EU-Politik

Alternativlos in Idomeni

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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Noch immer harren Tausende Flüchtlinge im griechisch-mazedonischen Niemandsland aus. Zu Besuch bei Menschen, deren Hoffnung auf ein Leben in Würde vor Europas NATO-Draht endete

Suleimans Hoffnung auf ein würdevolles Leben endet in dieser Nacht zwischen einem überlaufenden Dixie-Klo und der Zapfsäule für Super Bleifrei. Zwei Jahre ist es her, als der Fliesenleger aus der nordsyrischen Kleinstadt Malakia aufbrach, um in Europa ein Leben zu finden. Nicht ein besseres, sondern überhaupt eines. Nun fließt der Schlamm durch die Rillen der Europalette unter seinem Zelt. Der Gestank brennenden Mülls weht herüber. Vor dem Nachbarzelt haben ihn andere in Brand gesteckt, um die Kälte zu vertreiben – und die Ratten.

Auf Schlamm gebaut: Zeltlager in Idomeni
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Idomeni. Was bis vor einigen Monaten nur der Name eines unbedeutenden Bahnhofs irgendwo im griechisch-mazedonischen Niemandsland war, gilt seit Wochen als Symbol des Versagen Europas in der Flüchtlingspolitik. Ein Versagen allerdings, auf das stets Verlass ist, wann auch immer an Europas Grenzen vermeintlich europäische Werte auf die Probe gestellt werden: Melilla, Lampedusa, Lesbos, Calais … Und nun also Idomeni, ein Abgrund aus Schlamm, Lungenentzündung und politischer Bigotterie.

„Soll ich zum IS gehen und nach meiner Heiratsurkunde fragen?“

Es ist nicht Suleimans erster Zwangsbesuch an der griechisch-mazedonischen Grenze. Schon rund ein Jahr zuvor führte sein Weg hier entlang. Damals schaffte er es nach Deutschland. Der Entschluss zurückzureisen fiel, als die Berliner Ausländerbehörde ihm verweigerte, seine Ehefrau nachzuholen. „Die wollten die Kopie unserer Heiratsurkunde nicht anerkennen“, redet er sich auch noch bei der dritten Wiederholung der Geschichte in Rage: „Soll ich zurück zum Islamischen Staat gehen und fragen, ob ich bitte die Heiratsurkunde für das Ausländeramt haben dürfte?“ Wie Suleiman geht es vielen in Idomeni: Kinder sind auf dem Weg zu ihren Eltern, Frauen zu ihren Ehemännern, Väter zu ihrer Familie. Familien wurden durch Krieg und Flucht auseinandergerissen, viele haben Verwandte in Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern.

Zelte statt Autos im „Camp Tankstelle“
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Im Hauptlager, und fünf Kilometer von Suleimans „Camp Tankstelle“ entfernt, drängen sich die Übertragungswagen um die wenigen asphaltierten Plätze, auf denen man in Idomeni nicht im Schlamm versinkt, und senden jene Bilder, die es auch in der x-ten Wiederholung nicht vermögen, Europa wachzurütteln. Wenn das Foto des ertrunkenen syrisch-kurdischen Jungen Aylan Kurdi die europäische Flüchtlingspolitik hätte ändern können, müssten die Bilder aus Idomeni eigentlich eine humanistische Revolution auslösen: Neugeborene im eiskalten Wasser, Kindersocken im NATO-Draht, Familien, die sich an einem brennenden Haufen Müll das Abendessen zubereiten. Tausendfaches Warten im Stacheldrahtverhau unterm Blechdach für einen Plastikbecher Tee und eine Orange. Mitten in Europa.

Tausendfach wurde über die Tragödien berichtet, geändert hat es nichts

„Wir schlafen, stehen irgendwo an und schlafen wieder“, sagt Mohammed aus Syrien. In Damaskus hat der 24-Jährige englische Literatur studiert. Dann schlugen drei Raketen in das Nachbarhaus ein. Ein Jahr hat er sich in der Türkei mit unterbezahlten Aushilfsjobs durch- und überbezahlten Schleppern herumgeschlagen, bis er in Europa Zuflucht fand. Nicht durch staatliche Behörden, sondern bei der kurdischen Familie im Nachbarzelt. „Weißt du, wann die Grenze aufmacht?“, ist auch die erste Frage des 50-jährigen Omar. Mohammeds neuer Familienvater schlägt schon vor der Antwort resigniert die Augen nieder, er weiß, was gleich kommt. „Linsensuppe?“, schlägt er die Augen wieder auf und schüttet den Inhalt aus der verkohlten Dose mit der „2-Liter-Bohnen“-Aufschrift in den ausgespülten Pappbecher. „Das dort drüben sind drei meiner Kinder“, sagt er und zeigt auf drei Personen im Grundschulalter, die gerade versuchen, nasses Holz zum Brennen zu bringen. Bei der Frage nach seiner Frau schließt er die Augen wieder.

Der 34-jährige Fatih aus dem syrischen Aleppo mit seinen beiden Kindern
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Tausendfach wurden Geschichten wie jene von Suleiman, Mohammad und Omar schon erzählt und vermochten es doch nicht, die Mächtigen dazu zu bewegen, den Worten über Europas Werte Tatsachen folgen zu lassen. Hinter jedem verschmutzten Zelteingang wartet die nächste Tragödie: Der 50-jährige Ali arbeitete als Polizist in Somalia. Als die Schabab-Miliz zum dritten Mal einen Anschlag auf ihn verübte, flüchtete er. Nun scheucht er morgens die Ratten aus dem Müll, um Brennbares gegen die Kälte zu sammeln. Die 28-jährige Ranja arbeitete als Apothekerin im syrischen Deir ez-Zor. Sie entkam der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS), ihr Mann nicht. Nun schlägt sie sich allein durch: mit zwei Kindern und schwanger. Der 34-jährige Fatih trainierte Kickboxen in Syrien. Nun schlafen auch er, seine Frau und die beiden Kinder seit drei Wochen auf dem Tankstellenparkplatz.

Mehrmals am Tag öffnet die Grenze – für den Güterzug, nicht für Menschen

Andere wollen nicht warten. Es ist kurz nach 23 Uhr, als Abdullatif seine Isomatte einrollt und losläuft. „Gibt es Neues von der Grenze?… Nein?“, fragt er ein letztes Mal und verschwindet hinter den ausrangierten Bahnwaggons. Hinter ihm liegen zwei Jahre Flucht: Seine Schwester ist tot, seine Eltern sind zu alt und zu krank, um zu fliehen, seine Heimat ist zu zerstört, um zu bleiben. Vor ihm blinken die roten Warnleuchten von den Gipfeln des Belasiza-Gebirges, jener natürlichen Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien aus einer Zeit, als es noch keinen NATO-Draht gab. „Hätte ich sterben wollen, wäre ich zu Hause bei meinen Eltern geblieben“, erzählt der 24-Jährige, bevor er losläuft. Am Morgen danach sitzt auch er wieder am brennenden Müll. „Diesmal haben sie uns nicht gekriegt“, freut sich Abdullatif und zeigt die blauen Flecken an jenen Stellen, die beim letzten Mal von den Knüppeln der mazedonischen Polizisten getroffen wurden.

Wärmen am Feuer: Rechts im Bild der 50-jährige Ali, ehemals Polizist in Somalia
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Der Widerspruch zwischen der Gewissheit einerseits, dass seit Wochen einfach gar nichts darauf hindeutet, dass die Grenze irgendwann geöffnet wird, und der Unmöglichkeit des Umkehrens andererseits, ist nicht nur in den Worten der Flüchtlinge spürbar: Am Bahngleis hat ein junger Mann aus Damaskus versucht, die verbreitete Resignation in Worte zu fassen. „Wir haben den Krieg überlebt. Aber wegen euch wünsche ich, ich hätte es nicht“, hat er auf ein Schild geschrieben. Den ganzen Tag steht er dort bis ihn am späten Nachmittag griechische Polizisten auffordern, den Weg frei zu machen. Für einige Minuten öffnet sich das Grenztor in Richtung Mazedonien: für den Güterzug, nicht für Menschen.

Jeden Tag verteilen Bagger noch mehr Resignation

Ein paar Schlammpfützen weiter verteilen Bagger und Planierraupen noch mehr Resignation auf dem durchweichten Acker. Stunden später ist das nächste Großzelt von Ärzte ohne Grenzen aufgebaut. Die Bedrohung, dass das Lager dauerhaft bestehen bleibt, ist allgegenwärtig: Auf der Hauptstraße des Camps haben die ersten Händler ihre Gemüsestände aufgebaut. Einige Flüchtlinge bieten im Bauchladen Zigaretten an. Die Gewinnspanne pro Packung: 20 Cent.

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Am Grenzzaun präsentiert ein Kurde stolz den Graben, den er um sein Zelt angelegt hat. Zusätzliche Entwässerungsrinnen sollen in den nächsten Tagen die Nachbarzelte miteinander und alles zusammen mit einem eigenen Wasserreservoir verbinden. Dort schlagen zwei Männer Pfähle für Wäscheleinen in den Boden. Auf der anderen Seite des Lagers ziehen Afghanen Bäume auf einem improvisierten Schlitten aus einem kargen Wäldchen durch den Matsch. Und noch immer laufen neue Gruppen mit Isomatten und neuer Hoffnung über den Gleisschotter in Richtung Camp.

Es dauert fünf Tage bis Suleiman beginnt, seine Hoffnung zu verlieren. Tagelang hat er seine längst resignierte Frau beschwichtigt und versucht, sie bei Laune zu halten. Nun kann auch er den Frust nicht mehr zurückhalten: „Sie haben uns vergessen. Einfach vergessen. Wenn sie uns wenigsten sagen würden, wir sollen in Syrien krepieren, aber nicht mal das tun sie“, ruft er in die Runde, in der niemand eine Antwort hat. Nach ein paar Minuten des Schweigens gibt er die sich dann selber: „Vielleicht kehren wir doch nach Kurdistan zurück … Oder gibt es doch Neues von der Grenze?“

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