"Europa ist in einem grauenhaften Zustand"
Der langjährige hochrangige UNO-Diplomat und OSZE-Mitarbeiter Michael von der Schulenburg sitzt heute für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) im EU-Parlament. Was er dort erlebt, erschreckt ihn. Das begründet er im Interview ebenso wie seine Sicht auf den Ukraine-Krieg und dessen Lösung sowie die Rolle der EU in der Welt. Mit ihm sprach ÉVA PÉLI.

HINTERGRUND Sie waren als Diplomat der UNO weltweit unterwegs, um Konflikte zu lösen. Eigentlich könnten Sie sich zur Ruhe setzen und ein Buch schreiben, wie es andere Diplomaten tun. Warum haben Sie sich nun als Abgeordneter des BSW in die konfliktbeladene EU-Politik begeben?
MICHAEL VON DER SCHULENBURG Ja, das frage ich mich auch, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich war ja seit 1978 nicht mehr in Deutschland. Jetzt komme ich zurück und sehe ein Europa, das völlig auf dem falschen Weg ist. Ich bin pro-europäisch, habe gar keine radikalen Ideen. Ich bin wahrscheinlich sogar eher konservativ. Ich sehe aber, dass wir so auf dem Kriegspfad sind, und da denke ich, vielleicht werde ich da doch gebraucht als jemand, der so viel Erfahrung mit Kriegen hat. Sahra Wagenknecht hat mich eines Tages angerufen und gefragt, ob ich nicht ins Parlament gehe, mit meiner Erfahrung in Krieg und Frieden und mit internationalem Recht. Bei den Themen bin ich wahrscheinlich auch der Erfahrenste im Parlament. Aber das bedeutet nicht, dass sie mir deswegen zuhören. Sie wissen ja alles besser.
Ich bin sehr beunruhigt, was aus Europa, was aus Deutschland heraus passiert. Die Konsequenzen dieser Politik werden wir in diesem und im nächsten Jahr spüren, und die werden hart sein für uns. Vielleicht kann ich da noch einen kleinen Beitrag leisten für eine andere Politik.
HINTERGRUND Sie haben im Auftrag der UNO versucht, Konflikte zu lösen. Die EU, das mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete „Friedensprojekt“, scheint nur Konflikte zu schüren. Wie gehen Sie damit um, und was nutzt Ihnen Ihre Erfahrung als Vermittler?
SCHULENBURG Da muss ich noch ein bisschen älter werden, um darüber nachzudenken, ob mir das was nutzt oder nicht. Bis jetzt hat es mir nicht so viel genutzt. Wenn ich im Parlament rede, da kommen ständig Zwischenrufe, dass ich mich schämen sollte, dass meine Familie sich für mich schämen sollte und solche Sachen. Dabei sage ich im Parlament, was wir immer in der UNO sagen, wenn man in Kriegsländer kommt: Zum Beispiel sage ich, dass der Waffenstill- stand für die Ukraine besser wäre, weil sie sonst zusammenbricht und noch mehr Territorium verliert. Ich will ja, dass die Ukraine überlebt. Aber das wird schon als Verrat gesehen. Das ist ziemlich erschreckend, muss ich sagen.
Dieses EU-Parlament erschreckt mich regelrecht – und ich habe 30 Jahre in Kriegsländern gelebt! Das liegt daran, dass dort Menschen sind, die sehr hoch bezahlt sind. Ein EU-Parlamentarier bekommt sehr viel Geld. Das ist gerade auch noch erhöht worden.
Wir, die EU-Abgeordneten, haben keinen Sohn, der im Krieg ist. Wir haben keine Tochter, die vergewaltigt wird. Wir haben keine Häuser, die zerstört werden. Wir müssen unser Land nicht verlassen. Wir spüren die Inflation infolge des Krieges auch so gut wie gar nicht. Und da ist ein Parlament voller Leute, die immer weiter auffordern, dass die Ukrainer weiter Krieg führen müssen. Und wir schämen uns gar nicht. Ich denke, das ist fast ein Kriegsverbrechen, was das EU-Parlament da macht. Und wenn ich diese Resolutionen sehe, die das Parlament macht, die zum Teil 13 Seiten lang sind, wo das Wort Verhandlungen und das Wort Diplomatie nicht ein einziges Mal vorkommen. Was das Parlament da macht, ist ein Bruch des Völkerrechts, der UN-Charta. Mit der UN- Charta haben alle Länder sich verpflichtet, Kriege durch Verhandlung zu verhindern, oder wo sie entstehen, durch Verhandlungen so schnell wie möglich zu beenden. Wir tun das aber nicht, so haben wir auch den gesamten Süden verloren. Der Süden sieht: Das ist unser Krieg und nicht Putins Krieg. Das darf man nicht vergessen, immerhin sind die 90 Prozent der Weltbevölkerung. Das ist ein Machtfaktor, den wir völlig übersehen.
HINTERGRUND Was ist gefährlicher: Mit den Taliban zu reden oder mit EU-Politikern?
SCHULENBURG Das sind so Fangfragen. Ich habe ja mit den Taliban verhandelt und bin einer der ganz wenigen, die auch Mullah Omar kennengelernt haben. Im Allgemeinen bin ich viel durch Afghanistan gereist. Ich kenne fast alle dieser Präsidenten, die Mujaheddin-Kommandanten. Von Deutschen bin ich nie danach gefragt worden, obwohl ich wahrscheinlich mehr Kenntnisse in Afghanistan habe als einer von denen. Aber ich muss sagen, die Afghanen, dazu gehören auch die Taliban, sind ausgesprochen wortgetreu. Wenn man mit ihnen etwas verabredet – das wird ja nie aufgeschrieben, da gibt es auch keinen Handschlag –, dann wird das genau so gemacht.
Ich habe zum Beispiel einmal mit ihnen Gespräche geführt, um 40 Geiseln rauszuholen. An dem Tag, an dem wir sie abholen sollten, waren sie alle da, wir haben sogar die Autos herausbekommen. Was miteinander abgemacht wird in Afghanistan, das wird gemacht. Deswegen kommen die mit uns nicht zurecht, weil wir unsere Verträge nie einhalten, wir ändern die immer wieder.
Der Abzug der US-Amerikaner war zwischen Trump und den Taliban verabredet. Als Biden an die Macht kam, hat er den Vertrag sofort gebrochen und gesagt, sie bleiben länger, weil er noch andere Bedingungen verhandeln wollte. Und hat natürlich nichts bekommen. Das werden wir nicht verstehen. Diese Leute sind doch ziemlich vertragstreu. Natürlich müssen wir mit denen reden, und es war einfach, mit ihnen zu reden.
Wenn ich dagegen die Sprache höre, die man im EU-Parlament benutzt, dann denke ich, das ist schlimmer als im Iran-Irak-Krieg. Wir denken immer, wir in Europa sind der Höhepunkt der Zivilisation. Hören Sie sich mal die Sprache an, gucken Sie sich mal diese Resolutionen des EU-Parlaments an, wie die geschrieben sind. Das habe ich nicht mal im Iran-Irak-Krieg erlebt, wo wahrscheinlich eine Million Menschen umgekommen sind. Zwischen den beiden Ländern hat es immer eine Verbindung gegeben, die wurde durch die UNO aufrechterhalten. Das geht ja nur, wenn beide Seiten darauf eingehen. Hier gibt es das gar nicht. Die Europäer denken, sie sind so stark – was sie gar nicht sind –, dass sie das gar nicht brauchen. Es gibt keine Verbindung zwischen den Europäern und den Russen während des Krieges. Wir machen es also viel schlimmer als diese Länder, denen gegen- über wir uns überheblich verhalten. Das ist eine Überheblichkeit, die im Grunde genommen unberechtigt ist.
HINTERGRUND Ein wichtiges Thema ist und bleibt der Ukraine-Krieg. Warum hat die EU nicht eine Initiative für Frieden angestoßen? Und welche Chancen für einen Frieden sehen Sie?
SCHULENBURG Ich habe keine Ahnung, warum die EU das nicht macht. Ich halte es für eine irrationale Politik. Man kann auch fragen, warum die EU sich so irrational, fast kopflos verhält, denn die Realität ist eine andere. Beantworten kann ich es nicht. Es ist mir unverständlich.
Chancen für den Frieden sehe ich überhaupt keine. Ich sehe eine Chance für einen Waffenstillstand. Ein Waffenstillstand ist kein Frieden. Und den werden die US-Amerikaner und die Russen miteinander aus- handeln. Wobei die EU, die größte Staatengemeinschaft auf dem europäischen Kontinent, bei dem Krieg auf demselben europäischen Kontinent überhaupt keine Rolle spielen wird. Es ist unsere eigene Schuld, wie wir uns aufstellen. Eine EU-Außenbeauftragte Kallas wird nicht eingeladen werden, um irgendwelche Waffenstillstandsverhandlungen mitzumachen. Das bedeutet im Grunde genommen, dass die zukünftige Sicherheitsarchitektur in Europa von US-Amerikanern und Russen entschieden wird und nicht mehr von uns. Es ist also eine so bodenlose Dummheit, ja fast ein Verbrechen an den Bürgern, dass wir uns nicht darum bemühen zu sagen, was soll eigentlich dabei rauskommen zum Schluss.
Das Problem in der internationalen Politik ist anders als bei einem Ehekonflikt. Bei einem Ehekonflikt kann man sagen: Du gehst nach Hamburg und ich bleibe in München. Doch die Russen werden immer unsere Nachbarn sein, Belarus wird immer unser Nachbar sein und so weiter. Da müssen wir irgendwie miteinander auskommen. Aber wir sind selbst so überheblich mit dieser dummen Geschichte, mit diesem Vorwurf des „völkerrechtswidrigen Angriffskrieges“ und Ähnlichem, das wir uns im Grunde genommen ausgeschlossen haben von allen Verhandlungen.
HINTERGRUND Sie hatten in einem Vortrag bei der „Eurasien Gesellschaft“ gesagt, dass Sie das völlig anders sehen mit dem Völkerrecht und dem russischen Vorgehen in der Ukraine, als das in den Medien dargestellt wird. Wie sehen Sie das?
SCHULENBURG Wenn wir sagen, es ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, dann beziehen wir uns auf die UNO-Charta. Der Westen, der also viel mehr in anderen Ländern illegal eingegriffen hat, kümmert sich plötzlich um die UNO-Charta. Aber diese ist ein bisschen komplizierter, intelligenter als das. Die Idee in der Charta ist, dass es weiterhin Konflikte zwischen Staaten gibt wegen unterschiedlicher Interessen, die traditionell oft zu Kriegen geführt haben. Wir haben uns mit der Charta darauf geeinigt, dass wir so lange verhandeln, bis wir Kriege verhindern. Es besteht die Verpflichtung, miteinander zu verhandeln, weil der eine das anders sieht als der andere. Das ist ein Junktim für keinen Krieg machen. Das gehört doch zusammen.
Wir sehen jetzt nur noch die eine Seite, aber vergessen die andere Seite. Wir haben ja keine Verhandlungen geführt. Wir haben das abgelehnt, nicht nur seit Dezember 2021, auch schon vorher. Wir hätten das alles immer verhandeln können, und wir hätten eine diplomatische Lösung finden können. Dieser Krieg, genau wie Trump das jetzt sagt, war verhinderbar. Das ist sehr interessant, dass Trump das jetzt sagt.
Jetzt führen wir diesen Krieg und haben im Grunde genommen damit die Ukraine zerschlagen. Die Ukrainer sind das am meisten betrogene Volk in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Das ist ein betrogenes Volk, das einen Blutzoll gezahlt hat für etwas, für das es gar nichts bekommen hat. Das ist unglaublich. Das wird ja noch schlimmer werden, weil sie nicht Mitglied der EU und nicht der NATO werden und wahrscheinlich auch kein Geld kriegen für den Wiederaufbau.
HINTERGRUND Es gibt ja noch die Möglichkeit für die Rest-Ukraine als EU-Protektorat, wie der Kosovo.
SCHULENBURG Natürlich gibt es die. Aber ob das der Rest-Ukraine wirklich hilft? Wir dürfen nicht vergessen, dass die Waffenlieferungen der Amerikaner meistens Kredite waren. Das, was die EU gibt, Kredite sind. Wir versprechen ihnen, dass sie es zurückzahlen können mit irgendwelchen russischen Geldern. Was wahrscheinlich gar nicht passieren wird, da die Amerikaner nicht mehr mitmachen. Die Briten machen nicht mit, die Schweizer machen nicht mit. Nur diese unglaublich dumme EU denkt, das können sie machen. Es ist unglaublich, aber die Ukrainer werden am Ende die Betrogenen sein. Ein anderer gefährlicher Konflikt über die betroffene Region hinaus ist der Krieg im Nahen Osten. Was könnte die EU tun, um den Vernichtungskrieg Israels gegen die Palästinenser sowie die Angriffe Israels auf Nachbarländer wie den Libanon und Syrien zu stoppen und einen Krieg gegen den Iran zu verhindern?
SCHULENBURG Wahrscheinlich überhaupt nichts. Wir haben ja auch beim Ukraine-Krieg nichts machen können. Wir sind doch nur mit uns selbst beschäftigt. Erst mal würde ich sagen: Was sollen wir mit den ganzen Waffenlieferungen nach Israel, vor allen Dingen von Deutschland, ist ja auch ein EU-Land? Mit diesen Waffen wird doch der Krieg geführt. Sollten wir vielleicht das erst mal stoppen, tun wir aber nicht. Wir haben uns nicht einmal in der EU durchgerungen, Israel zu verurteilen. Die Glaubwürdigkeit der EU hat dadurch international unglaublich gelitten.
Ich denke schon, als Deutsche müssen wir uns immer ein bisschen zurückhalten. Aber da passieren doch fürchterliche Sachen. Meiner Ansicht nach hat Israel den Krieg verloren – zu einem enormen Preis. Ein Krieg ist militärisch nicht zu gewinnen. Letztlich gewinnt man ihn nur, wenn man den Frieden erreichen kann. Den werden sie nicht erreichen. Ich glaube, in Israel verstehen das schon sehr viele, auch in der Armee, wenn Soldaten nicht mehr nach Gaza gehen wollen. Sie haben natürlich immer dieses Problem, dass sie sich angegriffen fühlen, aber den meisten ist auch klar: Was da passiert, ist nicht richtig.
Das vollständige Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 3/4 2025 unseres Magazins, das im Bahnhofsbuchhandel, im gut sortierten Zeitungschriftenhandel und in ausgewählten Lebensmittelgeschäften erhältlich ist. Sie können das Heft auch auf dieser Website (Abo oder Einzelheft) bestellen.
MICHAEL VON DER SCHULENBURG ist ehemaliger hochrangiger UN-Diplomat und OSZE-Mitarbeiter und heute BSW-Abgeordneter im EU-Parlament. Zuvor war er bei den Vereinten Nationen im Rang eines UN Assistant Secretary General tätig. Er arbeitete über 34 Jahre in Friedens- und Entwicklungsmissionen der Vereinten Nationen und kurz der OSZE in vielen Ländern. Seit 1992 war er in leitender Funktion dieser Friedensmissionen, so in Haiti, Pakistan, Afghanistan, Iran, Irak und Sierra Leone sowie kürzere Einsätze in Syrien, in Somalia, auf dem Balkan, in der Sahelzone und in Zentralasien. 2017 erschien von ihm „On Building Peace – Rescuing the Nation-State and Saving the United Nations“ (Amsterdam University Press).