Europas Militärapparat
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Von JÜRGEN WAGNER, 28. Januar 2016
Mit beeindruckender Deutlichkeit umriss die Bertelsmann Stiftung bereits im Jahr 2003 die wesentlichen Komponenten einer künftigen „Weltmacht Europa“ mit folgenden Worten: „Im Szenario Supermacht Europa wird das große Europa seinem objektiven Weltmachtpotential gerecht. Die Europäische Union nutzt ihre materiellen und institutionellen Ressourcen in vollem Umfang. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Bevölkerungszahl, militärisches Potential und das europäische Wertesystem bieten ihr eine beachtliche Handlungsbasis. […] Im Ergebnis einer Abtretung nationaler Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten an die EU entwickelt sich die Union zu einem umfassenden globalen Sicherheitsakteur. Die Etablierung einer Sicherheits- und Verteidigungsunion und vor allem der Aufbau der Vereinten Europäischen Strategischen Streitkräfte (VESS), die sich unter einem gemeinsamen europäischen Oberkommando des Atomwaffenpotentials Frankreichs und Großbritanniens bedienen können, verändern die internationale Rolle der EU. […] Die Supermacht Europa verabschiedet sich endgültig von der Idee einer Zivilmacht und bedient sich uneingeschränkt der Mittel internationaler Machtpolitik. […] Die sich stetig in Richtung einer Supermacht Europa entwickelnde Europäische Union erweist sich als ein äußerst offenes System, das auch im Prozess der Staatswerdung fähig ist, neue Mitglieder aufzunehmen. Damit ist die EU global das einzige System, das territorial kontinuierlich expandiert.“(1)
Sowohl der Aufbau der EU-Militärkapazitäten als auch die Ausweitung der Einflusszone wurde in den Folgejahren in einem erschreckenden Tempo in Angriff genommen. Allerdings setzten die diesbezüglichen „Fortschritte“ stets die Übereinkunft der großen Drei – Deutschland, Frankreich und Großbritannien – voraus. Das nassforsche Auftreten der Bundesregierung im Zuge der Eurokrise hat dabei zur Folge, dass die Spannungen mit Paris und London spürbar zugenommen haben, was auch beträchtliche Auswirkungen auf den EU-Militarisierungsprozess hat.
Weltmachtanspruch und imperialer Großraum
Großspurige Plädoyers, die EU müsse endlich ihrer Bestimmung gerecht werden und sich zu einer veritablen Großmacht aufschwingen, sind mittlerweile zum festen Bestandteil der europäischen Strategiedebatte geworden. So äußerte sich etwa Martin Schulz, der Präsident des EU-Parlaments: „Europa ist, ob es will oder nicht, ein ‚global player‘. Die EU ist der größte und reichste Binnenmarkt der Welt, unsere Wirtschaftskraft macht ein Viertel des globalen Bruttosozialproduktes aus. Die EU ist der weltweit größte Handelsblock, der weltweit größte Geber von Entwicklungshilfe – die EU ist ein Wirtschaftsriese. Globale wirtschaftliche Macht geht Hand in Hand mit weltpolitischer Verantwortung – diesem Auftrag kann sich Europa nicht entziehen. Europas Partner erwarten – zu Recht –, dass Europa sich dieser Verantwortung stellt und aus der Wirtschaftssupermacht auch eine weltpolitische Supermacht wird.“ (2)
Um dieses ambitionierte Ziel erreichen zu können, wird allerdings eine Expansion des EU-Einflussgebietes als zwingend notwendig erachtet, wie unter anderem Radek Sikorski, bis 2014 polnischer Außenminister, betont: „Wenn die EU eine Supermacht werden will – und Polen befürwortet dies –, dann benötigt sie die Kapazitäten, um Einfluss in der Nachbarschaft auszuüben.“(3) Hierfür wurde bereits frühzeitig der EU-Osterweiterungsprozess auf den Weg gebracht, in dessen Folge die Europäische Union von 15 auf mittlerweile 28 Länder anwuchs. Seit dem Jahr 2004 existiert darüber hinaus die Europäische Nachbarschaftspolitik, die sich von Nordafrika bis zum Kaukasus auf 15 Länder rund um die EU erstreckt. Mit ihr wird auf eine „Expansion ohne Erweiterung“ abgezielt, indem die Nachbarländer zwar neoliberal umstrukturiert und einer großeuropäischen Wirtschaftszone peripher angegliedert werden – allerdings ohne reale Beitrittsperspektiven.
In diesem Nachbarschaftsraum erhebt die Europäische Union mittlerweile offen den Anspruch, als „Ordnungsmacht“ notfalls auch militärisch die Vormacht ausüben zu können. Ganz offen erklärte beispielsweise im Jahr 2013 die damalige EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton in einem Strategiepapier: „Das neue Augenmerk der USA für die asiatisch-pazifische Region ist eine logische Konsequenz der geostrategischen Entwicklungen [Anm.: des Aufstiegs Chinas]. Dies bedeutet auch, dass Europa mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit und die seiner Nachbarschaft übernehmen muss. […] Die Union muss in der Lage sein, als Sicherheitsgarant – mit Partnern so möglich, autonom wenn nötig – in ihrer Nachbarschaft entschieden zu handeln, dies schließt direkte Interventionen ein. Strategische Autonomie muss sich zuerst in der Nachbarschaft der Europäischen Union materialisieren.“(4)
Militärmacht Europa
Nicht nur zur Kontrolle des Nachbarschaftsraumes und ganz generell zur direkten Durchsetzung strategischer und/oder ökonomischer Interessen wird ein schlagkräftiger Militärapparat als zwingend notwendig erachtet. Eine noch bedeutendere Rolle spielt die innerhalb der Eliten omnipräsente Vorstellung, dass der weltpolitische Einfluss eines Landes (oder eines Staatenverbundes) ganz allgemein maßgeblich von seiner militärischen Schlagkraft abhängt. So schreibt etwa Carlo Masala, Professor an der Bundeswehr-Universität in München: „Der politische Wille nach einer globalen (Mit-)Führung kann nur dann geltend gemacht werden, wenn er auch machtpolitisch unterfüttert wird. Dies bedeutet: Solange militärische Macht und die Bereitschaft, sie einzusetzen, das Charakteristikum einer globalen Macht auch im 21. Jahrhundert darstellt, solange wird Europa kein Pol dieser sich herausbildenden Weltordnung sein. Es muss bereit sein, globale sicherheitspolitische Verantwortung zu tragen.“(5)
Vor diesem Hintergrund wurden die entscheidenden Weichen in Richtung einer Militarisierung Europas bereits vor über 15 Jahren bei den Treffen des Europäischen Rates in Köln und Helsinki 1999 gestellt. Damals wurde der Aufbau einer Schnellen Eingreiftruppe in der Größenordnung von 60000 Soldaten beschlossen, die mittlerweile für einsatzbereit erklärt wurde. Berücksichtigt man die für ein solches Kontingent notwendige Rotation, müssen je nach Schätzung 150000 bis 180000 Soldaten vorgehalten werden. Als ursprüngliches Einsatzgebiet dieser Truppe waren 4000 Kilometer rund um Brüssel vorgesehen. Ein Jahr später wurden mit dem Beschluss zur Einsetzung eines Militärausschusses, eines Militärstabes sowie eines Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees auch die organisatorischen Rahmenbedingungen für eine offensive Militärmacht geschaffen. Im Jahr 2004 folgte zusätzlich noch die Aufstellung von Kampftruppen (Battlegroups), 1500 Mann starken Kampfeinheiten, die innerhalb von 15 bis dreißig Tagen einsatzbereit sind und von denen stets zwei auf Abruf bereit stehen.
Schon kurz zuvor, im Jahr 2003, starteten die ersten GSVP-Missionen (GSVP steht für Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik) – „Concordia“ in Mazedonien und „Artemis“ im Kongo. Der Artemis-Einsatz war dabei aus mindestens zwei Gründen besonders bedeutsam: zum einen, weil er vollständig ohne Rückgriff auf die NATO (und damit die USA) erfolgte, und zum anderen, weil der Kongo mehr als 4000 Kilometer von Brüssel entfernt liegt, womit diese ohnehin schon kleine geografische Einschränkung ad acta gelegt wurde. Seither ging es Schlag auf Schlag: Bis zum heutigen Zeitpunkt fanden – je nach Zählung – über dreißig solcher GSVP-Einsätze statt.(6)
http://vimeo.com/116262677
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Die wichtigste Rechtsgrundlage der GSVP ist der Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat und der das mögliche Einsatzspektrum auf nahezu jede erdenkliche Tätigkeit ausweitete.(7) In Artikel 36 dieses Vertrages finden sich zudem die parlamentarischen „Kompetenzen“ zur Kontrolle der GSVP. Hier heißt es, das Parlament werde „gehört“ und darüber „unterrichtet“, was sich im Militärbereich abspielt, es dürfe auch „Anfragen oder Empfehlungen“ an den Rat richten, aber ernsthaft zu entscheiden bzw. mitzureden habe es absolut nichts. Nachdem ergänzend dazu Artikel 175 des „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) auch dem Europäischen Gerichtshof (EUGH) jegliche Kompetenz über die GSVP abspricht, besteht in der Frage von Krieg und Frieden auf EU-Ebene faktisch keinerlei Gewaltenteilung – es sind allein die im Rat versammelten Staats- und Regierungschefs, die hier im Alleingang entscheiden.
Im Dezember 2010 wurde dann mit dem „Europäischen Auswärtigen Dienst“ eine Art Superministerium eingerichtet, in dem – verglichen mit Deutschland – die Kompetenzen des Verteidigungs-, Außen- und großer Teile des Entwicklungsministeriums zugunsten einer Machtpolitik aus einem Guss gebündelt wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte das Tempo, in dem sich die angebliche „Zivilmacht Europa“ einen Militärapparat zulegte, mit Fug und Recht als spektakulär bezeichnet werden. Doch in der Folge wurde diese Entwicklung spürbar abgebremst. Weder der Rüstungsgipfel der Staats- und Regierungschefs im Dezember 2013 noch der im Juni 2015 war der von Propagandisten einer „Militärmacht Europa“ erhoffte große Wurf – beide endeten gemessen an den Erwartungen mit eher bescheidenen Ergebnissen.
Stolperstein Deutsches Europa
Geradezu triumphierend hieß es schon vor einiger Zeit im führenden deutschen Außenpolitikjournal, Angela Merkel sei im Zuge der Eurokrise zur „europäischen Kanzlerin“ mitsamt „Richtlinienkompetenz“ aufgestiegen.(8) Gleichzeitig ist es Berlin in den letzten Jahren gelungen, wesentliche Schaltstellen in Brüssel zu erobern, wodurch die deutschen Vormachtansprüche in der EU auch personell-institutionell untermauert und umgesetzt werden.(9)
Es liegt auf der Hand, dass diese Entwicklung nicht zuletzt in Frankreich und Großbritannien überaus skeptisch verfolgt wird. Beide Länder reagierten hierauf, indem sie bereits Ende 2010 mit dem Vertrag von Lancaster faktisch ein Bündnis gegen Deutschland schlossen, das aus zwei Gründen bemerkenswert ist: zum einen, weil es eine enge Zusammenarbeit in absolut hochsensiblen Militärbereichen – Schnelle Eingreiftruppe, Flugzeugträger, Atomwaffen – vorsieht, und zum anderen, weil es die EU-Strukturen vollständig umgeht.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Frankreich nahezu immer und Großbritannien zumindest manchmal für eine Stärkung der GSVP ausgesprochen. Dieser Einsatz scheint nun vorerst der Vergangenheit anzugehören, wie sich auch anhand der Initiative von Kommissionschef Juncker im Frühjahr 2015 zeigte. Sein Vorschlag, durch eine massive Übertragung nationalstaatlicher Befugnisse auf die EU-Ebene eine Art EU-Armee aufzubauen, wurde in Paris und London bestenfalls lauwarm aufgenommen. Denn solange sich Berlin wie die Axt im EU-Walde benimmt, denken beide Länder nicht im Traum daran, irgendwelchen Kompetenzübertragungen zuzustimmen, die aus ihrer Sicht lediglich die Gefahr vergrößern, unter die Fuchtel eines „Deutschen Europa“ zu geraten.
Ob sich dieses Spannungsverhältnis zugunsten einer „Weltmacht Europa“ auflösen lassen wird, steht zum jetzigen Zeitpunkt noch in den Sternen – der nächste große Versuch, Vorschläge in diese Richtung vorzulegen, dürfte die für Juni 2016 terminierte EU-Globalstrategie sein, die aktuell von der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini erarbeitet wird.
Dieser Artikel erschien zuerst in Hintergrund, Heft 4 – 2015.
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Der Autor: Jürgen Wagner, geb. 1974, ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) e. V. (www.imi-online.de). Er publiziert zu Fragen der westlichen Sicherheitspolitik und ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift Wissenschaft & Frieden.
Anmerkungen:
(1) Algieri, Franco/Emmanouilidis, Janis/Maruhn, Roman: Europas Zukunft – Fünf EU-Szenarien, Centrum für angewandte Politikforschung, München 2003, S. 12f.
(2) Schulz, Martin: Die Außenpolitik der Europäischen Union im 21. Jahrhundert: Vision, Ambition, Wirklichkeit, Brüssel, 26.02.2013. Schon in der im Dezember 2003 verabschiedeten Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) wurde der Anspruch erhoben, als „globaler Akteur“ Einfluss im Weltmaßstab ausüben zu können.
(3) Five EU countries call for new military »structure«, EUobserver, 16.11.2012.
(4) Ashton, Catherine: Preparing the December 2013 European Council on Security and Defence, Final Report by the High Representative/Head of the EDA on the Common Security and Defence Policy, Brussels, 15 October 2013, S. 2.
(5) Massala, Carlo: Europa zwischen USA und Russland – ist eine europäische Armee die richtige Antwort? in:
Kaldrack, Gerd F./Pöttering, Hans-Gert (Hg.): Eine einsatzfähige Armee für Europa. Zur Zukunft der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach Lissabon, Wiesbaden 2011, S. 135-143, S. 140f.
(6) Viele GSVP-Operationen werden formal als „zivile“ Einsätze bezeichnet, davon haben allerdings die meisten (etwa im Falle sogenannter „Ausbildungseinsätze“) eine relevante militärische Komponente oder sie flankieren mit ihrer Tätigkeit Militäreinsätze vor Ort.
(7) Genannt werden in Artikel 43, Absatz 1 des Lissabon-Vertrags u.a. folgende Einsatzszenarien: “Gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben […] Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten.“
(8) Rinke, Andreas: Die EU-Kanzlerin. Angela Merkel überträgt ihren Regierungsstil auf die europäische Ebene, Internationale Politik 1/2011 (Online).
(9) Diese „Aneignung“ von Schlüsselpositionen wurde u.a. ausführlich vom ehemaligen Handelsblatt-Korrespondent in Brüssel beschrieben: „Brüssel wird heute stärker von deutschen Interessen und Strategien geprägt denn je. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat Deutschland die Schlüsselposten in den EU-Institutionen erobert und Strukturen geprägt, die auch die selbstbewusste Juncker-Kommission binden. Europa spricht heute nicht nur deutsch, wie CDU-General Volker Kauder schon 2011 proklamierte. Es denkt und handelt mittlerweile auch deutsch, nach in Deutschland geprägten Modellen und Regeln. […] Insgesamt hat es die Bundesregierung verstanden, sich in den EU-Institutionen eine zentrale Rolle zu sichern. Die alte Klage über einen ‚pro-französischen Bias‘ in Brüssel hat sich erledigt; die deutsche Personalpolitik hat ganze Arbeit geleistet. Fast alle strategisch wichtigen Positionen werden heute von Deutschen besetzt, was verständlicherweise nicht überall auf Begeisterung stößt. Der britische ‚Economist‘ machte sich über die ‚teutonische Union‘ lustig und die französische ‚Libération‘ warf Merkel vor, im Alleingang das ‚Casting‘ zu bestimmen.“ (Bonse, Eric: Europa tickt deutsch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2015, S. 5-8)