Wenn Wahlen etwas nicht verändern sollen ...
Drei Schicksalswahlen markieren fundamentale Brüche deutscher Geschichte und waren doch nur vorprogrammiert.

Demokratie und Wahlen – Veränderung als das Beständige
Demokratische Wahlen und die Unantastbarkeit der Verfassung, heute also des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, gelten als die unverrückbaren Eckpfeiler der Demokratie. Dass dieses Grundgesetz (GG) mittlerweile 68 mal verändert wurde, in Kleinigkeiten wie in großen Fragen des Anschlusses respektive Beitritts der DDR-Bundesländer (1990), der Einführung der Wehrpflicht (1955), der Integration eines Notstandsrechts (1968), das die Bundesrepublik zu einem kriegsfähigen Machtsystem nach außen wie nach innen macht, oder in der Kastrierung des Asylrechts (1993), wird meist großzügig übersehen. Nicht aber die aus dem Grundgesetz abgeleitete „wehrhafte Demokratie“, die ebenso gern rechts- wie linksextremistische Bestrebungen trifft, egal, ob sie es sind oder nicht.
Wichtiger aber: Die Bürgerinnen und Bürger sollen frei entscheiden, wie der politische Weg ihres Landes aussehen soll, sie haben Parlamente und damit indirekt Regierungen und Präsidenten zu wählen, gelegentlich auch in Volksabstimmungen zu entscheiden. Auch wenn heutige Wahlkämpfe mit ihren Kanzlerkandidaten und
-kandidatinnen es suggerieren, auch wenn Umfragen regelmäßig nach der Beliebtheit von Politikern beiderlei Geschlechts fragen, zum Schluss bleibt der Wählerin und dem Wähler doch nur die Entscheidung über Kandidatenlisten konkreter Parteien mit ihren offenen Programmen und verdeckten Zielen, auch wenn sie mit ihrer Stimme immerhin noch eine gewisse Personalauswahl treffen können.
Und genau genommen haben sie mit ihrer Stimmabgabe für die nächsten vier oder fünf Jahre ihre Stimme tatsächlich abgegeben. Denn die Abgeordneten sind nach geltendem Recht „nur ihrem Gewissen unterworfen“ (GG Art. 38), und niemand weiß so genau, wie das mit dem Gewissen, der Partei- und Fraktionsdisziplin, den materiellen und anderen, nennen wir es „Versuchungen“ so aussieht. Vor den Wahlen können Parteien und Kandidaten viel versprechen, einklagbar sind diese Versprechen ebenso wenig wie die guten Vorsätze zu Neujahr oder Weihnachtswünsche. Man müsse ja koalieren, müsse sich an Recht und Gesetz halten, auf die internationalen Bündnisverpflichtungen achten und so weiter.
Praktizierte Demokratie ist schwierig, und vor allem sie macht vor den Werktoren als dem zentralen Feld gesellschaftlichen Lebens und der Richtung gesellschaftlicher Entwicklung halt. Nur in der DDR erdreistete man sich, mehr zu wollen, und selbst in den Wendezeiten fanden diesbezügliche Regularien zu Lasten der unternehmerischen Freiheit Eingang in einen Verfassungsentwurf. Aber hier und heute ist anderes Usus. Denn höher als „die“ Demokratie steht der Wert des Eigentums. Dessen Sozialpflichtigkeit (GG Art. 14 Abs. 2) ist immer eine Sache der Auslegung.
Dafür ist aber dieses Grundgesetz so gut, dass alles unternommen wurde, um nach der Herstellung der Deutschen Einheit nicht wie in diesem Dokument gefordert eine gemeinsame neue Verfassung zu schaffen, gar den DDR-Verfassungsentwurf des Runden Tisches von 1990 aufzugreifen. Warum aber verspricht das Grundgesetz nur, dass eine „Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“ (GG Art. 146)? Die einfache Antwort: Wir haben das ja im Westen immer so gemacht.
Wahlen können etwas bewegen …
Auch wenn einst wohl Kurt Tucholsky gemeint haben soll, dass Wahlen nichts ändern, sonst wären sie verboten, ist das Leben doch noch komplizierter. In der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts wurden die Wähler und Wählerinnen (Frauen durften erst ab 1919 ihre Stimme abgeben, dazu bedurfte es der Novemberrevolution) immer wieder an die Urne gerufen, sie hatten scheinbar die Wahl, über Richtungen und Inhalte der Politik zu entscheiden. Das war so vor dem Ersten Weltkrieg, als Sozialdemokraten zu einer auch parlamentarischen Macht unter dem Kaiser wurden. Als radikale Opposition im August 1914 angesagt war, folgten Friedrich Ebert & Co. lieber dem Ruf des Kaisers, der nun keine Parteien mehr kannte. Sie stimmten für den Krieg um den Preis der großen Reformen nach dem Sieg. Die gab es nicht, aber unzufriedene Matrosen, Arbeiter, Arbeiterinnen, Soldaten hissten die rote Fahne.
Das war in den Entscheidungen vor allem um die Wende der 1920/30er Jahre so, wo Linke in SPD und KPD, andere demokratischen Parteien gegen die aufkommenden Faschisten Stärken und Schwächen demonstrierten. Nur, wider besseres Wissen verstanden sie nicht oder wollten nicht verstehen, dass ein gewisser Hitler nur gemeinsam hätte in die Schranken gewiesen werden können. Ein genauer Blick auf die Wahlergebnisse der Reichstagswahlen im Juli und November 1932 und der Reichspräsidentenwahlen zeigt, dass die NSDAP trotz ihres krisenbedingten Zulaufs bereits ihren Zenit überschritten hatte. Es bedurfte der Fürsprache der Wirtschaftseliten, eines stockreaktionären Paul von Hindenburg und der naiv-willfährigen Rechtskonservativen, um Hitler und seiner braunen Truppe die Macht zu übergeben. Die Angst vor einer linken Revolution verkleisterte die Gehirne.
Erst sowjetische und US-amerikanische Panzer sorgten dafür, dass die Deutschen wieder über die Demokratie und ihre jeweilige Ausgestaltung nachdenken konnten und nach faschistischer Verblendung, Antikommunismus und Terror, Demokratiezerstörung, Nationalismus und Judenmord, nach einem verbrecherischen Krieg ihr Schicksal wieder selbst gestalten konnten. Das war bei den Landtagswahlen nach 1945 in Zeiten der Befreiung und des potenziellen Neuanfangs jenseits von Faschismus und zerstörerischem Kapitalismus so. Es waren Wahlen in den Besatzungszonen, die eine neue politische Landschaft mit demokratischen Parteien von rechts bis links prägen sollten. Im Westen gehörten ganz selbstverständlich die Kommunisten dazu. Es war, wie in Hessen, möglich, Verfassungen zu schreiben und vom Volk abzusegnen, die die Sozialisierung wichtiger Industrien deklarierten. Im Osten ergab sich eine Konstellation, die die neuen Einheitssozialisten zur stärksten, aber nicht allein dominierenden Kraft machten. Der Kalte Krieg sorgte in West wie Ost dafür, dass Demokratie so buchstabiert wurde, wie es Truman und Stalin wollten. Im Westen wurden die Kommunisten verdrängt und antikapitalistische „Spinnereien entsorgt“. Im Osten sicherte sich die SED mit den Fraktionen der Massenorganisationen und im Zusammenwirken mit den auf ihren Platz verwiesenen bürgerlichen Parteien für die nächsten vier Jahrzehnte die Macht.
Und noch einmal hatten Wähler Steuerungsmöglichkeiten. In der BRD bei den Bundestagswahlen 1972, als sie Brandts Reformpolitik und vor allem die „neue Ostpolitik“ legitimierten. In der DDR sorgte 1968 eine Volksabstimmung zu einer neuen Verfassung mit klaren Mehrheiten, aber nicht einem Einheitsergebnis dafür, den eingeschlagenen Weg eines Realsozialismus auch per Wählervotum zu bestätigen.
Dennoch waren dies alles – auch angesichts der Systemkonkurrenz nach 1945 – eigentlich nur Episoden, die zwar Weichen verstellen konnten, aber unter dem Strich die Kontinuität west- und ostdeutscher Politik nur um – aus historischer Sicht – wichtige Nuancen beeinflussten. Ein Ausbruch aus dem bestehenden Gesellschaftssystem und der Block- wie Systemlogik war nicht möglich.
Zeitenwenden – ohne wirkliche Wahlmöglichkeiten
Es wird heute über vorgebliche „Zeitenwenden“ gefaselt und der neue kalte wie heiße Krieg des Westens gegen Russland und China dafür als Grundlage genommen. Nur, zumindest in der deutschen Geschichte gab es drei Zäsuren und damit verbundene Wahlen, wo es um alles oder nichts für Deutschland ging. Und die im strengen Sinne bei aller Spannung um ihr Ergebnis doch keine wirkliche Wahl brachten, weil es im Vorfeld klare Machtdemonstrationen mit offener Gewalt wie 1919 und 1933 oder in versteckter Form durch ökonomische Bestechung bzw. Erpressung 1990 gab.
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DR. SC. PHIL. STEFAN BOLLINGER, Historiker und Politikwissenschaftler, Autor zahlreicher Bücher zur deutschen und osteuropäischen Geschichte, Mitglied der Leibniz-Sozietät, der „Historischen Kommission“ beim Parteivorstand der Partei DIE LINKE, Stellv. Vorsitzender der „Helle Panke e. V.“ – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin.