Innenpolitik

„Uns ist kalt“

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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In der Hamburger Dratelnstraße frieren Flüchtlinge in improvisierten Zelten. Die Behörden wollen auch im Winter nicht auf diese Art der Unterbringung verzichten –

Von FABIAN KÖHLER, 4. November 2015 –

Drei Pullover, zwei Decken und einen Schlafsack hat sich Anas übergezogen. Auch die meisten anderen Flüchtlinge liegen bereits unter ihren Decken, dabei ist erst kurz nach acht. Aber ohne Licht und bei bis zu fünf Grad Minus in der Nacht ist die schmale Pritsche im ungeheizten Zelt noch der erträglichste Ort in der Erstaufnahme-Einrichtung im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg.

Vor zwei Monaten kam der 30-jährige Syrer Anas Tahan von Damaskus nach Deutschland. Ein Schlauchboot brachte ihn und vier Freunde aus der Türkei über die Ägais nach Griechenland. Zu Fuß durchlief er Serbien. Deutschland sah er das erste Mal aus dem Laderaum eines Kleinlasters. Nun lebt er mit 15 anderen in einem 25 Quadratmeter kleinem Zelt in der Hamburger Dratelnstraße. Ohne Strom und Licht. Und ohne Heizung.

„Kalt“ ist ein Wort, das so ziemlich alle Flüchtlinge auf Deutsch sagen können. Das Gegenteil von „kalt“ ist „Container“. „Wir fragen jeden Tag, wann wir endlich einen Platz im Container bekommen. Aber sie antworten nicht“, sagt Anas. Mit „sie“ meint er die wenigen Mitarbeiter des kommunalen Betreibers „fördern und wohnen“, die sich in dem Lager eigentlich um die Flüchtlinge kümmern sollten. Eigentlich. Im Empfangscontainer kontrollieren zwei Mitarbeiter die Ausweise der Flüchtlinge. Zu Mittag verteilen drei Ehrenamtliche Essen auf Pappgeschirr. Gelegentlich schlendern zwei Sicherheitskräfte an den Zelten vorbei oder machen zwei Mitarbeiter des Betreibers einen Rundgang durchs Lager. Mehr sichtbare Betreuung gibt es nicht. „Ich kann nichts Schlechtes über die Security sagen“, sagt Anas und grinst: „Man sieht sie ja nie.“

Zu viele Flüchtlinge stießen auf zu wenig Vorbereitung

Nachdem auch in Hamburg zu viele Flüchtlinge auf zu wenig Vorbereitung stießen, hatten die Behörden der Stadt kurzfristig über 2 200 Menschen in dem Lager auf dem ehemaligen Parkplatz untergebracht. Rund die Hälfte von ihnen lebt wie Anas in Zelten. Ohne Betreuung, mit zu wenig Toiletten, ohne Licht und Strom. Vor allem aber ohne Konzept, was passieren soll, wenn die Sonne nicht mehr ausreicht, um die Menschen zu wärmen.

“Wir fragen jeden Tag nach einem Platz im Container”, sagt der Syrer Anas. Antwort bekommt er nicht.

Zwei Tage habe er gebeten, zum Arzt gefahren zu werden, erzählt der Jezide Rassul. „Sie haben gesagt, ich soll mit seinem Taxi fahren und müsse das auch noch selber bezahlen.“ Ein anderer Flüchtling habe ihm schließlich Medikamente aus der Apotheke besorgt. Wie bei vielen hier werden seine Erzählungen unterbrochen vom Husten. Hunderte Flüchtlinge sind allein in den drei Zeltlagern in Hamburg erkrankt. Viele leiden unter Bronchitis und Lungenentzündung. Auch Schwangere und Babys schlafen in den Zelten. Medizinische Versorgung gibt es dennoch kaum. „Es war schon vor der Kälte schlimm“, sagt Anas. Aber nun hätten einige sogar Angst um ihr Leben.

Über 40 000 Menschen leben in Deutschland in Zelten

Über 300 000 Flüchtlinge leben zurzeit in Deutschland in Erstaufnahme-Einrichtungen. Nach Recherchen der Tageszeitung Die Welt haben allein die 16 Bundesländer rund 42 000 Flüchtlinge in Zelten untergebracht. Hinzu kommen noch Tausende in den Zeltlagern der Kommunen. Während es Bundesländer wie Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, das Saarland und Thüringen schaffen ganz auf Zelte zu verzichten, liegt ausgerechnet das reiche Hamburg an der Spitze menschenunwürdiger Unterbringung. Rund 4000 Flüchtlinge leben in Zelten, von denen nur einige hundert beheizt sind. Schlechtere Chancen auf einen warmen Schlafplatz haben Flüchtlinge nur in Rheinland-Pfalz und Hessen, wo 3200 von 9650 bzw. 6900 von 18 000 Flüchtlinge in Zelten untergebracht sind.  

Vor ein paar Tagen haben Anas und andere Bewohner der Dratelnstraße einen kleinen Sitzstreik vor ihrem Lager organisiert, um gegen die Unterbringungsbedigungen zu protestieren. „Uns ist kalt“, skandierten rund 100 Flüchtlinge Mitte Oktober vor dem Hamburger Rathaus. Die Bürgerschaftsfraktion der Grünen empfing daraufhin sechs Demonstranten zu einem Gespräch. Passiert ist dennoch kaum etwas. Stattdessen entlädt sich der Frust der Flüchtlinge immer öfter untereinander. Bis zu 60 Flüchtlinge gingen vor zwei Wochen in der Dratelnstraße aufeinander los. Im Flüchtlingslager in Hamburg-Jenfeld drohten Bewohner, ihre Zelte anzuzünden, sollte man sie nicht in warme Unterkünfte verlegen.

Auch die Helfer rufen um Hilfe

Protest gegen menschenunwürdige Unterbringung: Sitzstreik von Flüchtlingen in Hamburg

Im mit 3000 Flüchtlingen größten Hamburger Erstaufnahmelager in der Schnakenburgallee sei die Situation „kurz vor dem Kippen“, zitiert das Hamburger Abendblatt aus einem Lagepapier der Polizei. In einer internen Mail schreibt die Leiterin  des Lagers in der an den Betreiber „fördern und wohnen“: “Wir sitzen hier auf einem Pulverfass. Wir vermuten, dass das bald hochgehen wird (…). Wir können das hier nicht mehr verantworten.”

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Noch drastischer formulieren es Helfer in Berlin. Im Zeltlager auf dem Gelände der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne in Berlin-Spandau und vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) frieren dort noch immer hunderte Flüchtlinge. In einem offenen Brief schreibt die Direktorin der Caritas Ulrike Kostka von Kleinkindern, „die zitternd und blau angelaufen in der Kälte stehen. Wir können nicht mehr ausschließen, dass Menschen sterben.“

In Hamburg liegt Anas größte Hoffnung in einer der Holzhütten, die momentan in der Dratelnstraße aufgebaut werden. 16 Menschen sollen dort auf 25 Quadratmeter leben. Platz für alle Flüchtlinge wird es dort allerdings auch nicht geben. In einer Regierungserklärung kündigte, Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz vor Kurzem an, Flüchtlinge auch im Winter in Zelten unterbringen zu wollen.

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