Meister der aggressiven Demagogie
Israel ist von Gewaltexzessen erschüttert, politisch entwickelt sich das Land zunehmend nach rechts. Zurzeit tobt dort ein erbitterter Wahlkampf und einer der Kandidaten, der militante Rechtsexstremist Itamar Ben-Gvir, könnte bei der 25. Knesset-Wahl einen Ministerposten erobern. Vor allem für die Palästinenser bedeute das „Schlimmstes im Schlimmen“, so die Befürchtung kritischer Publizisten und Menschenrechtler.
Itamar Ben-Gvir heizte vergangene Woche in Scheich Dscharrah eine Straßenschlacht an. Umringt und gut geschützt von bis an die Zähne bewaffneten Sicherheitskräften hatte er sich am Donnerstagabend demonstrativ in dem Ostjerusalemer Stadtviertel blicken lassen, das seit Jahren ein Brennpunkt des zunehmend eskalierenden Konflikts zwischen der jüdischen Rechten, die dort widerrechtlich Gebäude okkupiert hat, und der mehrheitlich palästinensischen Bevölkerung ist. Als es Steine hagelte, verschanzte Ben-Gvir sich hinter einem LKW, zog eine Pistole und verlangte von der Polizei, auf die an den Krawallen beteiligten arabischen Jugendlichen mit scharfer Munition zu schießen. „Es ist an der Zeit, dass wir der Polizei erlauben, den Feind zu vernichten. Ich bin jetzt unterwegs in die Gegend, um jüdische Einwohner zu schützen. Genug mit der Kapitulation“, twitterte er.1 Schon einen Tag vorher hatte er bei einem ähnlichen Auftritt Palästinensern gedroht, sie „niederzumähen“, nachdem er sie mit markigen Worten darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sie in ihrem eigenen Land nur noch als Gäste geduldet sind.2
Militanz-Gehabe, chauvinistische Rhetorik und Action-Bilder, die die israelischen Medien von seinen Selbstinszenierungen massenhaft liefern – das sind die ideologischen Wunderwaffen, die der Rechtsextremist im Wahlkampf gekonnt in Stellung bringt. Vor allem seit die heiße Phase begonnen hat. Am 1. November findet in Israel der vierte Urnengang innerhalb von vier Jahren (der Dauer einer regulären Regierungsperiode) statt, nachdem das Bennett-Lapid-Kabinett wegen des Austritts von Abgeordneten aus der Koalition nicht mehr regierungsfähig gewesen ist. Es war vor gut einem Jahr, im Juni 2021, mit der Mehrheit einer einzigen Stimme vom Parlament bestätigt worden.
Itamar Ben-Gvir ist Vorsitzender der Partei Otzma Jehudit (Jüdische Kraft), die 2012 als Zusammenschluss der rechtszionistischen Hatikva-Partei von Arieh Eldad und der Chasit-Jehudit-Partei von Michael Ben-Ari entstanden war. Otzma Jehudit war für die letzte Wahl im März 2021 eine Listenverbindung mit der nationalreligiösen HaTzionut HaDatit (Religiöser Zionismus) von Bezalel Smotrich und der orthodox-religiösen Noam-Partei eingegangen, die sich vor allem mit Kampagnen gegen LGBQ profiliert hat. Diese ultrarechte Liste konnte 5,11 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Und so eroberte mit Ben-Gvir ein weiterer Vertreter des Kahanismus einen Sitz in der Knesset – nachdem es bereits seinem Vorgänger Michael Ben-Ari, der 2009 ins Parlament gewählt worden war, gelungen war, dieser ultranationalistischen und fundamentalistisch religiösen Ideologie Akzeptanz in der israelischen Gesellschaft zu verschaffen. Das „neue Schreckgespenst der linken Mitte erzielt bereits Ergebnisse, von denen die wahre Linke nur träumen konnte“, meint Gideon Levy, einer der renommiertesten Journalisten Israels und Mitherausgeber der Tageszeitung Haaretz.3
Mit Terror für Apartheid und Vertreibung
Der Kahanismus strebt nach einer jüdischen Theokratie und der Errichtung eines Großisraels – durch die Annexion aller seit 1967 völkerrechtswidrig besetzten palästinensischen Gebiete und möglichst weiterem arabischen Land. Er ist von einem extremen Rassismus vor allem gegenüber muslimischen Arabern, aber auch afrikanischen Einwanderern geprägt, fordert Gefängnisstrafen für sogenannte Mischehen, befürwortet ein Apartheid-Regime und will perspektivisch die Vertreibung aller Nichtjuden aus Israel durchsetzen.
Vordenker und Gründer der Bewegung war Meir Kahane, der 1990 bei einem Attentat ums Leben kam. Der aus New York stammende Rabbiner war auch der Kopf der militanten Jewish Defense League (JDL), die in den 1960er-Jahren nach dem Vorbild der Terrororganisation Irgun entstanden und für Mordanschläge auf politische Gegner verantwortlich war. Kahane, ein ehemaliger Informant des FBI, wanderte 1971 nach Israel ein gründete dort als politischen Arm der JDL die Kach-Partei, mit der er 1984 einen Sitz in der Knesset erringen konnte. In den Folgejahren erlebte Kach einen enormen Aufschwung und konnte nach Umfragen sogar mit rund 10 Prozent bei der nächsten Wahl rechnen. Sie wurde aber 1988 wegen ihrer Propaganda für Gewalttaten gegen die arabische Minderheit und auch Drohungen gegen jüdische Regierungsbeamte nicht mehr zur Wahl zugelassen, 1994 nach dem Massaker des Terroristen Baruch Goldstein an Palästinensern in Hebron, bei dem 29 Menschen getötet und 150 verletzt wurden, sogar für illegal erklärt. Uri Avnery, der international bekannteste Vertreter der israelischen Friedensbewegung, der 2018 verstorben ist, hatte schon früh vor den Kahanisten gewarnt: „Als Kahanes Leute begannen, gelbe Hemden anzuziehen und in den Massenmedien wie Sturmabteilungen zu erscheinen, war die Ähnlichkeit zwischen Kahane und dem Nazivorbild beinahe perfekt“, sagte Avnery 1986 in einem Spiegel-Interview. „Auf der Straße entstand das Schlagwort ,Kahanazis‘.“4
Bündnis zwischen rechts und extrem rechts
Am 1. November wird nun mit Ben-Gvir ein Kahanist – wieder mit der Liste „Religiöser Zionismus“ – zur Wahl antreten, der den mächtigsten Verbündeten hat, der in Israel auf der Bühne der Politik zu haben ist: Benjamin Netanjahu. „Bibi“, wie er von seinen Anhängern liebevoll genannt wird, ist Führer der bürgerlich-rechten Likud-Partei. Er war bereits sechs Mal Ministerpräsident Israels, musste sich aber 2021 nach diversen Skandalen und Strafverfahren unter anderem wegen Korruption, die noch anhängig sind, knapp geschlagen geben.
Vergangene Woche trafen sich Ben-Gvir und Netanjahu, um ihre Wahlkampfkampagne und -strategie aufeinander abzustimmen. Das kommt wenig überraschend, denn seit einiger Zeit ist eine Annäherung zwischen Likud und den Rechtsextremisten zu beobachten. Beispielsweise hatte der Likud-Politiker Miki Zohar Ben-Gvir als „rechtsgerichtete Person, die unter dem Strich ihren jüdischen Stolz bewahrt hat“ gewürdigt.5 Es sind weitere Koordinierungstreffen zwischen Ben-Gvir und Netanjahu geplant.
Demoskopen prognostizieren ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Netanjahu und seinem Rivalen Jair Lapid von der liberalen Jesch-Atid-Partei um die Ministerpräsidentschaft. Keiner von beiden kann es sich leisten, auch nur wenige Stimmen zu verlieren. Netanjahu geht es daher vorwiegend darum, Ben-Gvir zu bewegen, seinen Wahlkampf auf das traditionell rechtsextreme Lager, vor allem im Umfeld der zunehmend militanten Siedlerbewegung, und jenen Teilen der Bevölkerung zu konzentrieren, die bisher nicht gewählt haben. Offenbar hat Netanjahu Angst, dass zu viele Likud-Anhänger nach rechts außen zu Ben-Gvir abwandern und ihm am Ende genau die Stimmen fehlen könnten, die ihn zurück an die Macht bringen.
Seine Befürchtungen sind wahrscheinlich berechtigt. Durch die israelische Gesellschaft ist in den vergangenen Jahren ein drastischer Rechtsruck gegangen. Derzeit können sich Ben-Gvir und Smotrich laut Umfragen durchaus Hoffnungen machen, ein zweistelliges Ergebnis einzufahren und mit ihrer Listenverbindung auf 14 Sitze in der Knesset kommen. Die gewalttätigen Übergriffe und Zusammenstöße, die von Gen-Gvir und seinen Anhängern permanent provoziert, häufig sogar planmäßig angezettelt werden, gehören zum Erfolgskonzept der rechten Hardliner.
„Wir befinden uns in einem Krieg“
Das seit seiner Gründung 1948 ohnehin von Kriegen, Krisen und einem blutigen Dauerkonflikt zwischen Juden und den brutal unterdrückten Palästinensern geschüttelte Land hat sich im vergangenen halben Jahr zu einem Pulverfass entwickelt. Laut besatzungskritischen Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen ist auch eine wachsende Unverhältnismäßigkeit der Gewaltanwendung des israelischen Militärs gegen die palästinensische Zivilgesellschaft in den besetzten Gebieten zu beobachten: Es gibt immer häufiger willkürliche Razzien und Verhaftungen in Dörfern sowie kollektive Bestrafungen palästinensischer Gemeinden als Vergeltung für Widerstandshandlungen einzelner Mitglieder, bei denen Sicherheitskräfte oder Zivilisten umkommen oder verletzt werden. Die Bewohner der Flüchtlingslager in Ostjerusalem erhielten keine medizinische Hilfe und Medikamente, die dringend benötigt würden, berichtet das jüdisch-palästinensische +972 Magazine. Das israelische Militär „dringt jede Nacht in Städte im gesamten Westjordanland ein, insbesondere in Nablus, Jenin und Ramallah, gibt Siedlern damit die Möglichkeit, in die Olivenhaine der Palästinenser einzufallen und sie noch weiter von ihrem Land in Masafer Yatta und den südlichen Hebron-Hügeln zu vertreiben“. Allein in diesem Jahr haben israelische Soldaten und Polizisten mindestens 165 Palästinenser getötet, zum Teil ermordet, die fast alle unbewaffnet waren, darunter viele Jugendliche und Kinder. „Wir befinden uns in einem Krieg, der sich vor unseren Augen abspielt“, so das +972 Magazine weiter.6 Es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Lage völlig eskaliere. Der Ausbruch einer dritten Intifada wird von Tag zu Tag wahrscheinlicher.
Geeignete Maßnahmen, die die angespannte Lage beruhigen könnten, etwa ein Baustopp für die illegalen jüdischen Siedlungen im Westjordanland und die Entschädigung von Palästinensern, die Opfer von physischer Gewalt oder Zerstörung ihres Eigentums durch die Grenzpolizei oder das Militär geworden sind, seien „jedoch für israelische Politiker, die die kommenden Wahlen am 1. November gewinnen wollen, unmöglich“, meint Shir Hever, Sprecher des Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern. Für „jeden Akt des Mitgefühls oder der Rücksichtnahme vor der Wahl würden diese Politiker als unpatriotische ,Araberliebhaber‘ gebrandmarkt werden.“7
Der Königsmacher und der Türöffner
Kriegszustände und rechtsextremistische Bewegungen befeuern sich seit jeher gegenseitig. Ben-Gvir, der nicht zuletzt wegen seiner Agitationskraft eine sehr hohe Zahl von Jugendlichen begeistere, ist auch zum Medienstar avanciert. „Um hohe Ratingquoten zu erlangen, wird er sehr häufig zu Interviews und Diskussionsrunden eingeladen“, nennt Moshe Zuckermann im Gespräch mit Hintergrund einen bedeutenden Faktor für die Popularität von Ben-Gvir. „Er ist Meister der aggressiven Demagogie.“
Diese Vorteile, verhängnisvolle Konstellationen und Dynamiken, die gegenwärtig unaufhaltsam erscheinen, bilden eine optimale Ausgangslage für Ben-Gvir, um bei der Knesset-Wahl ein Rekordergebnis für die Kahanisten zu erzielen und als Königsmacher für Netanjahu zu fungieren. Bereits bei der Wahl 2020 prangte auf Werbeplakaten von Otzma Jehudit direkt neben einem Fotoporträt von ihrem Spitzenkandidaten ein Bild von Netanjahu mit dem Slogan „Bibi gibt es nur mit Ben-Gvir“.
Ebenso wichtig ist aber der Likud-Chef für Ben-Gvir als Türöffner ins Regierungskabinett. Netanjahu sei längst „der Hauptgarant für die Legitimität, die Ben-Gvir erlangen konnte“, meint Zuckermann. Um seinen Rechtsblock zu festigen, in dem viele „gesinnungsmäßig nicht weit entfernt sind von Ben-Gvir“, habe Netanjahu den Zusammenschluss der rechtsradikalen Parteien forciert, sagt der in Tel Aviv lebende Historiker und Publizist. „Er nimmt nicht nur die Koalition mit den Faschisten in Kauf – er hat sie erfunden, für ihre Verwirklichung gesorgt und Ben-Gvir Eingang in den gesellschaftlichen Konsens verschafft.“
Rigorose Faschisierung
Für Zuckermann ist sicher, dass großes Unheil droht, wenn den Kahanisten der Sprung auf die Regierungsbank gelingen sollte. „Es wird ein Schlimmstes im Schlimmen.“ Da es in der Parlamentsgeschichte Israels noch nie eine Regierung mit der Beteiligung von Kahanisten gab, vermag Zuckermann noch nicht das Ausmaß einzuschätzen. Häufig würden Sachzwänge, mit denen Politiker in der Machtposition konfrontiert sind, radikale Anschauungen mäßigen. Es käme freilich auch darauf an, wie viele und welche Ministerien von rechten Ultras besetzt werden – Ben-Gvir ist Rechtsanwalt und somit für den Justizministerposten prädestiniert, auch das Innenministerium könnte an seine „Religiöser Zionismus“-Liste gehen.
In diesem Fall müsse damit gerechnet werden, dass Ben-Gvir nicht nur die Strafverfahren gegen Netanjahu zu dessen Gunsten beeinflussen, sondern auch die Legalisierung von selbst nach israelischem Recht illegalen jüdischen Siedlungen vornehmen werde. Gar nicht auszudenken, welche Alltagsbarbareien ein kahanistischer Innenminister als oberster Dienstherr der Sicherheitskräfte gegen die Palästinenser absegnen könnte. Zuckermann ist überzeugt, dass „das Land unter einer Regierung von Netanjahu und Ben-Gvir noch rigoroser faschisiert wird, als wir es bisher erlebt haben“.
Quellen
1 www.jewishexponent.com/2022/10/17/itamar-ben-gvir-draws-gun-during-stone-throwing-in-jerusalem/
2 www.timesofisrael.com/extremist-mk-ben-gvir-pulls-out-gun-during-sheikh-jarrah-clashes/
3 www.haaretz.com/opinion/2022-10-16/ty-article-opinion/.premium/ben-gvir-is-the-hope/00000183-dcc7-d5ee-a1cf-dce7318c0000
4 www.spiegel.de/politik/meir-kahane-ein-juedischer-nazi-a-8a9917b6-0002-0001-0000-000013518550?context=issue
5 www.timesofisrael.com/netanyahu-and-ben-gvir-meet-agree-to-coordinate-campaign-media-strategy-report/
Abo oder Einzelheft hier bestellen
Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.
6 www.972mag.com/jenin-refugee-camp-armed-resistance/?sourceid=1001761&emci=dc9c7b4f-b949-ed11-b495-002248258d38&emdi=29209ec0-574a-ed11-b495-002248258d38&ceid=297220
7 bip-jetzt.de/2022/10/15/bip-aktuell-232-aufstand-im-westjordanland/