„Immer für ein Drama gut“
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Der Brexit kommt nicht völlig überraschend, sagt Wolfgang Kemp im Interview mit Hintergrund. Der Kunsthistoriker war viele Jahre lang Professor an der Universität Hamburg und hat heute eine Gastprofessur an der Leuphana Universität Lüneburg. Er ist Autor vieler bekannter Bücher über Kunst und Architektur und ein hervorragender Kenner Englands. Zuletzt schrieb er Foreign Affairs. Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland 1900–1945. Hanser Verlag, München 2010.
Herr Kemp, wie haben Sie heute auf die Nachricht vom Brexit reagiert?
Meine erste Reaktion war: Das Insel-Klischee zu bemühen. Es hat ja eine reale Grundlage. In England entstand der Kapitalismus, die moderne industrielle Arbeitsorganisation, es gab wichtige Erfindungen im 19. Jahrhundert und Großbritannien war nicht zuletzt die größte Kolonialmacht der Welt. Erst zum Ende des Zweiten Weltkrieges begriffen die Briten, dass ihr Imperium zerbrochen war. Danach war der wirtschaftliche Einbruch gewaltig. England hatte wirtschaftlich eine härtere Nachkriegszeit als Deutschland, der Kriegsverlierer.
Mit welchen Konsequenzen für heute?
Das betrifft ein weiteres Klischee, das der angeblich coolen, zurückhaltenden Nation. Das stimmt nicht, das ist vollkommen falsch. England war immer für ein Drama gut. Es hatte nicht nur den größten Dramatiker – Shakespeare – überhaupt aufzuweisen. Seine Geschichte ist auch ein einziges großes Drama, auch Politik ist Drama. Es ist immer viel passiert, Krisen und große Aufschwünge.
Was bedeutet das für die englische Gesellschaft?
Auch die Gesellschaft ist in einer Form extrem, die uns fremd ist. Die Privatisierungswelle ist dort viel weiter gegangen als in Deutschland. Das Hochschulwesen basiert fast völlig auf privater Finanzierung. Studenten bezahlen ihr Studium fast vollkommen selbst. Privatisiert sind sogar Bereiche wie Blutspenden und die Bewährungshilfe von entlassenen Gefangenen. Die Engländer waren und sind extrem, in dem, was sie tun. Letztlich muss das Ergebnis des Referendums daher nicht verwundern.
Welche Rolle spielt denn die Geschichte dabei?
Die Geschichte prägt massiv. England hat eine libertäre Tradition, die wir auf dem Kontinent so kaum kennen. Die reicht bis ins 17. Jahrhundert und sogar noch früher zurück. Der Kampf um Freiheitsrechte hat eine lange Tradition, darauf kann sich jeder Brite bis heute immer berufen. Die Brexit-Entscheidung ist daher wirklich nicht zufällig. Sie war eine Protest-Entscheidung, aber der Protest konnte sich auf reale Traditionen berufen.
Haben denn auch englische Klischees gegenüber den Deutschen eine Rolle gespielt?
Das Verhältnis zu den Deutschen ist natürlich sehr klischeebelastet. Bis heute gibt es im englischen Fernsehen täglich Filme, in denen die Deutschen typischerweise sehr schlechte Rollen spielen. Ganze Fernsehgesellschaften leben davon. Aber man sollte sich doch fragen: Macht das wirklich so viel aus? Das hat vermutlich keine wahlentscheidende Rolle gespielt. Etwas anders sind die Zeitungen.
Inwiefern?
Der Zeitungsmarkt funktioniert in England grundlegend anders als hier – davon machen wir uns hier keine Vorstellung. Während die Bild-Zeitung in Deutschland den Briten den Verbleib in der EU ironisch damit schmackhaft machte, das Wembley-Tor nachträglich anzuerkennen, sind englische Zeitungen unglaublich aggressiv, exzentrisch, schrill und oft menschenverachtend. Der Wettbewerb dieser Zeitungen um Leser oder Follower ist gewaltig. Die Folge ist ein sehr lauter Journalismus, in dem Zeitungen ständig Kämpfe gegeneinander ausfechten. Sie haben eine lange Tradition im Niedermachen und Verächtlichmachen anderer. Diese Mechanismen kamen auch in der Zeit der Brexit-Kampagne zum Einsatz. Dass diese Zeitungen in der Mehrheit für den Brexit waren, spielt sicher eine Rolle. Hinzu kommt: England ist bis heute eine Klassengesellschaft. Die untere soziale Klasse wird von diesen Medien bedient, während die upper class ihre eigenen Blätter liest. Das ist sehr stark getrennt.
Ist der Brexit als auch Ausdruck des Misstrauens gegen ausufernde und für den Bürger unverständliche Regelsysteme zu verstehen, wie sie für die EU typisch geworden sind?
Das spielt sicher auch eine Rolle. Die Engländer haben eine viel größere Vorliebe für ad-hoc-Entscheidungen, sichtbar im common law, dem Prinzip, dass das Recht sich durch Gerichtsentscheidungen immer weiterentwickelt. Ein französischer EU-Beamter wurde einmal mit der Bemerkung gehört: „Schön und gut, aber funktioniert das auch in der Theorie?“ Das ist für einen Engländer eine absurde Frage, selbst als Witz. Der Freiheitswille des Engländers und seine Gewohnheit, Dinge ad hoc nach gesundem Menschenverstand zu entscheiden, sind sehr stark.
Ist die Brexit-Entscheidung dann also primär als Drama, aus der Lust am Extremen um seiner selbst willen zu erklären?
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Teilweise, aber natürlich spielt auch die lange libertäre Tradition der Engländer eine große Rolle. Diese Tradition prägt inhaltlich die Politik. Daher kommt es, dass sich Großbritannien mit der Einordnung in eine Gruppe wie die Europäische Union schwer tun musste. Der Unabhängigkeitswille ist einfach zu groß.
Das Interview führte Hubert Beyerle.