EU-Politik

Massensterben im Mittelmeer: Farce statt Tragödie

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Von SEBASTIAN RANGE, 20. April 2015 –

In der Nacht zum Sonntag ist erneut vor der Küste Libyens ein Flüchtlingsschiff gekentert. Von über neunhundert Toten ist die Rede. Laut der Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, Carlotta Sami, ist es das „schlimmste Massensterben, das jemals im Mittelmeer gesehen wurde“. Täglich sterben Menschen im Mittelmeer auf ihrer Flucht nach Europa. Für Schlagzeilen sorgen dabei nur noch die sich in erschreckender Regelmäßigkeit ereignenden Katastrophen, bei denen auf einen Schlag hunderte Menschen ertrinken.

Wieder einmal sprechen Europas Politiker nun von einer „Tragödie“, die sich nicht wiederholen dürfe. Wieder einmal ist von einem „Versagen“ der EU-Politik die Rede. Und wieder einmal dreht sich der Streit darum, ob die Europäische Union Mittel bereitstellen soll, um den Flüchtlingen zu helfen, oder ob diese nicht besser in eine rigorosere Grenzabschottung investiert werden sollten, die die Flucht über das Mittelmeer weiter erschwert. Dabei entsteht der Eindruck, dass nicht das massenhafte Sterben der „Verdammten dieser Erde“ das eigentliche Problem sei, sondern dass diese es „wagen“ im Mittelmeer, und damit vor der Haustür der Europäischen Union, zu krepieren – und die Bewohner der „Festung Europa“ daran erinnern, dass die Politik des Westens für massenhaftes Elend mitverantwortlich ist. Letzteres wird in der nun wieder entfachten Flüchtlingsdebatte von fast allen Beteiligten konsequent ausgeblendet. Dabei liegt es auf der Hand, dass die westliche Interventionspolitik der letzten Jahre, ob in Libyen oder Syrien, massiv zur Verschärfung der Flüchtlingskrise beigetragen hat.

Stattdessen bietet das Unglück vor der libyschen Küste Anlass für eine Neuauflage der Debatte um eine Reformierung der Einwanderungspolitik. So fordert der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz , eine neue Flüchtlingspolitik in Europa. „Wir können nicht an dem Symptom weiter herumdoktern, sondern müssen erkennen, dass wir ein Einwanderungsgebiet sind und eine legale, geordnete Einwanderungspolitik benötigen“, sagte er dem Kölner Stadt-Anzeiger. Einwanderungsgesetzte orientieren sich jedoch am ökonomischen Bedarf der Zielländer, nicht an der humanitären Not, die Menschen veranlasst, ihre Heimat zu verlassen. Am Massensterben im Mittelmeer würden sie kaum etwas ändern.

Kein Mandat zur Menschenrettung

Dazu bedürfte es zunächst umfangreicher Seenotrettungsmaßnahmen. Um das weitere Sterben im Mittelmeer zu verhindern, nannte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier als ersten möglichen Schritt eine Verbesserung der Seenotrettung. „Das, was wir brauchen, ist eine offene Diskussion ohne Tabus, was Politik, was die Europäische Union in diesen Zeiten ausrichten kann“, sagte er. „Ganz schnelle Lösungen“ werde es aber sicherlich nicht geben.

Dabei bietet sich eine solche „schnelle Lösung“ geradezu an: Die Wiederaufnahme des Seenotrettungsprogramms „Mare Nostrum“. Dieses war von Italien auf eigene Initiative im Oktober 2013 ins Leben gerufen worden. Laut Angaben des European Council on Refugees and Exile gelang es der italienischen Marine, im Rahmen des Programms rund 140 000 Menschen zu retten. (1) Nach einem Jahr wurde Mare Nostrum eingestellt – Italien wollte das Programm nicht länger alleine finanzieren, viele EU-Partner, allen voran Deutschland, wollten sich an den Kosten nicht beteiligen.

Stattdessen wurde am 1. November 2014 die Operation „Triton“ ins Leben gerufen. Sie dient jedoch nicht der Seenotrettung, sondern der Grenzsicherung – ihr Einsatzgebiet beschränkt sich entsprechend auf die italienischen Hoheitsgewässer, und sie ist der EU-Grenzagentur FRONTEX unterstellt. Für eine Koordinierung von Seenotrettungseinsätzen habe die Operation Triton „weder das Mandat noch die Ressourcen“, erklärte FRONTEX vor Monaten nach einer Anfrage des ARD-Magazins Report Mainz. (2)

Mare Nostrum wurde ein Ende gesetzt, weil die Initiative ihre Aufgabe, Menschenleben zu retten, zu erfolgreich umgesetzt, und damit das Risiko, bei der Flucht über das Mittelmeer zu sterben, erheblich gesenkt hatte. Aus diesem Grund intervenierte Bundesinnenminister Thomas de Maizière im September 2014 mit einem Schreiben an die zuständige EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström, in dem er forderte, Mare Nostrum durch ein Programm zu ersetzen, dass vornehmlich der Rückführung von Flüchtlingen, und nicht deren Rettung, dient. Je größer das Todesrisiko, desto geringer die Bereitschaft, die Flucht anzutreten, so das zynische Kalkül der Bundesregierung.  

Vergangene Woche bezeichnete de Maizière Mare Nostrum gar als „Beihilfe für das Schlepper-Unwesen“. Grünen-Chefin Simone Peter nannte das den „Gipfel der Unmenschlichkeit“. „Wenn die Rettung von Menschen aus dem Mittelmeer Beihilfe für Schlepper ist, dann macht sich die Feuerwehr der Beihilfe für Brandstifter schuldig“, sagte sie gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung. Der Fraktionschef der Linken, Gregor Gysi, bezeichnete das Ende von Mare Nostrum als  „katastrophal und absolut inhuman“. Die Linke fordert ebenso wie die Grünen eine Neuauflage des Seenotrettungsprogramms.

Bekämpfung der Schlepper statt der Ursachen

Als Konsequenz aus dem massenhaften Sterben drängt die Bundesregierung auf einen verstärkten Einsatz der EU gegen Schlepper-Organisationen.  Die „Bekämpfung der Schlepperbanden“ sei ein „zentraler Punkt“, so de Maizière, der auf eine stärkere internationale Zusammenarbeit setzt. „Bei Europol haben wir eine eigene Ermittlungsgruppe eingerichtet, wo wir erste Erfolge sehen. Wir dürfen und werden es nicht dulden, dass diese Verbrecher aus bloßer Profitgier massenhaft Menschenleben opfern.“ (3)

Der Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration (IOM), William Swing,  pflichtet dem Vorhaben bei, gegen diejenigen vorzugehen, die Profite mit Flüchtlingen machen: „Menschenschmuggler müssen verhaftet und bestraft werden.“ Aber im Unterschied zur Bundesregierung will die IOM den Kampf gegen die Schlepper durch die Errichtung sicherer Fluchtkorridore ergänzt sehen. Zudem müsse Menschen aus Kriegsgebieten wie Syrien sofort ein zeitweiliger Schutzstatus gewährt werden, sagte Swing in einem Interview mit CNN.

Doch der Kampf gegen die Schlepper ist nichts anderes als Symptombekämpfung. Noch dazu sollte gerade denen, die wie die Bundesregierung zu den Verfechtern der Marktwirtschaft zählen, bewusst sein, dass da, wo es eine massive Nachfrage nach dieser „Dienstleistung“ gibt, und exorbitante Profite locken, sich auch immer Menschen finden werden, die trotz aller Gesetzesverschärfungen und polizeilichem Maßnahmen diesem Geschäft nachgehen werden, wie unmoralisch das auch immer sein mag.   

Längst hat sich Fluchthilfe zu einem milliardenschweren Markt entwickelt. Wenn nun in diesem Zusammenhang von Sklavenhandel die Rede ist, sei an den Ausspruch von Karl Marx über die „Kühnheit des Kapitals“ erinnert, wenn entsprechender Profit lockt: „Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.“ Inzwischen werden nicht nur mafiöse Menschenhändler mit dem Vorwurf der Schlepperei konfrontiert. Wie ein Schiffsoffizier, der anonym bleiben möchte, gegenüber Hintergrund berichtete, sei es kaum noch möglich, Flüchtlinge auf hoher See legal aufzunehmen.

„Verantwortlich ist der Kapitän des Schiffes, der mit Problemen mit den Behörden rechnen muss, wenn er Flüchtlinge aufnimmt, mit Kriminalisierung als ,Schlepper‘, mit Ermittlungen und langwierigen Untersuchungen. Er steht vor der Wahl, sie in einer Notsituation zu ,übersehen‘ oder sie irgendwie wieder loszuwerden, sprich, an Land zu schleusen oder über Bord zu werfen – bei Glück in Landnähe, oder aber mit Mordvorsatz. Sind die Flüchtlinge erst einmal an Bord, kosten sie Geld, und oft genug müssen die Flüchtlinge dann bezahlen oder alles abarbeiten.“ (4)

Handelsschiffe haben im vergangenen Jahr rund vierzigtausend Flüchtlinge aus Seenot gerettet – die EU wälzt die Seenothilfe damit praktisch auf private Reedereien ab, die längst überfordert sind. So berichtete der Hamburger Reeder Christopher E.O. Opielok gegenüber der Nachrichtenagentur dpa, dass allein sein kleines Unternehmen mit fünf Schiffen seit letzten Dezember rund 1500 Flüchtlinge aus untergehenden Booten gerettet hat – und viele andere nicht retten konnte. „Unsere Besatzungen sehen die Menschen sterben; sie ertrinken vor unseren Augen oder erfrieren an Bord“, sagt Opielok. Viele der Seeleute seien am Ende ihrer Kraft und suchen sich einen anderen Job. „Wir sind auf die Rettungseinsätze nicht eingerichtet“, so Opielok. Die Schiffe fahren mit zwölf Mann Besatzung und nehmen teils mehrere Hundert Flüchtlinge auf. Es fehlt an Platz, Sanitäreinrichtungen, Proviant, Medizin, Essen und Trinken und erster Hilfe.

„Unsere Seeleute und die italienische Küstenwache leisten großartige Arbeit, indem sie täglich Flüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten“, sagt Ralf Nagel, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Verbandes Deutscher Reeder. „Die Reedereien treffen Vorsorge, etwa durch zusätzlichen Proviant, Decken und Medikamente an Bord. Aber das Ausmaß der Flüchtlingskatastrophe ist so dramatisch, dass unsere Seeleute an ihre körperlichen und psychischen Grenzen stoßen.“ Die EU-Regierungschefs müssten mehr staatliche Rettungsmittel einsetzen und schnellstmöglich Lösungen finden, um des Flüchtlingsstroms über das Mittelmeer Herr zu werden.

Mit Soldaten das Elend „vorverlagern“

Doch die EU bevorzugt eine andere „Lösung“. Die Grenzschutz-Agentur FRONTEX möchte entlang der nordafrikanischen Küste Auffanglager einrichten, damit Flüchtlinge erst gar nicht in See stechen können. Auch dieses Vorhaben wird ebenso wie die Ablösung von Mare Nostrum durch Operation Triton von der Bundesregierung vorangetrieben. Mit Auffanglagern in Nordafrika „könnten wir die Entscheidung vorverlagern, ob ein Grund existiert, Asyl zu beantragen, oder nicht“, begrüßte de Maizière im Dezember die Pläne.

Die Einrichtung von Auffanglagern setzt jedoch halbwegs funktionierende staatliche Strukturen vor Ort voraus, weshalb diese Pläne kaum zu einer Entschärfung der Situation beitragen werden: Laut Angaben der italienischen Regierung kommen neunzig Prozent der Flüchtlinge aus beziehungsweise über Libyen ins Land – und dort herrscht Chaos.

Vor fast genau einem Jahr sprach Italiens damaliger Innenminister Angelino Alfano davon, dass sein Land „unter stärkstem Flüchtlingsdruck aus Libyen“ stünde. „Die Ankunft von Booten reißt nicht ab, und der Notstand wird immer größer.“ Alfano verwies seinerzeit auf Schätzungen, wonach etwa dreihundert- bis sechshunderttausend Flüchtlinge davor stünden, in Afrika abzulegen. Geändert hat sich seitdem nichts, außer dass Schätzungen zufolge die Anzahl der Fluchtbereiten auf mittlerweile eine Million Menschen angestiegen ist.

Es ist eine Entwicklung mit Ansage: Im März 2011 warnte Libyens damaliger Machthaber Muammar al-Gaddafi Europa vor solchen Flüchtlingsströmen, sollte er gestürzt und sein Land weiter destabilisiert werden. Doch zu diesem Zeitpunkt wurde er im Westen nicht mehr Ernst genommen. Im Gegenteil unterstellte die westliche Propaganda, Gaddafi selbst würde hunderte Afrikaner in kleine Boote stecken lassen, um sie nach Europa zu schicken. Mit massiven Bombardements hat die NATO in den Folgemonaten Libyen ins bis heute anhaltende Chaos gestürzt und damit Nordafrika und die Sahelzone destabilisiert – und so den Grundstein für das gegenwärtige Flüchtlingsdrama gelegt, das mit der forcierten Destabilisierung Syriens in den Folgejahren noch massiv verschärft wurde.

Außenminister Steinmeier erklärt, es müsse nun darum gehen, die Verhältnisse in Libyen zu stabilisieren. Angesichts der Realitäten vor Ort kommt es reinem Wunschdenken gleich, wenn Steinmeier jetzt dafür plädiert, in Libyen eine „Regierung der nationalen Einheit“ etablieren zu wollen. (5) Nun, wo das von ihnen selbst mitproduzierte Elend in Libyen nicht mehr „vorverlagert“, sondern vor den Küsten Lampedusas zum Vorschein kommt, interessieren sich plötzlich auch die Regierungsvertreter der NATO-Staaten dafür. Dabei produziert das seit dem Sturz Gaddafis in Libyen vorherrschende Elend und Chaos in den hiesigen Medien schon lange keine Schlagzeilen mehr.

In den Chefetagen der EU denkt man nun mit gewisser Wehmut an die Zeiten des libyschen Diktators zurück, der mit harter Hand gegen Flüchtlinge vorgegangen war, die von Libyen aus nach Europa zu gelangen versuchten. „Er hat aber in unserem Sinne dort gewisse Regeln organisiert und Verfahren dort abgewickelt. Jetzt haben wir ein Chaos mit Milizen“, sagte EU-Kommissar Günther Oettinger am Montag.

Immerhin hat Oettinger damit indirekt den auf die Fluchtursachen hinweisenden Bezug  zwischen der westlichen Politik und dem Flüchtlingselend hergestellt. Es wäre allerdings verfehlt, dem CDU-Politiker einen grundsätzlichen Sinneswandel zu unterstellen: „Wir müssen die Kraft aufbringen, mit Entwicklungshilfe, aber auch militärisch mehr zu tun, dass eine gewisse Ordnung für die Durchführung von Asylbewerberverfahren vor Ort auch glaubwürdig erscheint.“ Die Forderung, nun mittels Soldaten „eine gewisse Ordnung“ dort herzustellen, wo die NATO das Chaos herbeigebombt hat, steht beispielhaft für eine Politik der Symptombekämpfung, die von den Fluchtursachen nichts wissen will, zu denen sie selbst beigetragen hat.  

So könnte die EU dem Export der von ihr subventionierten Agrarprodukte nach Afrika einen Riegel vorschieben, die die Märkte dort überschwemmen, und mit deren Dumpingpreisen die Bauern vor Ort nicht konkurrieren können, und wodurch ihnen die Lebensgrundlage entzogen wird. Das wäre eine Maßnahme, die wirklich dem Kampf der Fluchtursachen dienen würde. Aber was wiegt schon das Elend der afrikanischen Landbevölkerung gegenüber den Profitinteressen europäischer Konzerne? Und so wird es nicht lange dauern, bis EU-Regierungsvertreter nach der nächsten Katastrophe im Mittelmeer erneut mit Krokodiltränen in den Augen die „Tragödie“ beklagen, die sie selbst mitverursacht haben.

In Anlehnung an einen Ausspruch des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, wonach sich alle großen geschichtlichen Tatsachen sozusagen zweimal ereignen, schrieb Karl Marx einmal, was Hegel dabei vergessen habe, zu erwähnen: „Das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.“


 

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Anmerkungen

(1) http://www.ecre.org/component/downloads/downloads/929.html
(2) http://www.swr.de/-/id=14222608/property=download/nid=233454/97yq24/index.pdf
(3) http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/04/2015-04-19-fluechtlingsunglueck-mittelmeer.html
(4) Siehe Hintergrund Heft 2/2015, Matthias Rude, „Globalisierung und Migration – Die Erben der Enterbten“
(5) http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/04/2015-04-19-fluechtlingsunglueck-mittelmeer.html

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