Die Europäische Union könnte ihre eigene politische Zukunft riskieren
Die sich für den Westen verschlechternde militärische Lage in der Ukraine und der zunehmende Rückzug der USA aus diesem Krieg haben eine Situation entstehen lassen, in der die Europäische Union nun aufgerufen ist, eine Führung bei der Lösung dieses Krieges zu übernehmen.
Wohl zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hätte somit die EU die Möglichkeit, unabhängig von geopolitischen Überlegungen der USA, das Schicksal Europas in einer so entscheidenden Frage wie Krieg und Frieden auf europäischem Boden in eigener Verantwortung mitzubestimmen.
Man sollte erwarten, dass sich hier die EU und ihre Mitglieder aus ihrem ureigensten Interesse heraus als das europäische Friedensprojekt beweisen würden, als welches es bei seiner Gründung einmal gedacht war. Erschreckenderweise ist dem aber nicht so. Im Gegenteil! Während sich im US-amerikanischen politischen Establishment Rufe nach Verhandlungen mit Russland verdichten, gehen regierende Politiker der EU und fast aller ihrer Mitgliedsstaaten genau den umgekehrten Weg und verfangen sich in immer schrilleren Kriegsaufrufen und immer irrationaleren und sinnloseren militärischen Drohgebärden. Die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung der dem Krieg zugrunde liegenden Probleme wird dabei nicht einmal in Erwägung gezogen.
Die große niederländische Zeitung NRC, die wie auch die etablierten deutschen Medien bisher eine Befürworterin der Fortsetzung des Krieges war, publizierte vor einigen Tagen warnend einen Bericht unter dem Titel „Die Niederlande rutscht schlafwandelnd in einen neuen Weltkrieg hinein“. Eine solche Warnung gilt sicherlich auch für die gesamte EU. Riskiert eine politische Elite in der EU aus einem falschen Selbstgerechtigkeitsgefühl heraus Europas Niedergang?
Die Vereinigten Staaten verabschieden sich vom Ukrainekrieg
Seine diesjährige Rede zur Lage der Nation begann US-Präsident Joseph Biden wieder einmal damit, der Ukraine seine uneingeschränkte Unterstützung zu versichern. Nur dieses Mal blieben es leere Worte. Viel entscheidender waren wohl zwei andere Bemerkungen in seiner Rede: Zum einen betonte er, dass er in keinem Falle amerikanische Soldaten in den Krieg auf ukrainischen Boden schicken werde und dass nur die Ukraine Russland stoppen könne. Wie die Ukraine das nach zwei Jahren eines bereits mit einem hohen ukrainischen Blutzoll und Zerstörungen ihres Landes bezahlten Krieges tun soll, hat Biden nicht erwähnt, auch nicht, wie die Unterstützungen der USA aussehen würden. Es ist daher gut zu verstehen, warum die Frau des ukrainischen Präsidenten die Einladung Präsident Bidens, bei seiner Rede demonstrativ im US-Kongress zu sitzen, ablehnte. Die Ukrainer – und insbesondere Präsident Wolodymyr Selenskyj – müssen sich von den USA verraten fühlen.
Denn während ukrainische Streitkräfte immer stärkere Verluste hinnehmen müssen, hatten die USA schon seit sechs Monaten ihre finanziellen und militärischen Unterstützungen für die Ukraine weitestgehend eingestellt. Im US-Repräsentantenhaus gibt es keine Mehrheit mehr dafür. Auch in dem mit Bidens Rede fast gleichzeitig verabschiedeten US-Notbudget für die kommenden sechs Monate wird eine Unterstützung für die Ukraine mit keinem Wort erwähnt. Dieses Notbudget überbrückt den US-Haushalt bis kurz vor den Präsidentschaftswahlen, in denen inzwischen ein Donald Trump die besseren Chancen hat, erneut Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Von allem, was wir von ihm wissen, könnte er über die Köpfe der Ukrainer und auch über die Köpfe der Europäer hinweg mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Ende des Ukraine-Krieges aushandeln.
Und es ist nicht nur Trump, auch im politischen Anti-Trump-Establishment der USA hat sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass dieser Krieg für die Ukraine nicht mehr gewonnen und nur noch über Verhandlungen – ohne Vorbedingungen – mit Russland gelöst werden kann. So hat die aussenpolitisch einflußreiche Zeitschrift Foreign Affairs gerade einen Leitartikel von Samuel Charap (RAND Corporation) und Jeremy Shapiro (European Council on Foreign Relations) unter dem vielsagenden Titel „How to pave the way for diplomacy to end the war in Ukraine“ publiziert. Bereits im Januar hatte Foreign Affairs einen Artikel von Shapiro und Michael Kimmage unter dem Titel „The Myths That Warp: How America Sees Russia—and Vice Versa: How Mutual Misunderstanding Breeds Tension and Conflict“ veröffentlicht.
Das Washingtoner Quincy Institute veröffentlichte im Februar dieses Jahres einen Artikel von George Beebe und Anatol Lieven unter dem Titel „The diplomatic path to a secure Ukraine“. In diesem Artikel schreiben sie sogar, dass Waffenstillstandsverhandlungen überaus dringlich für die Ukraine wären, da „der Krieg zu keiner stabilen Pattsituation an der Front, sondern zu einem Kollaps der Ukraine führen würde“. Bereits im letzten Jahr hatten Richard Haass (damals noch Präsident des US Council on Foreign Relations) und Charles Kupchan, einer der einflussreichsten US-amerikanischen außenpolitischen Berater der Regierung, in ihrem Artikel „The West needs a new strategy for Ukraine: from the battlefield to the negotiating table“ für eine Verhandlungslösung appelliert. Auch General Mark Milley hatte bereits im letzten Jahr, damals noch als der amerikanische Generalstabschef aller US-Streitkräfte, wiederholt davor gewarnt, den Krieg fortzusetzen, und vorgeschlagen, mit Waffenstillstandsverhandlungen zu beginnen.
In diesem Zusammenhang muss auch der unerwartete Rücktritt von Victoria Nuland als Unterstaatssekretärin für politische Angelegenheiten des amerikanischen Außenministeriums gesehen werden. Mit ihr verlässt eine der Hauptverantwortlichen für die desaströs gescheiterte US-Politik der Ausweitung der NATO in die Ukraine und Georgien und eine der lautstärksten Anti-Russland-Advokaten die politische Bühne Washingtons. Ihr größter intellektueller Beitrag zur Diplomatie bestand wohl in ihrer Aussage „Fuck the EU“.
Die Europäische Union reagiert kopflos auf den Ukraine-Krieg
Dies hätte die Stunde der Europäischen Union sein sollen, indem sie gerade jetzt Verantwortung übernimmt, um einen friedlichen Weg aus dem Ukrainekrieg aufzuzeigen. Es waren doch ungelöste Konflikte in Europa, die die Menschheit bereits zweimal in Weltkriege versinken ließ. Das sollte Europa nicht wiederholen. Denn trotz allem Gerede von einer Zeitenwende darf das nicht von den ungeheuerlichen Gefahren ablenken, die vom Ukraine-Krieg erneut vom europäischen Boden für die Menschheit ausgehen.
Und doch ist heute die Sprache des Krieges das Einzige, was die Mehrheit der europäischen Regierungen und die etablierten Medien verbindet. Dennoch gibt es keine gemeinsame EU-Strategie zum Ukrainekrieg, keine gemeinsamen Vorstellungen darüber, was man wie erreichen könne. So erklärte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk, dass Europa bereits im Vorkrieg, ja vielleicht schon im Krieg sei, und Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson forderte schwedische Familien dazu auf, sich auf einen Krieg vorzubereiten. Der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fällt nichts anderes ein, als immer mehr Gelder, mehr Waffen und mehr Munition sowie eine Umstellung Europas auf eine Kriegswirtschaft zu fordern. Sogar ein Kanzler Olaf Scholz, dem wir immerhin verdanken, die Entsendung von Taurus-Raketen bisher verhindert zu haben, spricht nur davon, dass Russland den Krieg nicht gewinnen darf. Wäre es nicht sinnvoller, wenn er und seine europäischen Kollegen darüber nachdenken, wie ein Frieden in Europa wiederhergestellt werden könnte?
Wie verbissen und unversöhnlich die EU-Haltung zu Russland weiterhin ist, wird insbesondere in Deutschland an den jeweiligen Entschließungsanträgen der Regierungs- und Oppositionsparteien im Bundestag zum 2. Jahrestag des Ukrainekrieges deutlich. Diese Anträge lesen sich eher wie deutsche Kriegserklärungen an Russland, in denen zum Teil höchst fragwürdige Argumente mit unrealistischen Maximalforderungen und gleichzeitigen Drohungen verbunden werden. Für Kompromisse ist kein Platz gelassen. Jeder Versuch von Verhandlungen wird so von vornherein unmöglich gemacht. Nach zwei Jahren Krieg kommt das einer Realitätsverweigerung gleich. Es ist eine Politik des Festhaltens an einer Weiterführung des Krieges, wohlwissend, dass es keine realistische Hoffnung auf einen ukrainischen Siegfrieden geben wird.
Das dürfte auch erklären, warum sich einzelne EU-Mitgliedsländer in einer Art Hilflosigkeit in unverantwortlichen Aktionismus stürzen. Dazu gehören Frankreichs Vorschläge, NATO-Truppen in die Ukraine entsenden zu wollen, und Pläne, in Moldau französische Einheiten zu stationieren, während in Deutschland politische Hardliner wieder einmal an Wunderwaffen glauben und darauf bestehen, „Taurus“-Raketen der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Solche Pläne scheinen undurchdacht und damit potenziell brandgefährlich zu sein. Sie beruhen auf einer Selbstüberschätzung. Denn die EU verfügt weder über die militärischen Möglichkeiten noch über die Unterstützung in der Bevölkerung, um sich auf solch abenteuerliche Unternehmungen als Einzelstaaten oder als Gemeinschaft einzulassen. Am Kriegsverlauf würden sie sowieso nicht viel ändern, aber zu einem weiteren Töten und Zerstören in der Ukraine führen.
Hingegen laufen derartige Pläne Gefahr, zu einer Eskalation des Ukraine-Krieges zu führen, die sich letztlich zu einem gesamteuropäischen oder sogar einem nuklearen Krieg entwickeln könnte. Wenn ein französischer Präsident dazu meint, dass solche Überlegungen nur Feigheit wären und uns deutsche Grüne Politiker erklären, dass es ein nukleares Risiko gar nicht gäbe und wir Moskau ruhig angreifen könnten, spielen sie mit unserer aller Überleben. Und wofür? Nur weil wir uns nicht eingestehen wollen, dass nur noch Verhandlungen diesen Krieg beenden können.
Die EU könnte am Ukraine-Krieg zerbrechen
Im besten Fall macht sich die EU mit ihrer Ukraine-Politik nur unglaubwürdig; im schlechtesten Fall könnte die EU an dieser Ukraine-Politik zerbrechen. Während die politischen Eliten der EU uns weiterhin weismachen wollen, dass dieser Krieg mit immer stärkeren Waffen oder gar mit einer direkten militärischen Intervention noch zu gewinnen sei, verlieren sie die Unterstützung einer wachsenden Mehrheit der europäischen Bevölkerung und damit an Bodenhaftung und Glaubwürdigkeit. Durch die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Krieges könnten sich immer mehr Menschen europafeindlichen Parteien zuwenden.
Auch wird die Zeit in einer anderen Hinsicht knapp für die EU. Denn schon in einigen Monaten könnte sich das politische Verhältnis zu den USA durch einen Präsidenten Trump dramatisch verändern. Es gibt erhebliche Unterschiede dazu unter den EU-Mitgliedsstaaten, und es ist zu befürchten, dass ein politischer Erdrutsch in den USA die EU-Mitgliedsstaaten eher spalten wird, als sie näher zusammenzubringen. Mit ihrer kompromisslosen Pro-Krieg- und Anti-Russland-Politik wird sich die EU auch weiter von den meisten Nicht-NATO-Staaten in der Welt isolieren. Dort wird es kein Verständnis dafür geben, weiterhin militärisch zu eskalieren und gleichzeitig Verhandlungen ohne Vorbedingungen mit Russland zu verweigern.
Mit dem jetzt eingeschlagenen Weg, ausschließlich auf eine militärische Lösung und Sanktionen zu hoffen, wird die EU scheitern. Die Europäische Union braucht also aus eigenem Interesse dringend einen Strategiewechsel, der auf eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung hinauslaufen muss, die auch die Ukraine und Russland einschließt. Die Wahlen zum Europäischen Parlament wären daher eine Gelegenheit für uns Europäer, einen solchen Strategiewechsel herbeizuführen, indem wir am 9. Juni für Frieden wählen.
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Die Autoren
Michael von der Schulenburg war ehemaliger Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen und hat über 34 Jahre in vielen Kriegsgebieten der Welt in leitender Funktion in VN-Friedensmissionen gearbeitet.
Hans-Joachim Funke ist emeritierter Professor der Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und Autor von „Ukraine – Verhandeln ist der einzige Weg zum Frieden“. (Berlin 2023)