Wie demokratisch sind unsere Demokraten?
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Von RÜDIGER HAUDE, 16. Mai 2012 –
Ist dem Wahlkämpfer Norbert Röttgen ein „Fauxpas“ unterlaufen, ein „peinlicher Fehler“, wie die Medien schreiben? In der Talkshow „Log In“ des Fernsehsenders ZDF-Info sagte Röttgen am 8. Mai über die bevorstehende Ministerpräsident(inn)en-Wahl in NRW: „Bedauerlicherweise entscheidet nicht alleine die CDU darüber, sondern die Wähler entscheiden darüber.“ (1) Dieses Bedauern über die Kompetenz der Bevölkerung, also über die parlamentarisch-demokratische Verfassung unseres Gemeinwesens, erscheint bei näherer Betrachtung nicht als einfacher Fehltritt des Bundesumweltministers, und noch weniger als die „ironische“ Schnoddrigkeit, zu der Röttgen gleich anschließend selbst sein Statement verharmlosen wollte. Vielmehr handelt es sich um so etwas wie eine Freud’sche Fehlleistung. Der CDU-Politiker hat gesagt, was er tatsächlich im Grunde seines Herzens meint, was aber im Wahlkampf eigentlich nicht opportun hätte gesagt werden dürfen. Zum mageren Abschneiden der CDU bei den Landtagswahlen vom 13. Mai (ca. 26 Prozent) wird diese Entblößung ihren kleinen Beitrag geleistet haben. Dieser Fall wäre nicht weiter der Rede wert, wenn er nicht symptomatisch wäre für die aktuelle Entwicklung des politischen Diskurses in Deutschland und im Europa des Euro. Im Kielwasser der Finanzkrise im Euro-Raum ist auf breiter Front das Primat demokratisch legitimierter Politik außer Kurs gesetzt worden. Die
Unter dem Titel „ … kannste mal deine Fackel kurz da reinhalten?!!“ veröffentlichte die Badische Zeitung in Ihrer Ausgabe vom 11. Mai eine Karikatur von Horst Haitzinger. |
demokratischen Parteien sind fatalerweise die Hauptakteure in diesem Prozess der Entdemokratisierung. Mit Zweidrittelmehrheit haben Bundestag und Bundesrat im Jahr 2009 das Grundgesetz dahingehend geändert, dass nur noch eine bestimmte Haushaltspolitik, nämlich Austeritätspolitik, durchgeführt werden darf. Diese unter dem Namen „Schuldenbremse“ bekannt gewordene Maßnahme ist an sich hoch umstritten als Krisenbekämpfungsmittel. Dass abweichende, etwa keynesianische, Strategien für alle Zukunft unterbunden werden, stellt aber vor allem eine gravierende Entmachtung der demokratisch legitimierten Instanzen, der Parlamente und Regierungen, in einem der Kernbereiche ihrer Zuständigkeit dar. Dass der kollektive Aufschrei aller Demokraten hier unterblieb, ist ein beunruhigendes Zeichen für den Zustand unserer demokratischen Kultur. Seit dem „Fiskalpakt“ vom Dezember 2011 gilt diese Beobachtung für die Europäische Union insgesamt.
In Griechenland hatte Ministerpräsident Papandreou Ende 2011 bekanntlich die europäische Solidarität verspielt, als er das griechische Volk über die von Deutschland maßgeblich orchestrierten Spardiktate für sein Land abstimmen lassen wollte. (2) Die Parlamentswahlen am 6. Mai 2012 wurden dann, wenig überraschend, zu ebenjener Volksabstimmung. Die griechischen Wählerinnen und Wähler haben sich dagegen ausgesprochen, dass die Krise ihres Landes von den Lohn- und Rentenempfängern bezahlt werden soll, während die für die Krise mitverantwortlichen Banken ein weiteres Mal profitieren sollen. Im Großen und Ganzen also eine nachvollziehbare, vernünftige Entscheidung. Am selben Tag gewann in Frankreich der sozialistische Bewerber François Hollande die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen, unter anderem mit dem Versprechen, bei der Krisenbewältigung von der reinen Sparpolitik abweichen zu wollen. So weit, so gut. Aber wie ging die deutsche Öffentlichkeit mit diesen Vorgängen um?
Am Tag nach den Wahlen titelte z.B. die Financial Times Deutschland (ähnlich wie viele andere Medien): „Wahlen in Frankreich und Griechenland: Europa droht neues Chaos“. (3) Man muss sich diese Satzfügung auf der Zunge zergehen lassen. Noch vor zehn Jahren wäre ein Präsidentenwechsel in Frankreich zwischen Gaullisten und Sozialisten für demokratische Normalität gehalten worden – ja, ein friedlicher Regierungswechsel wurde von Konservativen geradezu als Bestimmungsmerkmal einer demokratischen Verfassung definiert. Heute wird so etwas unter „Chaos“ subsumiert, welches „droht“. Solches geschieht nicht nur in zugestandenermaßen wirtschaftsnahen Medien. Hören wir, wie eine der renommiertesten Talkshow-Moderatorinnen des deutschen Fernsehens, Anne Will, am 9. Mai ihre gleichnamige Sendung anmoderierte: „Heute, meine Damen und Herren, ist nicht einfach nur Mittwoch, sondern heute ist auch – Achtung! – ‚Europatag‘. Das würde, wenn man ehrlich ist, ansonsten auch schon kaum jemanden vom Hocker reißen; aber es wird in diesen Tagen nochmal bizarrer, da, egal wo in Europa – ob nun in Frankreich oder noch krasser in Griechenland – gewählt wird, es drunter und drüber geht und vor allem eins rauskommt: dass die Wähler uns ‘ne lange Nase zeigen.“ (4) „Uns“ zeigen „die Wähler“ eine lange Nase – wer ist dieses „wir“, in Gegenübersetzung zu „den Wählern“? Und wiederum: Ist es nachvollziehbar, dass es „drunter und drüber“ gehen soll, weil einmal in Frankreich nicht der gaullistische Gockel Sarkozy, sondern ein Sozialdemokrat gewonnen hat?
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In Griechenland scheint nun keine stabile Regierungsmehrheit denkbar zu sein, wobei die undemokratische Regelung im Wahlgesetz, die der konservativen Nea Dimokratia 50 Zusatz-Sitze im Parlament schenkt, nicht mehr wirklich hilft (ND hat knapp 19 Prozent der Stimmen erhalten und hält jetzt 36 Prozent der Parlamentssitze). Nun kommt es zu Neuwahlen. Ist es noch notwendig zu erwähnen, dass nach dem Duktus der deutschen Presse diese Neuwahlen „drohen“, wie zuvor das „Chaos“? (5) Die Zeiten, da – z.B. mit Blick auf den Zusammenbruch der DDR – die Teilnahmemöglichkeit an Wahlen geradezu als Inbegriff individueller Freiheit und nationaler Einheit beschworen wurden, (6) scheinen vorbei zu sein. Der unvermeidliche Karikaturist Horst Haitzinger lässt einen allegorischen Griechen einen Sportler, der das olympische Feuer trägt, auffordern: „Hallo Sportsfreund … kannst‘ mal deine Fackel kurz da reinhalten?!!“ Das, wo die Fackel reingehalten werden soll, ist eine Wahlurne mit der Aufschrift „Wahlergebnis 6.V 12“. (7) Nein, es sind nicht „die Griechen“, die ihr Wahlergebnis für verbrennenswert halten. Sie haben vielmehr für einen Politikwechsel gestimmt. Es ist die hegemoniale Diskursposition in Deutschland, die dabei ans Zündeln denkt. In der Verteidigung einer gescheiterten und unter ethischem Gesichtspunkt empörenden Wirtschaftspolitik scheinen die Vertreter dieser Position zunehmend bereit, die Idee der Demokratie zu opfern. Die Wähler haben das Thatcher’sche und Gerhard-Schröder’sche „There Is No Alternative“ (nämlich zu den neoliberalen Grausamkeiten) lange geschluckt. Beim ersten Anzeichen, dass sie nicht mehr mitspielen, stellt man ihren Status als Wähler zur Disposition.
(1) http://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Roettgens-peinlicher-Versprecher-Leider-entscheidet-der-Waehler-id20048146.html
(2) http://www.hintergrund.de/201205112055/feuilleton/zeitfragen/ich-wuerde-es-auch-kaufen-peter-gauweiler-lobt-sahra-wagenknechts-kapitalismuskritik.html
(3) http://www.ftd.de/politik/europa/:wahlen-in-frankreich-und-griechenland-europa-droht-neues-chaos/70032856.html
(4) http://mediathek.daserste.de/sendungen_a-z/328454_anne-will/10463218_griechen-und-franzosen-waehlen-den-sparkurs-ab-
(5) Vgl. z.B. Westdeutsche Zeitung, 10.5.2012: „Athen droht neue Wahl“.
(6) So noch am 18.3.2012 der Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) anlässlich der Bundespräsidenten-Wahl; vgl. http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-03/lammert-bundesversammlung-rede/seite-2
(7) Vgl. z.B. http://www.badische-zeitung.de/meinung/karikaturen/kannste-mal-deine-fackel-kurz-da-reinhalten (11.5.2012)