ist“, heißt es.
Einer der anwesenden Gäste mit viel Hintergrundwissen schüttelte ob der EU-Euphorie den Kopf und meinte, das habe er schon seit Jahren bei vielen Veranstaltungen gehört. Doch die verkündeten Ziele würden weiter unerreichbar bleiben. Als Beispiel nannte er die Eigentumsfrage: Die Ukrainer würden es sich auf Dauer nicht gefallen lassen, dass fremde Konzerne und Investoren ihr Land in Besitz nehmen und unter sich aufteilen.
Dagegen lobte Wirtschaftsvertreter Kägebein die „klare strategische Orientierung Richtung Westen“, die viele Jahre nicht sicher gewesen sei. Damit würden aber diejenigen ukrainischen Unternehmen ihr Geschäftsmodell verlieren, die bisher an Russland orientiert waren. Für die westlichen und deutschen Unternehmen sei neben dem „politischen Signal Beitritt“ wichtig, dass sie sich praktisch in dem Land ungehindert bewegen können – entsprechend den EU-Regeln. Der ausgebaute Handel zwischen der Ukraine und der EU zeige, „dass die Arbeit sich lohnt und Ergebnisse zeigt“.
Klare westliche Interessen statt Werte
Die Erfahrungen der bisherigen EU-Osterweiterung zeigten; „Wenn die Perspektive einer Mitgliedschaft klar ist, fangen die Unternehmen verstärkter an, sich mit diesen Ländern und Märkten und Standorten zu beschäftigen.“ Immer mehr deutsche Unternehmen würden Chancen für rentable Geschäfte (Business Case) in der Ukraine sehen und „aus dem Modus des Abwartens herauskommen“, so Kägebein, ohne genaue Zahlen zu nennen. Sie würden das Land zunehmend als Standort für Produktion und als Markt wahrnehmen. Das sei trotz des Krieges seit über einem Jahr der Fall.
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Was der Vertreter des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft sagte, bestätigte am deutlichsten, worum es beim Beitritt der Ukraine zur EU geht: Der Westen will die Ukraine endgültig aus ihren jahrhundertealten Verbindungen mit Russland herausreißen und seinem Einflussgebiet unterordnen. Das hat vor allem wirtschaftliche Gründe: Das Land ist für den Westen als Rohstofflieferant – bis zum Weizen von der fruchtbaren Schwarzerde –, als Absatzmarkt und als verlängerte Werkbank sowie als Arbeitskräftereservoir für westliche Konzerne interessant. Und nicht zu vergessen: als Aufmarschgebiet und Raketenstandort vor allem für die USA gegen Russland.
Offiziell heißt es, die Ukraine werde im Kampf um ihre Unabhängigkeit gegen Russland unterstützt. Es gehe um die Souveränität des Landes. Von der „Dekolonisierung“ ist gar die Rede, der vermeintlichen Befreiung aus der kolonialen russischen Vorherrschaft. Westliche Intellektuelle behaupten allen Ernstes, „im Osten wird die Freiheit des Westens verteidigt“. Jene, die meinen, es gehe in der Welt um Moral und Werte wie Demokratie und Menschenrechte, steigern sich ungebremst in ihren Furor – bis zum Abschied vom Wert Frieden. Das alles ist, ganz offen und ehrlich gesagt, hohles Geschwätz, an das vielleicht noch jene glauben, die es von sich geben, und jene, die die Hintergründe und Zusammenhänge nicht kennen und erkennen. Und jene in der Ukraine, die lieber auf den in Gang gesetzten und immer schneller fahrenden Zug Richtung Westen aufspringen, als zurückbleiben und vor verschlossenen Türen Richtung Osten stehen zu müssen.