Exzessive Gewalt

Ausnahmezustand für Frankreichs Muslime

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Nirgendwo in Europa leben mehr Muslime als in Frankreich. Doch seit den Terroranschlägen von Paris wird das Klima für sie zunehmend schlechter. Ihre größter Agressor: der französische Staat

Als dem orthodoxen Kloster Mor Gabriel die Schließung drohte, reichte seine Geschichte schon über 1 600 Jahre zurück. Im Jahr 2008 hatten kurdische Nachbargemeinden im Südosten der Türkei Besitzansprüche auf das Land des Klosters angemeldet. Der Rechtsstreit wurde zum internationalen Politikum: Als AKP-Politiker die Ankläger unterstützten, demonstrierten in Köln Menschen gegen die „kulturelle Vernichtungspolitik“ der türkischen Regierung. Der Deutsche Bundestag schaltete sich ein und zeigte sich besorgt über das Ausmaß der Christenverfolgung im Land.(1) Die FAZ titelte gar „rettet das zweite Jerusalem“ (2). Und schließlich sendete sogar die Europäische Union Beobachter in die Türkei.

Acht Jahre später sind wieder Gotteshäuser von der Schließung bedroht. Nicht so traditionsreiche wie Mor Gabriel, aber für ihre Gemeinden sind sie wahrscheinlich nicht weniger wichtig. Sie liegen nicht im Südosten Anatoliens, sondern im Zentrum Europas – in Frankreich. Es sind keine Kirchen oder Klöster, sondern Moscheen. Nicht eine, sondern weit über einhundert.

Glaubt man einem Bericht des katarischen Fernsehsender Al-Jazeera, plant das französische Innenministerium die Schließung von bis zu 160 Moscheen im Land. (3) Anders als in Mor Gabriel geht es hier nicht um Grundstückstreitigkeiten. Zu Hass und Gewalt sollen Imame in den Moscheen aufgerufen haben, Mitglieder Kontakte zu Terroristen haben. Doch anders als in der Türkei wird auch kein Gericht darüber entscheiden, was an den Vorwürfen der französischen Sicherheitsbehörden tatsächlich dran ist. „Ausnahmezustand“ heißt das. Und dieser wird in Frankreich zunehmend zum Problem für die muslimische Minderheit.

Ausnahmezustand ohne Ende

Fast drei Monate ist es her, als islamistische Attentäter am 13. November in Paris 130 Menschen töteten. Um die Terroristen und ihre Helfer leichter aufspüren und weitere Anschläge verhindern zu können, rief Präsident Hollande nur wenige Stunden nach den Anschlägen den Ausnahmezustand aus. Behörden können so Wohnungen und Geschäftsräume auch ohne richterlichen Beschluss durchsuchen. Privateigentum kann konfisziert, Menschen könnten unter Hausarrest gestellt werden. Öffentliche Versammlungen können untersagt und Ausgangssperren verhängt werden.

Was ursprünglich als temporäre Maßnahme von zwölf Tagen gedacht war, gehört fast drei Monate später immer noch zum Alltag in Frankreich – und damit auch die Nachrichten über Fälle, in denen es die Falschen traf: Über 3 242 mal stürmten Polizisten auf Grundlage des Ausnahmezustandes in den letzten Wochen Wohnungen und Geschäftsräume. Mehr als 380 Mal verhängten sie Hausarreste. In 200 Fällen wurden im Anschluss Ermittlungsverfahren eröffnet. Die Anzahl daraus resultierender Anklagen wegen Terrorismus: vier.

Nicht Terroristen, sondern vor allem muslimische Bürger würden zu Opfern des Ausnahmezustandes, kritisiert „Collectif contre l’Islamophobie en France“  (CCIF). (4) 228 Beschwerden landeten in den vergangenen Wochen bei der Bürgerrechtsorganisation: über Polizisten, die sich in der Adresse geirrt hatten; Menschen, die allein schon aufgrund eines arabischen Namens ins Visier geraten seien; über traumatisierte Kinder und unverhältnismäßige Gewaltanwendung. Und über Hunderte Muslime, die von einem Tag auf den anderen keinen Anlaufpunkt zum Beten mehr hatten.

Menschenrechtsorganisationen berichten über exzessive Gewalt

In zwei von einander unabhängigen Berichten haben Amnesty International (5) und Human Rights Watch (6) auf die Folgen des Ausnahmezustandes aufmerksam gemacht. In sechzig Interviews berichten Muslime gegenüber Amnesty von willkürlichen Hausdurchsuchungen und exzessiver Gewaltanwendung durch Polizisten. Und Human Rights Watch berichtet von „missbräuchlichen und diskriminierenden Razzien und Hausarresten gegenüber Muslimen“. Der Ausnahmezustand habe Muslime in „wirtschaftliche Not versetzt, stigmatisiert die Betroffenen und traumatisiert Kinder“ .

Selbst die Vereinten Nationen kritisierten die französische Politik. „Überzogene und unverhältnismäßige Einschränkungen grundlegender Freiheiten“ warfen Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen am 19. Januar der französischen Regierung vor. In einem Brief an die französische Regierung beklagten sie Einschränkungen von Meinungs- und Versammlungsfreiheit und des Rechtes auf Privatsphäre und forderten von der französische Regierung die Wiederherstellung richterlicher Kontrolle über Anti-Terror-Maßnahmen und einen „adäquaten Schutz vor Missbrauch bei der Anwendung der außergewöhnlichen Maßnahmen.“(7)

Dass der der Ausnahmezustand für die Terrorismusbekämpfung sinnlos und letztlich nur der Beschneidung von Freiheitsrechten dient, kritisiert auch die „Ligue des droits de l’homme“ (LDH). Die französische Menschenrechtsorganisation hat Klage gegen die Verlängerung des Gesetzes vor dem Obersten Verwaltungsgericht Frankreichs – dem Conseil d’Etat – eingereicht. Vergangene Woche wiesen die Richter die Klage ab. Die Begründung: „Die anhaltende Gefahr, die den Ausnahmezustand rechtfertigt, ist nicht verschwunden.“ Der Ausnahmezustand werde mit dieser Begründung zum Normalzustand, kritisierte im Anschluss LDH-Anwalt Patrice Spinosi gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

Die Justizministerin trat aus Protest zurück

Es sind nicht viele, die sich wie die LDH momentan in Frankreich gegen die Regierungspolitik wenden. Einige tausend Franzosen demonstrierten vor zwei Wochen gegen den Ausnahmezustand und die Beschneidung von Freiheitsrechte. Doch rund Dreiviertel der Franzosen befürworten in Meinungsumfragen die Anti-Terror-Politik ihrer Regierung. Und diese beschränkt sich nicht nur auf den Ausnahmezustand: Schon nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo erließ das französische Parlament im Mai 2015 ein Gesetzt, das es erlaubt, Telefone und E-Mails ohne richterlichen Beschluss abzuhören.

Die französische Regierung treibt außerdem momentan ein Gesetz voran, das es ermöglichen soll, Terroristen mit doppelter Staatsbürgerschaft die französische abzuerkennen. Ein Forderung, mit der die extreme Rechte ursprünglich Stimmung gegen Muslime machte und die  Frankreichs Justizministerin Christiane Taubira vergangene Woche zum Rücktritt veranlasste. „Ich habe mich entschieden, mir selbst, meinen Verpflichtungen und Kämpfen treu zu bleiben“, sagte sie bei ihrer emotionalen Verabschiedung. (8)

Gleiches ist wohl auch für die Politik der französischen Regierung zu befürchten: Vergangene Woche beschloss das französische Kabinett, den Ausnahmezustand um weitere drei Monate zu verlängern. Die Schließung von Moscheen hat unterdessen schon begonnen. Im Norden von Paris schlossen Behörden einen Moschee, deren Inhaber „dschihadistische Dokumente“ besessen haben soll. Auch in Gennevilliers, nordwestlich von Paris und in Lyon wurden Moscheen geschlossen. Immer ohne richterlichen Beschluss. In der Türkei ging der Streit übrigens gut für das Kloster aus. Ganz ohne internationale Aufmerksamkeit wurden den Mönchen Anfang des Jahres 2014 die Grundstücksdokumente übergeben. Das Kloster steht bis heute.


 

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Anmerkungen
(1) http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/091/1709185.pdf
(2) http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/tuerkei-rettet-das-zweite-jerusalem-1791083.html
(3) http://www.aljazeera.com/news/2015/12/france-100-mosques-close-151202142023319.html
(4) http://www.islamophobie.net/
(5) http://www.amnestyusa.org/research/reports/upturned-lives-the-disproportionate-impact-of-france-s-state-of-emergency?page=2
(6) https://www.hrw.org/news/2016/02/03/france-abuses-under-state-emergency
(7) http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=16966&LangID=E
(8) http://www.nytimes.com/2016/01/28/world/europe/france-christiane-taubira-justice-minister-resigns.html?_r=0

 

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