Griechenland: eine Warnung an die europäischen Arbeiter
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Von MARIUS HEUSER, 10. Dezember 2009 –
"Der reißende Strom wird gewalttätig genannt. Aber das Flussbett, das ihn einengt nennt keiner gewalttätig", schrieb Brecht in dem Gedicht Über die Gewalt. Mit Blick auf die jüngsten Proteste und Ausschreitungen in Griechenland muss man feststellen, dass sich das Flussbett im Laufe des letzten Jahres deutlich verengt hat. Seit Schüler und Studenten im Dezember letzten Jahres ihrem Unmut zu Zehntausenden Luft machten, haben sich ihre Lebensbedingungen und Zukunftsaussichten nur verschlechtert.
Die über 10. 000 bewaffneten Polizisten, die in Athen zusammengezogen wurden, um die Proteste zu ersticken und gegen Demonstranten vorzugehen, sind nur der bildliche Ausdruck der Brutalität, mit der die herrschende Elite auf der ganzen Welt ihre Privilegien in Zeiten der Wirtschaftskrise verteidigt. Die Ereignisse in Griechenland sind deshalb für alle klassenbewussten Arbeiter in Europa und international von größter Bedeutung.
Angesichts des drohenden Staatsbankrotts greift die Europäische Union in die griechische Politik ein und diktiert ein drakonisches Sparprogramm. Die Brüsseler EU-Beamten stellen die griechische Regierung unter Kuratel, setzen "für einen bestimmten Zeitraum" die nationale Haushaltssouveränität außer Kraft und schränken grundlegende demokratische Rechte ein.
Die sozialdemokratische PASOK-Regierung übernimmt die Aufgabe, dieses Brüsseler Diktat gegen Arbeiter und Jugendliche mit aller Brutalität durchzusetzen. Dabei stützt sie sich auf die Gewerkschaften und die direkte oder indirekte Unterstützung der sogenannten linken Parteien.
Die griechische Entwicklung nimmt damit vorweg, was in ganz Europa stattfinden wird. Die europäische Finanzelite nutzt die EU-Institutionen, um die Politik einzelner Länder zu bestimmen, demokratische Rechte auszuhebeln und die ganze Last der Wirtschaftskrise auf die Bevölkerung abzuwälzen.
Aufgrund der starken Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen hat die internationale Wirtschaftskrise in Griechenland sehr rasche Auswirkungen gezeigt. Die Staatsverschuldung erreicht Rekordwerte und löst bereits Sorgen über die Stabilität des Euro aus. Die Nachricht von Regierungschef Papandreou, dass das diesjährige Haushaltsdefizit voraussichtlich 12,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen wird, hat dazu geführt, dass wichtige Ratingagenturen Griechenland deutlich herabgestuft haben. Fitch stufte das Land von A- auf BBB+ und erhöhte damit stark die Zinsbelastung des griechischen Staates. Laut Schätzungen könnte das Haushaltsdefizit nur aufgrund der wachsenden Zinslast bis 2010 auf fast 125 Prozent des BIP ansteigen. Ein Staatsbankrott ist nicht auszuschließen.
Diese Situation wurde durch die Bereicherungsorgien der griechischen Eliten noch verschärft. Die sozialdemokratische PASOK wie die konservative Nea Dimokratia (ND) haben den Eliten durch Privatisierung von Staatsbetrieben, Vetternwirtschaft und Korruption Milliarden zugespielt. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International rangiert Griechenland innerhalb der EU auf dem vorletzten Platz und wird nur noch von Polen übertroffen.
Für die Bevölkerung blieb schon vor der Wirtschaftskrise kaum etwas übrig. Bereits 2007 lebte jeder fünfte Grieche unter der Armutsgrenze von gut 4.000 Euro Jahreseinkommen. Etwa 20 Prozent der Schulabgänger finden gar keinen Job. Für Bildung werden nur 2,5 Prozent des BIP ausgegeben.
Nun soll das horrende Staatsdefizit auf Kosten der Arbeiter reduziert werden. Die herrschenden Eliten in Griechenland sind bis aufs Mark korrupt und erwiesen sich bisher als unfähig, die von Brüssel verlangten Sparmaßnahmen durchzusetzen. Nun übernehmen die EU-Institutionen ganz direkt die Kontrolle über die griechischen Staatsfinanzen. Sie tun dies in direkter Absprache mit den europäischen Großbanken und der internationalen Finanzaristokratie.
Obwohl Ministerpräsident Papandreou angekündigt hat, das Staatsdefizit 2010 durch rigide Sparmaßnahmen bei Pensionen und Gehältern der öffentlich Beschäftigten auf 9,1 Prozent zu senken, deutet alles darauf hin, dass die EU vorhat, weitaus tiefere Einschnitte durchzusetzen.
Der EU-Finanzministerrat, der bereits im Frühjahr ein Defizitverfahren gegen Griechenland eingeleitet hatte, erhöht systematisch den Druck gegenüber der griechischen Regierung. Im Januar nächsten Jahres muss der griechische Finanzminister Giorgos Papakonstantinou der Brüsseler Kommission einen detaillierten Plan zur Konsolidierung der Staatsfinanzen vorlegen. Auch die europäische Zentralbank (EZB) wird sich auf ihrer Sitzung am 17. Dezember mit Griechenland beschäftigen. Die EZB könnte den griechischen Geldhäusern die Möglichkeit verweigern, griechische Staatsanleihen als Sicherheiten für Kredite zu hinterlegen und den Staat damit weiter unter Druck setzen.
Viele Kommentare in Politik und Medien machen klar, wohin die Reise geht. So schreibt die Financial Times Deutschland: "Die EU sollte sich bereit erklären, ihr strauchelndes Mitglied zu stützen, wenn dieses im Gegenzug einen von Brüssel diktierten Konsolidierungskurs bedingungslos akzeptiert. Der griechische Staat müsste dafür für einen begrenzten Zeitraum seine Haushaltssouveränität aufgeben. Das wäre bitter für die Griechen, aber auch dringend notwendig, wenn die EU und ihr Stabilitätspakt noch einen Funken Glaubwürdigkeit behalten sollen."
Die EU-Institutionen sollen also als Vertreter der Finanzelite die Politik der Mitgliedsstaaten diktieren und für sie die Haushaltsplanung übernehmen. Gewählte Regierungen, Demokratie, Rücksicht auf die Bevölkerung: all das ist schädlich für den notwendigen Konsolidierungskurs. Der Umgang mit dem griechischen Staatsdefizit ist eine Warnung an alle europäischen Arbeiter: die herrschende Elite ist bereit, die grundlegenden demokratischen Rechte auszuhebeln, um die Kosten der Krise der Bevölkerung aufzubürden.
Die rechts-konservative ND-Regierung unter Kostas Karamanlis war in einem solchen Ausmaß von Korruption und Skandalen geprägt, dass sie nicht in der Lage war dem wachsenden Widerstand von unten, der sich vor einem Jahr in massiven Jugendprotesten entlud, entgegenzutreten. Die Neuwahlen im Oktober dienten dazu, PASOK zurück an die Macht zu bringen. Die Hoffnung der Eliten war, dass es den Sozialdemokraten eher gelingen würde, die Bevölkerung in Schach zu halten
Aus eigener Kraft kann PASOK diese Rolle aber nicht spielen. Auch sie hat sich in ihren fast 30 Regierungsjahren bereits gründlich diskreditiert. Sie braucht die Schützenhilfe diverser Gruppierungen, die sich als links bezeichnen, wie die Griechische Kommunistische Partei (KKE), die Grünen und die Radikalen Linken (Syriza). Ihre Rolle besteht darin, dem abgehalfterten bürokratischen Apparat der PASOK neues Leben einzuhauchen. Unaufhörlich betonen diese Gruppen, dass PASOK gegenüber der Nea Dimokratia das kleinere Übel sei und erklärten sich teilweise sogar zu einer Koalitionsregierung bereit.
Unterstützt wird die Papandreou-Regierung auch von den beiden großen Gewerkschaftsverbänden GSSE und ADEDY. Diese sind bereit, die sozialen Einschnitte mitzutragen und in den Betrieben durchzusetzen. Sie haben die griechischen Arbeiter schon häufig betrogen und frühere Regierungen bei der Privatisierung von Staatsbetrieben oder Sozialabbau unterstützt.
Das aggressive Vorgehen der Regierung gegen soziale und demokratische Rechte zeigt sich auch in ihren Angriffen auf die jüngsten Demonstrationen. Der Befehl an die Polizei laute, "Null Toleranz" zu zeigen. Seit (letzten, Anm. Red.) Sonntag wurden bereits 784 Demonstranten festgenommen.
Arbeiter und Jugendliche in Griechenland sind aber nicht nur mit der griechischen Staatsgewalt, sondern direkt mit den EU-Institutionen und der europäischen Finanzelite konfrontiert. Diese werden im Land von einer geschlossenen Front aus Parteien, radikalen Gruppen und Gewerkschaften vertreten, die fest entschlossen ist, jeden Widerstand zu brechen.
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So sehr die Proteste und Ausschreitungen auch aus den gesellschaftlichen Widersprüchen erwachsen, so wenig enthalten sie eine Lösung. Sie bieten keine Perspektive, sondern sind der radikalste Ausdruck der Perspektivlosigkeit. Die PASOK lässt sich eben so wenig wie die ND von Protesten unter Druck setzen. Sie fungieren als Handlanger der Finanzelite.
Quelle: wsws