Tatsächliche Opferzahlen des Massakers von Kundus bekanntgegeben: 179 zivile Opfer und 5 Taliban!
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Ex-Verteidigungsminister Franz Josef Jung tritt von seinem neuen Ministeramt zurück und hinterlässt eine blutige Spur der Vertuschung –
Von THOMAS WAGNER, 27. November 2009 –
Die Anwälte der Opfer des von der Bundeswehr angeforderten Luftangriffs auf zwei Tanklastwagen im afghanischen Kundus haben auf einer Presskonferenz in Berlin am heutigen Freitag ihre Entschädigungsforderungen an die Bundesregierung erneuert. Bisher habe das Verteidigungsministerium nicht auf das Angebot für außergerichtliche Gespräche über einen Schadenersatz reagiert, sagten die Anwälte.
Die Zahl der zivilen Opfer, die ein Team um den Bremer Anwalt Karim Popal bei Recherchen vor Ort ermittelt hat, ist dramatisch höher als die, die das Bundesverteidigungsministerium und die NATO der Öffentlichkeit übermittelten.
Die von Popal vorgestellte Liste umfasst 179 zivile Opfer. Davon wurden 20 Personen verletzt. 22 Personen sind verschollen. Alle anderen sind verstorben. Die verstorbenen Personen schlüsselte Popal nach verschiedenen Kriterien auf. Zunächst nach Altersklassen:
Unter den toten Zivilisten sind demnach 36 Kinder im Alter von fünf bis sechzehn Jahren, 33 Personen im Alter von siebzehn bis siebenundzwanzig Jahren, 67 Personen im Alter von achtundzwanzig bis fünfundfünfzig Jahren.
91 Verstorbene waren verheiratet. Sie haben Familien mit ein bis sieben Kindern gehabt. 91 Frauen wurden Witwen. Diese Frauen sind zwischen achtzehn und vierzig Jahren alt. Diese Frauen, so Popal, haben den in Afghanistan so wichtigen Ernährer der Familie verloren. Niemand kümmere sich um diese Frauen. 163 Kinder seien zu Waisen gemacht worden. Das sei eine humanitäre Katastrophe.
Nur bei fünf Personen, die bei dem Bombardement der Tanklastwagen ums Leben gekommen seien, handele es sich um Talibankämpfer.
Karim Popal, sein Anwaltskollege Markus Goldbach und ein afghanisches Team, das unabhängig von der als korrupt geltenden Regierung und unabhängig von den Taliban ist, haben nach eigenen Angaben von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf recherchiert.
Ihre Zahlen haben sie sich vom Gouverneur des zuständigen Distrikts Chahar Darreh, vom Parlament in Kabul und vom Provinzparlament, dem so genannten Provinzrat, bestätigen lassen.
Auf Kriegsfuß mit der Verfassung – Franz Josef Jung.
Ein Rückblick auf die Amtsführung des Ex-Verteidigungsministers
In den ersten Wochen nach dem blutigen Angriff auf über hundert Menschen in der Nähe der beiden Tanklastwagen wurde die Desinformationspolitik des Verteidigungsministeriums selbst innerhalb der damaligen großen Koalition kritisiert. Jung erklärte wiederholt, bei der von der Bundeswehr angeforderten Bombardierung der Tanklastwagen seien ausschließlich Talibankämpfer getötet worden und er sah keine Notwendigkeit, eigene Untersuchungen anzuordnen. Doch schon seine zuvor praktizierte verstockte und ungeschickte Art, mit der er der deutschen Öffentlichkeit die ständige Ausweitung der Bundeswehr-Kampfzone seit seinem Arbeitsbeginn am 22. November 2005 darzustellen versuchte, hatte immer wieder für Kontroversen und Kritik aus der Opposition gesorgt.
Den roten Faden in Jungs Amtsführung bildeten stets neue Anläufe, die Kompetenzen der Bundeswehr auszudehnen und vormals zivile Aufgabenbereiche zu militarisieren.
Als sein Versuch, die Bundesluftwaffe zum Abschuss von entführten Passagierflugzeugen zu ermächtigen, 2006 vom Bundesverfassungsgericht gestoppt worden war, erklärte Jung starrsinnig unter Berufung auf einen „übergesetzlichen Notfall“ gegebenenfalls dennoch einen Abschussbefehl erteilen zu wollen.
Der Bundesverteidigungsminister war verantwortlich für die verfassungswidrigen Tiefflüge von Tornado-Kampfflugzeugen über dem Camp der Globalisierungskritiker während des G-8-Gipfels 2007 in Heiligendamm.
Die Entführung des Frachters Hansa Stavanger durch somalische Piraten im August 2009 nahm Jung zum Vorwand, um zum wiederholten Male vorzuschlagen, künftig die Bundeswehr zur Befreiung von Geiseln einzusetzen. Dafür wollte er das Grundgesetz ändern.
Scharf kritisiert wurden diese Vorstöße von den Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag, sogar vom Koalitionspartner SPD, von der Deutschen Polizeigewerkschaft und aus den Reihen der Bundeswehr. Der Wahlkampf von Kanzlerin Merkel blieb durch Jungs Vertuschungen und die geschönten Opferzahlen relativ unbeschädigt. Der jetzige Rücktritt von seinem neuen Amt als Arbeitsminister soll helfen, die politischen Wogen – ausgelöst durch das Bekanntwerden bislang vom Veteidigungsministerium verheimlichter Dokumente – zu glätten. Eine lückenlose Aufklärung der Mordnacht von Kundus ist damit noch lange nicht gewährleistet, denn auch die Kanzlerin hatte in den letzen Monaten nicht den Eindruck vermittelt, an einer unabhängigen Aufarbeitung des von der Bundeswehr zu verantwortenden Vorfalls interessiert zu sein.
„Geschönte“ Opferzahlen
So gab sie sich mit den fragwürdigen Zahlenspielereien ihres ehemaligen Verteidigungsministers stets zufrieden. Besonders viel Energie legte das Verteidigungsministerium nämlich in die Übung, die eigenen Erklärungen zu den Vorfällen vom 4. September durch den Verweis auf afghanische Darstellungen zu bestätigen. Doch dabei verwickelte sich selbst Jungs Pressesprecher Thomas Raabe in Widersprüche. So zitierte er am 7. September 2009 aus einem Schreiben des Gouverneurs Mohammed Omar (1) und mehrerer Offizieller der Provinz Kundus vom Vortag an den afghanischen Präsidenten Karzai, dass bei dem Luftangriff „ausschließlich regierungsfeindliche Kräfte getötet worden seien“.
Mit dem gleichen Brief versuchte Jung dann durch seinen Sprecher belegen zu lassen, dass die von der Bundeswehr schon am Morgen nach dem nächtlichen Massaker genannte Zahl von 56 getöteten Kämpfern nach dem damaligen Wissensstand korrekt gewesen sei. Denn auch dort habe es geheißen: „Durch die Explosion wurden 56 bewaffnete Personen getötet und zwölf Personen verletzt.“
Auf die Bemerkung eines Journalisten, dass dieses Schreiben wohl nicht in der Nacht verfasst worden sein konnte, erwiderte Raabe: „Es muss aber so verfasst worden sein, dass es Freitag früh vorlag.“ Wie zentral der besagte Brief für die Darstellung des Ministeriums war, zeigt der Sachverhalt, dass er von Raabe eine Woche später noch einmal herangezogen wurde. Diesmal, um zu erklären, warum das Ministerium so frühzeitig und eindeutig erklärt hatte, dass es keinerlei zivile Opfer gegeben hat: „Dort hatten wir etwas Schriftliches in der Hand, was belastbar war“, sagte Raabe am 14. September.
Merkwürdig bzw. widersprüchlich ist in diesem Zusammenhang mancherlei: Zum einen, dass der Bundeswehr bereits am Morgen des Luftangriffs ein Schreiben des Provinzgouverneurs an Karzai vorgelegen haben soll, das dieser aber erst zwei Tage später erhielt.
Zum anderen nannte derselbe Provinzgouverneur noch im Laufe desselben Tages, an dem der Bundeswehr sein Brief vorgelegen haben soll, ganz andere Opferzahlen, als Raabe aus dem besagten Brief zitierte. In der ersten dpa-Meldung vom Freitag nach der Bombardierung der zwei Tanklastwagen hieß es nämlich: Nach Angaben der Bundeswehr seien 56 Menschen ums Leben gekommen. Der Gouverneur der Provinz Kundus, Mohammed Omar, habe die Zahl der Getöteten dagegen mit 90 angegeben. Davon seien 45 Taliban einschließlich ihres Kommandeurs gewesen.
In den ersten fünf darauf folgenden dpa-Meldungen vom selben Tag (8:37, 8:53, 10:38, 11:05 und 11:18 Uhr) bleibt es bei dem Unterschied zwischen den von der Bundeswehr und den von Gouverneur Omar genannten Zahlen. Erst um 12:02 Uhr meldet dpa dann überraschend, der Gouverneur der Provinz Kundus habe seine Zahlenangaben nach unten korrigiert. Zwischen 50 und 60 Menschen seien getötet worden: „Die meisten davon waren bewaffnete Taliban.“ Damit näherte sich Omar in auffälliger Weise den Bundeswehrzahlen an. Sein Polizeichef Abdul Rasak Jakubi nannte sogar exakt dieselbe Zahl wie das deutsche Kommando im Kundus: 56 tote Talibankämpfer.
Im Gegensatz dazu standen schon damals jene Zahlen, die Abdul Wahid Omarkhel, Gouverneur des Kundus-Distrikts Char Darah, einer Delegation des Präsidenten Hamid Karzai nach Gesprächen mit Dorfältesten übergab. Omarkhel sprach am 7. September gegenüber dpa von insgesamt 135 Todesopfern, darunter eine große Anzahl von Kindern im Alter zwischen 10 und 16 Jahren.
Für den deutschen Anwalt der Opfer-Familien, Karim Popal, ist die Provinzregierung keine vertrauenswürdige Instanz. „Der Gouverneur von Kundus ist eine Marionette“, sagte er im Gespräch mit Hintergrund. Sie sei darum bemüht, ihre deutschen Freunde zufrieden zu stellen.
Die genannten Widersprüche und Ungereimtheiten nähren den Verdacht, dass die Bundeswehr sich kurz nach dem Bombardement mit dem Gouverneur von Kundus auf „geschönte“ Opferzahlen einigte, die den Interessen des deutschen Verteidigungsministeriums vor der Bundeswahl entgegen kamen. Möglichst viele der Getöteten sollten als gefährliche Talibankämpfer, möglichst wenige als Zivilisten erscheinen.
In ihrer Regierungserklärung vom 8. September 2009 zu dem Bombardement beteuerte Kanzlerin Angela Merkel dann auch: „Jeder in Afghanistan unschuldig zu Tode gekommene Mensch ist einer zu viel.“ Doch schon die bisher geleisteten Entschädigungszahlungen sprechen eine deutlich andere Sprache. Sie zeigen, wie wenig Wert das Leben der getöteten Afghanen für die Bundesregierung wirklich hat. Nur 1.000 Euro erhielten einige wenige Angehörigenfamilien pro getötetem Familienmitglied, insgesamt wurde eine „Entschädigung“ für 30 Opfer gezahlt. Für Rechtsanwalt Karim Popal und sein Team ist das ein Skandal.
Die Opferanwälte um Karim Popal haben eine Webseite eingerichtet: http://www.kunduzvictims.com/
(1) Der Gouverneur der Provinz Kundus, Mohammad Omar hatte unmittelbar nach dem Anschlag gegenüber dem Spiegel erklärt, das Bombardement sei „die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit“ gewesen. „Bei uns sind keine Beschwerden über zivile Opfer eingegangen“, wusste er ferner zu berichten. „Augenzeugen“ hätten ihm bestätigt, dass am Ort des Geschehens neben 60 bewaffneten Taliban nur „15 bis 20 weitere Personen“ gewesen seien. Und um die sei es auch nicht schade, denn wer sich bei den bombardierten Tanklastern aufgehalten habe, müsse kriminell oder Unterstützer der Taliban gewesen sein. Der britischen Nachrichtenagentur Reuters hatte Omar schon am Sonnabend (5. September) triumphierend erklärt: „Die Dorfbewohner haben den Preis dafür bezahlt, dass sie den Aufständischen helfen und ihnen Unterschlupf gewähren.“
Mohammad Omar, der von Franz Josef Jung zitierte "Zeuge", stand vor kurzem noch auf der Abschussliste der Bundesregierung. Der Spiegel berichtete am 25. Mai 2009 unter der Überschrift „Tot oder lebendig“, dass sich Spitzenbeamte der Bundesregierung seit Ende 2008 im Verteidigungsministerium treffen, um zu beraten, wie man der zunehmenden Ausbreitung der Aufstandsbewegung in der deutschen Besatzungszone Herr werden könnte. Dazu hieß es wörtlich:
„Als Problem gilt vor allem der Gouverneur der Provinz Kunduz, Mohammed Omar. Der BND hat Omar mehrfach dabei beobachtet, wie er lokalen Taliban-Größen vertrauliche Informationen weitergab, er soll außerdem tief in den Drogenhandel verstrickt sein. Teile seiner Polizei stehen im Verdacht, Taliban-Sympathisanten zu sein. (…)
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Mohammad Omar ist seit März 2004 Gouverneur von Kundus. Zuvor hatte er die gleiche Position in der benachbarten Provinz Baghlan, die ebenfalls zur deutschen Besatzungszone gehört. Dort musste er seinen Abschied nehmen, weil viele Bezirksverantwortliche sich weigerten, mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Rede war von der Führung eines Privatgefängnisses, Folter, Bestechung und Korruption, Diebstahl von Land und anderem fremden Eigentum, sowie zahlreichen weiteren Menschenrechtsverletzungen.
Vorher gehörte Omar der fundamentalistischen Organisation Ittehad-e-Islami an, die – vor allem aus Saudi-Arabien finanziert – im Bürgerkrieg eine böse Rolle spielte. Zu den ihr angelasteten Verbrechen gehören Massaker an der schiitischen Minderheit Nordafghanistans. Umgetauft auf den Namen Islamische Dawah Organisation ist die Mörderbande jetzt eine der staatstragenden Parteien Afghanistans.
Vgl: Knut Mellenthin in "Der Ertrinkende und sein Strohhalm "