Landesverteidigung

Wiedereinführung der Wehrpflicht würde Einsatzbereitschaft der Bundeswehr beeinträchtigen

In einem Interview hat Verteidigungsminister Boris Pistorius kürzlich die Wiedereinführung der Wehrpflicht ins Gespräch gebracht. Der Reservistenverband befürwortet dies und argumentiert damit, dass Deutschland zusätzliche Kräfte braucht, um die Landesverteidigung zu gewährleisten. Warum das Unfug ist und wie die Wiedereinführung der Wehrpflicht die Kampfkraft der ohnehin schwer gebeutelten Truppe einschränken würde, erklärt Oberstleutnant a. D. der Bundeswehr Jürgen Rose.

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Ein feierliches Gelöbnis für Wehrpflichtige wird es sobald nicht wieder geben – trotz einiger Vorstöße. (Zeremonie Januar 2009)
Foto: G.Czekalla Lizenz: CC BY-SA 3.0, Mehr Infos

Zum Interview mit Jürgen Rose

Braucht Deutschland wieder einen verpflichtenden Wehrdienst? Diese Frage hat einmal mehr Eingang in die öffentliche Debatte gefunden, nachdem Verteidigungsminister Pistorius in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung gesagt hatte, die Aussetzung der Wehrpflicht unter CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg 2011 sei ein Fehler gewesen. Schnell ist dem Minister der Präsident des Reservistenverbandes und ehemalige CDU-Abgeordnete Patrick Sensburg zur Seite gesprungen. Eine Aufstockung der Bundeswehr sei nur mit einer Wiedereinführung der Wehrpflicht zu meistern. Um genügend Personal für die Landesverteidigung zu haben, müsste die Bundeswehr laut Sensburg von derzeit 180.000 Soldaten und 30.000 Reservisten auf eine aktive Truppe von 350.000 Soldaten und etwa 1,2 Millionen Reservisten kommen. Dass die Truppenstärke durch einen verpflichtenden Dienst aufgestockt werden könnte, sagt auch Eberhard Zorn, Generalinspekteur der Bundeswehr. Aber eine Wehrpflicht wie vor 2011 findet er antiquiert. „Die Wehrpflicht, wie wir sie am Ende hatten, mit sechs Monaten Dienstzeit nur für Männer – das ist antiquiert. Auch Massenstreitkräfte mit einer Wehrpflicht für einen ganzen Jahrgang, das bekommen wir in unserer Struktur und mit unserem Etat nicht mehr hin“, sagte Zorn der Welt. Ihm schwebt ein Modell mit einem Jahr Dienstzeit für Frauen und Männer vor, wobei diese dann nicht nur für die Bundeswehr, sondern für „alle sozialen Dienste in der Zivilgesellschaft“ gelten soll – ähnlich der auch früher schon möglichen Wahl zwischen Wehr- und Zivildienst. „Ich könnte dabei jährlich 10.000 junge Menschen gewinnbringend in unser System integrieren“, so der Generalinspekteur. Dem Freiwilligendienst mit seinen unterschiedlichen Verpflichtungszeiten bescheinigte Zorn hingegen wenig Nutzen. 1

Kritiker dieses Modells stellen heraus, dass eine allgemeine Dienstpflicht allein schon aus logistischen Gründen nicht umsetzbar wäre. So erklärt Jürgen Rose, Oberstleutnant a. D. der Bundeswehr, im Gespräch mit Hintergrund: „Das bedeutet, jedes Jahr stehen ungefähr 800.000 junge Männer und junge Frauen, die das wehrfähige Alter erreicht haben, bereit, diesen Dienst abzuleisten. Die Bundeswehr wäre völlig überfordert, eine derartige Zahl an Wehrpflichtigen überhaupt aufzunehmen. Es gibt keinerlei Musterungsorganisation mehr wie früher in den Kreiswehrersatzämtern. Da stellt sich die Frage: Müssen diese Behörden neu gebaut werden? Überhaupt die Immobilien, die Infrastrukturen? Oder müssen die alten Kreiswehrersatzämter, soweit sie überhaupt noch stehen, leer geräumt werden? Wo kommen die Tausenden und Abertausenden von Ärzten und Ärztinnen her, die die jungen Männer und die jungen Frauen ja gesundheitlich mustern müssen?“ Hinzu kämen weitere Mitarbeiter, die die Tauglichkeitsprüfungen durchführen müssten. Auch Ausbilder müssten für die neuen Wehrdienstleistenden bereitgestellt werden, Kasernen modernisiert und neu gebaut werden. Für den Wiederaufbau dieser Strukturen müsse man mit mindestens fünf, eher zehn Jahren rechnen, so Rose. Dafür spreche auch die Erfahrung aus den frühen 1950er Jahren, als die Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde. „Die ersten Freiwilligen 1956 wurden in Andernach im Beisein von Konrad Adenauer als Bundeskanzler vereidigt. Aber dann dauerte es noch länger als ein Jahr, bevor die ersten Wehrpflichtigen tatsächlich eingezogen werden konnten. Und dann dauerte es mehr als zehn Jahre, bis die Bundeswehr dann als Wehrpflichtarmee einigermaßen parat stand.“ Dabei habe es damals in der BRD gefühlten Handlungsdruck gegeben, weil auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs sowjetische Panzer gestanden und somit eine reale Bedrohung dargestellt hätten, so Rose. Eine solche Bedrohung gebe es heute nicht. Selbst wenn man Russland als potentiellen Aggressor benennen wollte, so seien die Streitkräfte der NATO ihm um ein Vielfaches überlegen. Da die Bündnisverteidigung also gesichert sei, brauche Deutschland keine Wiedereinführung der Wehrpflicht mit der Begründung der Landesverteidigung. Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht würde zudem nicht nur viel Aufwand, Zeit und Personal erfordern, sondern auch große Kosten verursachen. Diejenigen, die dadurch die Einsatzbereitschaft und Kampfkraft der Bundeswehr erhöhen wollten, würden im Endeffekt das genaue Gegenteil erreichen und diese maximal beeinträchtigen, führt Militärexperte Rose aus.

Außerdem sei zu bedenken, dass die jungen Menschen nach dem Wehrdienst, der zuletzt gerade einmal sechs Monate betragen hatte, keinesfalls fertig ausgebildete Soldaten seien, denen man Aufgaben im Einsatz übertragen könnte. „Da können Sie einem Rekruten erklären, wo beim Gewehr vorne und hinten ist, damit er sich nicht selber erschießt, sondern wirklich den Feind, und dass er den linken und den rechten Stiefel nicht verwechselt.“ Für die Ausbildung bräuchte man mindestens anderthalb Jahre, auch vor dem Hintergrund, dass die Komplexität der modernen Waffensysteme enorm zugenommen habe. So aber würden die jungen Leute durch den Zwangsdienst beim Militär einfach nur Zeit verlieren, die sie in Ausbildung oder Studium investieren könnten. Statt das Personalproblem der Bundeswehr also durch die Wiedereinführung der Wehrpflicht lösen zu wollen, sollte man sich lieber überlegen, wie man das Potential an Reservisten besser ausschöpfen könne, so Rose. „Wir müssen das Potential an ehemaligen Soldaten, die in der Bundeswehr ja jahrelang gedient hatten und eben deswegen einen unglaublichen Erfahrungsschatz und eine unglaubliche Professionalität mit sich bringen, ausschöpfen. Diese Professionalität übersteigt die eines Wehrpflichtigen, der nur ganz kurz gedient hat, um Potenzen. Und da ist meines Erachtens der Gesetzgeber und auch die Bundeswehr natürlich gefordert, das dann umzusetzen. Das war eines der ganz großen Defizite bei der durch zu Guttenberg vorgenommenen, relativ plötzlichen Aussetzung der Wehrpflicht, dass man es versäumt hat, sich rechtzeitig Gedanken zu machen. Wie muss ein Reservistenkonzept aussehen, damit wir auch die benötigte Aufwuchsfähigkeit der Bundeswehr für den Verteidigungsfall sicherstellen können?“

Braucht Deutschland eine Verteidigungsarmee?

Angesichts des enormen personellen, finanziellen, logistischen und zeitlichen Aufwandes und der Frage der Zumutbarkeit eines verpflichtenden Wehrdienstes muss man sich fragen, ob die Bundesrepublik tatsächlich eine Armee zur Landesverteidigung braucht. Jürgen Rose erinnert daran, dass die Wiederbewaffnung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg unter großen Bedenken der Nachbarländer, allen voran Frankreichs, erfolgte und dass die Bundeswehr von vornherein als Bündnisarmee konzipiert war. „Man sagte, die Deutschen bekommen die Verfügungsgewalt über ihr Militär nur bis zur Divisionsebene, aber nicht darüber hinaus. Darüber hinaus sind es ausschließlich NATO-Strukturen, die darüber entscheiden, wo welche Truppe eingesetzt wird.“ Im Rahmen der NATO habe sich die Bundeswehr auch mit reduzierter Truppenstärke bewährt und sei in den vergangenen Jahrzehnten als Einsatzarmee an verschiedenen Missionen beteiligt gewesen. Sollte ein NATO-Land angegriffen werden, greife die Bündnisverteidigung. Wenn der Präsident des Reservistenverbandes Sensburg nach einer Wiedereinführung der Wehrpflicht aus Gründen der Landesverteidigung rufe, sei das „nationalistisch“, so Rose.

Davon abgesehen: Welcher Bedrohung ist Deutschland denn ausgesetzt? Das Szenario, das die baltischen Staaten und vereinzelt auch Stimmen in Deutschland heraufbeschwören, Russland werde nach der vollständigen Einnahme der Ukraine weiter nach Westen marschieren und europäische NATO-Staaten angreifen, hält Jürgen Rose für Unsinn. Sowohl Russland als auch die NATO täten alles dafür, den Konflikt nicht über die Grenzen der Ukraine hinaus zu tragen. Die USA würden zumindest bisher ausschließen, NATO-Truppen in der Ukraine einzusetzen – auch wenn in Wahrheit beispielsweise polnische Soldaten in ukrainischen Uniformen bereits im Kriegsgebiet kämpften. Auch glaubt der deutsche Militärexperte nicht daran, dass Russland die gesamte Ukraine einnehmen will. Seines Erachtens ist das Kriegsziel, die ehemals russischen Gebiete in der Ost-Ukraine, die Lenin in den 1920er Jahren per Dekret der Ukraine übergeben hatte und die bis heute russisch geprägt sind, zurückzuholen. „Wenn man genau hinguckt, mal die ideologischen Scheuklappen ablegt, dann scheint mir die Vorgehensweise auch vonseiten der russischen Führung sehr begrenzt, sehr selektiv, sehr bedacht zu sein, die Sache nicht über ein gewisses Maß hinaus eskalieren zu lassen.“ Wenn man betrachte, wie weit die russische Armee in einem Jahr des Krieges in der Ukraine vorangekommen sei, könne man hundert Jahre warten, bis der „böse Russe“ vor Deutschlands Tür stehe, fügt Rose hinzu.

Mehrheit lehnt Wehrpflicht ab

Offenbar ist eine Wiedereinführung der Wehrpflicht nicht nur problematisch in der Umsetzbarkeit und in ihrer Begründung schwer nachvollziehbar, sondern auch unbeliebt. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Katar im Auftrag der Organisation Greenpeace hat ergeben, dass weniger als die Hälfte der Befragten (46 Prozent) eine Wehrpflicht befürworten würden. 50 Prozent sprachen sich dagegen aus. In der Altersgruppe unter 29 Jahren gab es mit 58 Prozent mehrheitlich Zustimmung. Deutliche Unterschiede zeichnet die am Donnerstag veröffentlichte Studie bei den Zustimmungswerten unter den Anhängern der verschiedenen Parteien. So ist die Zustimmung unter FDP-Wählern mit 69 Prozent am höchsten, obwohl die Partei selbst eine Wiedereinführung der Wehrpflicht ablehnt. Dahinter folgen die Anhänger der Union (58 Prozent), der SPD (55 Prozent) und der AfD (50 Prozent). Die Anhänger von Grünen und Linken sprechen sich hingegen mehrheitlich gegen die Wehrpflicht aus. Gefragt, ob sie persönlich Wehrdienst leisten würden, antworteten 55 Prozent der Männer unter 30 Jahren mit Ja. Frauen in der gleichen Altersgruppe lehnten mit 67 Prozent mehrheitlich ab. Eine Aufstockung des Budgets über die 100 Milliarden Euro Sondervermögen hinaus um weitere 200 Milliarden Euro lehnt die Mehrheit der Befragten mit 48 zu 43 Prozent ab. Ein Grund dafür könnte sein, dass 66 Prozent der Befragten befürchten, die zusätzlichen Ausgaben für die Bundeswehr könnten zu Einschnitten in Bereichen wie Soziales und Klimaschutz führen. 2 Eine andere Umfrage hat ergeben, dass im Falle eines militärischen Angriffs auf Deutschland nur fünf Prozent der Befragten sich zum Kriegsdienst melden würden, 24 Prozent würden hingegen im Kriegsfall das Land so schnell wie möglich verlassen. 3

Wiedereinführung der Wehrpflicht – eine Scheindebatte?

Betrachtet man all diese Aspekte, scheint eine Wiedereinführung der Wehrpflicht unbegründet, unpraktikabel und deshalb auch unwahrscheinlich. Das sehen nicht nur einzelne Kritiker wie Jürgen Rose so. Warum wird also überhaupt wieder darüber diskutiert? Denkbar ist, dass der neue Verteidigungsminister damit ein Zeichen setzen wollte, ganz im Sinne der von Bundeskanzler Scholz angemahnten Zeitenwende. Nach dem Motto: Seht her, wir schauen nicht tatenlos zu, wie Putin sich die Ukraine und möglicherweise bald auch Deutschland unter den Nagel reißt. Manche Befürworter der Wehrpflicht sehnen sich vielleicht nach militärischer Größe und einer militärischen Führungsrolle Deutschlands in Europa. Andere wollen mit der neuen Dienstpflicht unter Umständen den Zivildienst durch die Hintertür, um dem Fachkräftemangel in sozialen Berufen, beispielsweise in der Pflege, entgegenzuwirken. Fest steht: In der Politik setzt sich niemand so richtig dafür ein.

Quellen

1https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-02/bundeswehr-wehrpflicht-reservistenverband

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2https://www.tagesspiegel.de/politik/wiedereinfuhrung-der-wehrpflicht-deutsche-sind-laut-umfrage-gespalten-9358031.html

3https://www.servustv.com/aktuelles/v/aacil8stj9shlq7p8xbi/

Interview mit Jürgen Rose

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