Innenpolitik

„Streng vertraulich“ - ist der Verteidigungsminister auf Kriegskurs?

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Fregatten und Piratenjagd –

Von REGINE NAECKEL, 14. Dezember 2008 –

Gestrahlt hat Franz Josef Jung am Mittwochabend vor der Fernsehkamera, als er im ZDF erklärte, nun endlich gäbe es für die Deutsche Marine[1] ein „robustes" Mandat im Golf von Aden. Es geht um den EU-Kampfeinsatz "Atalanta" [2], bei dem unter dem Vorwand der Piraterie-Bekämpfung erstmals Kriegsschiffe und Aufklärungsflugzeuge der Mitgliedsstaaten unter europäischem Kommando und EU-Flagge operieren. Ziel ist es – so der Verteidigungsminister – Angreifer abzuwehren. Dabei ist mit dem neuen Mandat das Risiko militärischer Auseinandersetzungen weitaus höher, als bei bisherigen Missionen in der Region. Denn "robust", das erklärte Jung, heißt nichts anderes, als dass der Gebrauch von Waffen nun erlaubt sei.

Im Schnellverfahren hatte die EU im November den gemeinsamen Einsatz beschlossen und bereits am vergangenen Montag vereinbarten die Außenminister den detaillierten Operationsplan. Atalanta, der Name der Anti-Piraterie-Flotte, ist mit Bedacht gewählt: Atalanta war in der griechischen Mythologie eine amazonenhafte Kämpferin, oder anders gesagt: Wo sie aufkreuzte, floss Blut. Denn sie war eine exzellente Bogenschützin.

Der Verteidigungsminister setzt mehr auf Maschinengewehre, Raketen und Hubschrauber. Abschrecken, verfolgen und fassen – damit soll der freie Seehandel in den Piratengewässern garantiert werden. Immerhin umfasst die deutsche Handelsflotte über 3200 Schiffe, davon fahren allerdings nur 560 unter deutscher Flagge.[3] Mit einer Kapazität von über 68 Millionen Bruttoregistertonnen liegt die deutsche Handelsmarine damit auf Platz drei in der Welt, hinter Griechenland und Japan. Die deutsche Containerschiffsflotte ist die größte der Welt! [4]

Unter dem Vorwand der Humanität versucht die Bundesregierung nun, für den Militäreinsatz zu werben. Ungeachtet der Tatsache, dass jedes Kriegsschiff überhaupt nur in einem begrenzten Aktionsradius Hilfe leisten könnte, gaukelt der Verteidigungsminister der Öffentlichkeit vor, die EU-Operation würde nach einer Drei-Punkte-Prioritätsliste erfolgen: Danach sollen zuerst die Schiffe im Welternährungsprogramm Geleitschutz erhalten, dann kommen die Schiffe im humanitären Einsatz und schließlich die Handelsschiffe unter der Flagge jener europäischen Länder, die an dem Einsatz beteiligt sind. Ganz am Schluss kommen sonstige Schiffe -so die offizielle Version. Das alles will man mit sechs Fregatten in einem riesigen Seegebiet leisten (s.u.). Vergnügungsreisen in die Region hält Franz Josef Jung für unverantwortlich. Und er klingt sehr national, wenn er erklärt: "Schiffe, die unter Billigflagge oder fremder Flagge fahren und keine deutsche Besatzung an Bord haben, genießen nicht erste Priorität. Deutsche Reeder, die unter deutscher Flagge mit deutscher Besatzung fahren", haben Anspruch auf militärischen Schutz.

Am Mittwoch stimmte das Kabinett in Berlin der deutschen Teilnahme an dem EU-Einsatz zu. Die Fregatte Karlsruhe, bis vor kurzem neben dem deutschen Versorgungsschiff Rhön Teil der "Standing NATO Maritime Group2" (SNMG2) im Mittelmeer, soll vorerst das deutsche Atalanta-Kontingent stellen. Die Fregatte war bereits bei anderen Einsätzen (s.u.) erfolgreich gegen Piraten, so kam sie unter anderem Mitte November dem äthiopischen Handelsschiff Andinet per Bordhubschrauber zu Hilfe und vertrieb zwei "verdächtige Schnellboote". [5] Vor kurzem wurde sie aus der SNMG2 ausgegliedert und zeitweise der US-geführten OEF (s.u.) unterstellt, sie ist also schon vor Ort. So braucht die Karlsruhe unmittelbar nach der parlamentarischen Zustimmung nur für den Auftrag "Atalanta" umgewidmet werden.

Die Operation Atalanta ist zunächst bis zum 15. Dezember 2009 festgeschrieben. Bis zu 1400 deutsche Soldaten könnten laut Regierungsantrag daran teilnehmen, 1,9 Millionen Euro betragen allein im Rest des Jahres 2008 die Zusatzkosten für den Bund, im nächsten Jahr wird der Einsatz mit 43,1 Millionen Euro zu Buche schlagen. Das sind Kosten, die durch den Einsatz im Golf von Aden zusätzlich entstehen, die "normalen" Unterhaltungskosten des Marinekontingents sind in dieser Rechnung nicht enthalten.

Zur Zeit kreuzen schon mehrere Verbände in dem Seegebiet zwischen Puntland und Jemen, dem Golf von Aden, sowie vor der somalischen Küste: "Allied Provider", ein ausgelagerter Teil der SNMG2, eskortiert Schiffe des Welternährungsprogramms und die Combined Task Force 150 der "Operation Enduring Freedom" (OEF) agiert im Moment multifunktional. Laut Website der Marine [6] leistet dort die Fregatte Mecklenburg-Vorpommern den deutschen "Beitrag zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus". Doch zum Teil ist auch sie auf Piratenjagd, denn laut Einsatzführungskommando der Bundeswehr kann man "Terroristen- und Piratenboote nicht wirklich unterscheiden" (s.w.u.). Darüber hinaus sind eine Vielzahl Kriegsschiffe unter nationaler Flagge[7] zur Piratenjagd oder zum bloßen Schutz von Frachtschiffen in der Region: aus Russland, Indien, Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien sowie eine unbekannte Zahl von Schiffen der Fünften US-Flotte. All diese Staaten sind mit Fregatten, Tankern, Kreuzern oder sogar Zerstörern unterwegs und wollen so gerüstet den Piraten in ihren kleinen Schnellbooten das Handwerk legen.

Wie die tatsächlichen Befugnisse und die Hauptaufgaben der Operation "Atalanta" – im offiziellen Sprachgebrauch "EU NAVFOR Somalia" – nach Meinung der EU aussehen werden, erläuterte am 9. Dezember 2008 der britische Admiral Phillip Jones, militärischer Leiter der Mission, während einer Pressekonferenz in Brüssel.[8] Es ist danach ausdrücklich vorgesehen, "bewaffnete Einheiten" auf den Frachtern – zumindest des Welternährungsprogramms – zu stationieren. Sechs Fregatten, Marinehubschrauber, ein Versorgungsschiff und drei Aufklärungsflugzeuge sollen präsent sein – eine Erweiterung des Aufgebotes ist möglich. Neben dem Schutz von Handelsschiffen gehört zu den weiteren Aufgaben der Mission die Überwachung der Gewässer in einem 500 Seemeilen (das sind knapp 1000 km) breiten Streifen vor der somalischen Küste, einschließlich der Territorialgewässer (!) des Landes.

Als rechtliche Grundlage gilt die UN-Sicherheitsratsresolution 1846 vom 2. Dezember 2008. An diesem Tag endete die ähnlich lautende Resolution 1816 vom Juni 2008. Bereits seit diesem – von den USA und Frankreich eingebrachten – Beschluss ist der Einsatz de facto gedeckt: Die somalische "Übergangsregierung", die kaum noch jemanden repräsentiert, hat zuvor geradezu darum ersucht und schriftlich einem militärischen Einsatz in den Hoheitsgewässern zugestimmt. Laut Resolution müsste allerdings jede dieser Aktionen eigens von der "Übergangsregierung" genehmigt werden, was angesichts der im Ernstfall gebotenen Eile völlig unpraktikabel wäre.

Wie allerdings die von der EU beschlossenen "Rules of Engagement", also die militärischen Einsatzregeln, in Einzelnen aussehen, unterlag der Geheimhaltung (s.w.u.). Bekantgegeben wurde nur so viel: Die Kriegsschiffe der Atalanta-Operation sind in dem gesamten Seegebiet formal bevollmächtigt, die "notwendigen Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Gewalt" zu ergreifen, um Piraten abzuschrecken, ihre Angriffe zu verhindern oder in diese einzugreifen.[9] Personen, die sich der Piraterie schuldig oder verdächtig gemacht haben, dürfen von den Soldaten festgenommen werden. Doch spätestens da fängt nach Ansicht von Kritikern ein verfassungsrechtliches Problem an.

Atalanta – deutsche Kriegsschiffe auf umstrittenem Kurs

Die Bundesregierung hat es eilig mit dem Atalanta-Beschluss. Bereits am kommenden Mittwoch steht der Militäreinsatz als bisher einziger Punkt auf der Tagesordnung für die 195. Sitzung des Parlaments[10]. Am 19. Dezember, dem letzten Sitzungstag in diesem Jahr, soll dann nach kurzer Beratung entschieden werden.[11]

Einzig die Linke wollte diese Hast stoppen und angesichts der Brisanz des Regierungsantrags[12] eine Anhörung fordern. Doch dazu braucht es 25 Prozent der Abgeordneten-Stimmen. Die anderen Oppositionsfraktionen sahen keinen Handlungsbedarf. Lediglich zu Kleinen Anfragen ließen sich FDP[13] und Grüne[14] hinreißen. So kommt also im Bundestag nicht einmal eine substanzielle Auseinandersetzung und Information zustande. Statt dessen: kurze Debatte, abstimmen und fertig – Arroganz, wie man sie von der Regierungskoalition mit ihrer komfortablen Mehrheit hinlänglich kennt.

Dabei könnte der Atalanta-Einsatz verfassungs- und völkerrechtliche Grundlagen verletzen. Zwar beruft sich die Regierung bei dem Einsatz auf das Seerechtsübereinkommen (SRÜ) der Vereinten Nationen von 1982 und die Resolutionen 1814, 1816, 1838 und 1846 – alle von 2008 -, in denen der Sicherheitsrat die Staaten mandatiert, vor der Küste Somalias auch mit militärischen Mitteln einzugreifen. In Verbindung mit der "Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates der Europäischen Union vom 10. November 2008 im Rahmen und nach den Regeln eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 des Grundgesetzes" glaubt die Regierung sich im Recht. Aber die vermeintlichen Grundlagen hinken! Das zumindest meint die Fraktion der Linken.

In einer Kleinen Anfrage[15] äußerten einige Abgeordnete bereits am 24. November ihre Bedenken. Zum Beispiel stuft das SRÜ der Vereinten Nationen von 1982 Piraterie als Kriminalität ein. Kriminalitätsbekämpfung ist aber eine polizeiliche und keine militärische Aufgabe. So ist nach deutschem Recht für die Bekämpfung der Piraterie die Bundespolizei zuständig. Nicht dezidiert ausgeführt ist weiter, ob ein Piratenschiff beschossen und gegebenenfalls versenkt werden darf oder ob zum Beispiel gekaperte Frachtschiffe auch außerhalb des Einsatzgebietes verfolgt werden dürfen. Wo endet das Mandat? "Dürfen die Atalanta-Einheiten flüchtige Piraten auch an Land verfolgen?", fragen die Autoren.

Am 1. Dezember stellten Norman Paech, Paul Schäfer und Wolfgang Neskovic, sämtlich Abgeordnete der Linken, in einem Aufsatz weitere Probleme des Mandats fest[16]: Wie soll zum Beispiel mit verhafteten Personen umgegangen werden? Werden sie an Drittstaaten ausgeliefert? Dabei müsste gewährleistet sein, dass internationale und nationale Rechtsstandards eingehalten werden: Ein fairer Prozess, rechtstaatliche Verhörmethoden, keine Folter, keine Todesstrafe.

Das Grundgesetz hat Vorrang vor dem Seerechtsübereinkommen, deshalb bestehen Bedenken auch im Hinblick auf Art. 104 GG, der den Umgang mit festgenommenen Personen regelt. Festnahmen sind danach von der Polizei durchzuführen, nicht von Soldaten. Ferner gilt nach deutschem Recht der sogenannte "Richtervorbehalt", das ist der Anspruch eines Festgenommenen, spätestens am Tag nach der Festnahme von einem Richter angehört zu werden. Wie soll das auf See gewährleistet sein?

EU-Mission als Türöffner für die Bundeswehr im Innern

Hauptpunkt der Kritik ist jedoch die Ausdehnung militärischer Aufgaben in polizeiliche Belange, ein Plan, den die Bundesregierung schon länger verfolgt[17] und der mit der Operation Atalanta nun festgeschrieben werden soll.

Nach bisherigem Recht darf die Bundeswehr im Innern nur im Verteidigungsfall eingesetzt werden, wobei die "Amtshilfe" nach Art. 35 GG schon jetzt möglich ist. Dabei dürften die Soldaten jedoch nur ohne militärische Ausrüstung operieren und würden der Polizei unterstellt sein. Davon kann im Falle der Piratenjagd nicht die Rede sein. Vielmehr muss die Piraterie als Vorwand für weitere militärische Auslandseinsätze herhalten und soll die aktive "Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik" (ESVP) legitimieren, in der die Bundesregierung eine Schlüsselrolle spielen möchte.

Das Piraterieproblem wird für die Durchsetzung einer Fülle außen- aber auch innenpolitischer Interessen missbraucht. So vermuten die Autoren: "Der Einsatz der Bundeswehr gegen Piraten ist ein Türöffner für die Aufhebung der strikten Trennung zwischen Militär- und Polizeiaufgaben und den Einsatz der Bundeswehr auch im Innern. Änderungen der Art. 87a und 35 GG werden seit längerem vorangetrieben, Piraterie wird instrumentalisiert, um den Einsatz der Bundeswehr zum Schutz strategischer Seetransporte zu legitimieren."

Erstaunlicherweise ist nach dem ersten Scheitern der Grundgesetzänderung am Widerspruch innerhalb der SPD-Fraktion nun ein Kompromiss gefunden worden, der "nur" den Einsatz der Marine und der Luftwaffe erlauben könnte. Erleichterung ging durch die Reihen einiger Kritiker. Sie glaubten, damit sei ein Einsatz von am Boden operierenden Truppen im Inland grundsätzlich ausgeschlossen. Diese Menschen wissen offensichtlich nicht, dass die Marine über Hubschrauber, Flugzeuge und Landtruppen verfügt und sich dementsprechend nicht nur "auf hoher See" bewegen kann. Die Grundgesetzänderung ist erst einmal gestoppt, wartet aber in der Schublade, um etwas modifiziert in der nächsten Legislaturperiode die parlamentarischen Hürden zu passieren.

"Streng vertraulich" – Geheimpapiere und mediale Piratenhatz

Just zu der Zeit, als man in Brüssel das Atalanta-Paket schnürte und die Bundesregierung schon längst hinter verschlossenen Türen über die Ausgestaltung ihrer EU-Kriegsflotte beratschlagte, machten weitere Piratenüberfälle und ein angeblich vereitelter Angriff auf das deutsche Kreuzfahrtschiff MS Astor medial mit viel Bohei die Runde.

Die Mecklenburg-Vorpommern, eigentlich in "Anti-Terror-Mission" unterwegs, leistete am frühen Morgen des 28. November im Golf von Aden "Nothilfe". Drei Mitarbeiter einer britischen Sicherheitsfirma waren von Bord der gerade gekaperten MV Biscaglia[18], einem Chemietanker unter liberianischer Flagge, ins offene Meer gesprungen und wurden von dem Bordhubschrauber der Mecklenburg-Vorpommern aus dem Wasser gefischt. So zumindest wurde die Rettungsaktion vom Pressesprecher für die Einsätze am Horn von Afrika beim Einsatzführungskommando Potsdam, Fregattenkapitän Roland Vogler-Wander, an die Presse gemeldet.[19]

Wenige Stunden später, am Vormittag des gleichen Tages, entdeckte die deutsche Fregatte auf dem Radar zum einen die MS Astor in ca. 4 Seemeilen (knapp 8 km) Entfernung, zum anderen in entgegengesetzter Richtung zwei kleine Schnellboote mit Kurs auf den Vier-Sterne-Luxusliner. Das Marineschiff beschleunigt, um sich zwischen der MS Astor und den Schnellbooten in Stellung zu bringen. Die jedoch weichen, so Fregattenkapitän Vogler-Wander gegenüber HINTERGRUND, weder von ihrem Kurs ab, noch wirkt das Kriegsschiff abschreckend. Aus ca. 3 Kabel[20] Entfernung, das sind gut 500 Meter, gibt die Mecklenburg-Vorpommern mit einem Maschinengewehr Warnschüsse ins Wasser ab. Die Schnellboote drehen in jemenitische Hoheitsgewässer ab.

Ob es tatsächlich Piraten waren, konnte der Kommandant nicht erkennen, so das Potsdamer Einsatzführungskommando: "Das ist da kein geordneter Schiffsverkehr wie in der Nordsee. Da wimmelt es von kleinen Schnellbooten: Fischer, Händler, Schmuggler, Terroristen und Piraten. Sie alle benutzen diese Schnellboote." Terroristen auf See? "Ja", ist sich der Fregattenkapitän sicher, "vor Somalia ist ein reges Treiben, auch Terroristen sind da unterwegs". Schließlich braucht der mittlerweile in Sachen Piraterie aktive OEF-Marineverband den Anti-Terror-Einsatz als Legitimation. Bin Ladens "Armada des Terrors" [21] taucht deshalb als imaginäre Flotte oder pures Seemannsgarn immer mal wieder in der Gischt des Golf von Aden auf. Doch warum wird eine Woche später in Spiegel-Online über diesen zweiten Marine-Einsatz als "Information aus einem vertraulichen Bericht des Berliner Verteidigungsministeriums an den Bundestag" [22] berichtet und woher nimmt das Blatt die Sicherheit, dass die MS Astor im "Golf von Oman" (sic!) tatsächlich von Seeräubern angegriffen wurde?

Außerdem kann das laut Spiegel sogar als "Verschluss-Sache" eingestufte Papier so geheim nicht gewesen sein: Bereits unmittelbar nach dem Vorfall berichtete die Wilhelmshavener Zeitung am Morgen des 29. November auf der Titelseite über den Einsatz: "Warnschüsse auf Piratenboot". [24]

Fregattenkapitän Vogler-Wander gibt HINTERGRUND Auskunft: "Sicher habe ich das am gleichen Mittag an die Presse weitergegeben. Aber offensichtlich war der Bericht über die Hubschrauber-Rettungsaktion interessanter. Meines Wissen hat nur die Wilhelmshavener Zeitung berichtet." (Wilhelmshaven ist der Heimathafen der Mecklenburg-Vorpommern.) Er selbst habe sich gewundert, dass der Vorfall nicht aufgegriffen wurde. Aber – und das versichert er noch einmal – es sei von vornherein nicht sicher gewesen, ob Piraten an Bord des Schnellbootes waren. "Man kann das von einer Fregatte aus auf die Entfernung auch nicht mit Sichtgeräten erkennen. Woran auch? Die Waffen haben die Piraten oft unter Decken versteckt und nicht in der Hand. Die Tatsache, dass das Boot aber weder seinen Kurs änderte noch die Geschwindigkeit drosselte, veranlasste schließlich den Kommandanten, den Befehl für die Warnschüsse zu geben."

Irgendwie klingt das alles viel plausibler und harmloser, als das "Geheimpapier" bei Spiegel-Online. Erst der Spiegel-Artikel machte den Vorfall zum Showdown im Golf von Aden und die gesamte Journaille stürzte sich auf das "Geheimpapier", zum Beispiel Focus: "… darüber schwiegen sich Marine, Einsatzführungskommando und Verteidigungsministerium aus. Erst Tage später erfuhren lediglich die Bundestagsabgeordneten (!) in einem vertraulichen Bericht (!) von der Hilfe für den Kreuzfahrer…". [25] Das eben stimmt nicht! Die knapp 50 Tausend Leser[26] der Wilhelmshavener Zeitung, die eigens eine Redaktion "Hafen, Schifffahrt und Marine" in Person von Michael Halama betreibt, waren bereits eine Woche zuvor bestens informiert.

Sonnabend, am 13. Dezember, legte Spiegel-Online[27] unter dem Titel "Deutsche Marine darf Piratenschiffe versenken" nach: "Die laut Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) ‘robusten’ Vorschriften sind als vertrauliche ‘Verschlussache’ eingestuft. Abgeordnete durften vergangene Woche nur in der Geheimschutzstelle des Bundestags Einsicht nehmen." Was ist daran "geheim", wenn zuvor sowohl der von der EU formulierte Kampfeinsatz (vgl. 2) als auch der Auftritt und die Aussagen des Verteidigungsministers im heute-journal vom 10. Dezember gerade diese militärische Option impliziert betonen. Zwar wird dort nicht im Spiegel-Stil die Vokabel "Schiffe versenken" benutzt, aber es wird ganz klar vom Waffeneinsatz gesprochen. Und damit ist selbstverständlich das gesamte Repertoire des Kriegsschiffen zur Verfügung stehenden Arsenals gemeint.

HINTERGRUND liegt der Regierungsantrag vor (vgl. 12). Darin heißt es unter "3. Auftrag": "Durchführung der erforderlichen Maßnahmen, einschließlich des Einsatzes von Gewalt, zur Abschreckung, Verhütung und Beendigung von seeräuberischen Handlungen oder bewaffneten Raubüberfällen, die im Operationsgebiet begangen werden könnten." Was bedeutet der Einsatz von Gewalt zur Beendigung einer seeräuberischen Handlung anderes, als notfalls ein Schiff zu versenken oder das zumindest billigend in Kauf zu nehmen?

Einen Vorgeschmack auf die "Rules of Engagement" gab der Sprecher des Verteidigungsministers, Christian Dienst, am 5. Dezember auf der Bundespressekonferenz: "Natürlich folgt nach dem Warnschuss, wenn diesem nicht gefolgt wird, auch die nächste Stufe der Eskalation. Die nächste Stufe der Eskalation ist in solchen Fällen in der Regel der gezielte Schuss, zum Beispiel in den Motor. Inwieweit Sie das dann können, hängt natürlich davon ab, ob das Schiff nun 200 Meter oder 2 Meilen querab fährt und wie genau Sie im Einzelfall zielen können. …Wenn wir dort antreten und mit Atalanta die Antipiraterie-Operation in den Fokus stellen, treten wir nur mit einem robusten Mandat an. (…) Wenn man eine Piratenplattform dementsprechend bekämpfen muss, dass sie zerstört wird, dann wird sie auch zerstört."

Schon über eine Woche vor dem Spiegel-Artikel hatte das Verteidigungsministerium wiederholt klargestellt, dass Atalanta kein Häkelkurs für Klosterschülerinnen wird. Da wird geschossen und da können auch Schiffe versenkt werden. Vielleicht hatte der Spiegel-Journalist das in der Pressekonferenz geflissentlich überhört. Sollte es allerdings tatsächlich so weit gekommen sein, dass weitere "Papiere kursieren", parlamentarisch zu beschließende Maßnahmen nur mehr in "Geheimschutzzellen" einer ausgesuchten Schar von Abgeordneten vorgelegt werden und die restlichen Parlamentarier "blind" abstimmen – dann gute Nacht Demokratie!

Ob nun Spiegel-Online das Thema aus den üblichen Motiven hochkocht oder aber das Verteidigungsministerium dem Ganzen tatsächlich den Nimbus einer "Geheimen Staatssache" geben will, um so eventuelle Kritiker in den eigenen Reihen zu besänftigen, beides dient dem gleichen Zweck: Eine sachliche Debatte über die wahren Hintergründe der Piraterie und die politisch-wirtschaftliche Lage Somalias und Puntlands wird verhindert. Der nötigen Aufrüstung und dem militärischen Engagement wird das Wort geredet und Abgeordnete sowie die Öffentlichkeit werden mit dieser Form der Agendasetzung[28] für eine Zustimmung und Akzeptanz der EU-Mission "weichgekocht".

USA forcieren Krieg in Somalia

Eine Ursache der Freibeuterei vor der Küste Puntlands, des Jemen und Somalias ist unter anderem darin zu finden, dass die Gewässer von internationalen – vor allem europäischen – Fangflotten leergefischt werden. Ein politisches Programm, das diesen Raub verbietet, wurde weder von der EU noch von den Vereinten Nationen entwickelt. Vor allem aber ist die Seeräuberei ein einträgliches Geschäft. Mittlerweile vermuten Kenner der Szene, dass hinter den Piraten ein syndikatartiges, international tätiges Netzwerk steht. Als Drahtzieher und Geldeintreiber sollen Exil-Somalier fungieren, die aus Kanada und sogar europäischen Metropolen heraus operieren. Diese mafiösen Strukturen aufzudecken und den "Saubermännern am Schreibtisch" kriminalistisch das Handwerk zu legen, wäre sicher effektiver als mit Kriegsschiffen kleinen Booten nachzujagen.

Ganz im Gegenteil wollen die USA ihr "Engagement" in Somalia und Puntland unter dem Vorwand der Piraterie ausweiten und sich die Option der militärischen Intervention an Land offenhalten, was die instabile Region in einen neuen Krieg stürzen könnte. Robert Gates, US-Verteidigungsminister in der alten und kommenden Regierung, traf sich am gestrigen Sonnabend mit Verteidigungsministern und Delegierten aus 25 Staaten in Bahrain, dem Hauptquartier der 5. US-Flotte.[29] Es wurde über mögliche "militärische Aktionen" an Land diskutiert, um so "das Problem an der Wurzel" zu packen. Derweil bemühen sich die USA um eine Sicherheitsrat-Resolution, die ein militärisches Eingreifen auch an Land autorisiert – mit Genehmigung der somalischen Regierung (vgl.Nachtrag). Nach der "verlorenen Schlacht von Mogadischu" [30], bei der die US-geführten Truppen 1993 abziehen mussten und ein verwüstetes, zerrüttetes Land hinterließen, könnte dieses Mal auch Deutschland in einen solchen Krieg verwickelt werden. Das nennt man dann Bündnistreue.


Nachtrag:

Aktuelle Meldung vom 18. Dezember 2008

Piraterie: UN-Sicherheitsrat weitet Mandat aus – Bundestagsdebatte zu Marineeinsatz

(18.12.08/rn)

Auf Initiative der USA hat der UN-Sicherheitsrat das Mandat zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias, Puntlands und des Jemen in der Nacht zu Mittwoch für ein Jahr auch auf militärische Operationen an Land ausgeweitet. Mit Zustimmung der somalischen „Übergangsregierung“ dürfen Bodentruppen der an den Anti-Piraterie-Einsätzen beteiligten Staaten nun Seeräuber bis in deren Dörfer verfolgen. Vor allen wegen des Einwands Indonesiens wurde eine Formulierung des ursprünglichen Entwurfs der Resolution 1851 gestrichen, die ausdrücklich die uneingeschränkte Nutzung des Luftraums vorsah. Nach Auffassung der US-Regierung berechtigt allerdings auch die jetzige Resolution (1) zu Luftangriffen in Somalia, denn der Text enthalte keine Einschränkung, sondern besagt: Zur Unterdrückung der Piraterie dürften „alle notwendigen und angemessenen Maßnahmen“ ergriffen werden.

Darüber hinaus forderte US-Außenministerin Rice eine stärkere Koordination der Maßnahmen, denn das derzeitige Vorgehen erbringe „weniger als die Summe seiner Teile“. Die USA sehen eine „Kontaktgruppe“ vor, in der die geheimdienstlichen Erkenntnisse ausgetauscht und die Aktivitäten abgestimmt werden.(2) Vor dem Sicherheitsrat erklärte sie weiter, „die Piratenüberfälle seien untrennbar mit den Unruhen in Somalia verbunden. Die US-Regierung sei deshalb davon überzeugt, dass die Zeit für die UN gekommen sei, einen Truppeneinsatz zu beschließen“. (3)

Thomas Matussek, Ständiger Vertreter Deutschlands bei den Vereinten Nationen in New York, begrüßte „den rechtlichen Rahmen für die Verfolgung von Piraten“ und erklärte „sein Land sei entschlossen, die Teilnahme an dem europäischen Beitrag zur internationalen Reaktion auf die Piraterie“ zu leisten.(2)

Für deutsche Soldaten, so die Versicherung der Bundesregierung, stehe ein Landeinsatz nicht zur Debatte. Tatsache aber ist, dass der Regierungsantrag „Beteiligung deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation ATALANTA“(4) eine solche Einschränkung nicht zwingend vorsieht. Ganz im Gegenteil heißt es unter „Auftrag“ – Punkt 3c: „Aufgreifen, Festhalten und Überstellen von Personen, die im Verdacht stehen, seeräuberische Handlungen oder bewaffnete Raubüberfälle begangen zu haben.“ Dazu könnte – die Einwilligung der somalischen „Übergangsregierung“ vorausgesetzt – auch ein „Landgang“ nötig werden.

Für den deutschen „Atalanta“-Einsatz warben in der gestrigen Bundestagssitzung Frank-Walter Steinmeier und Franz Josef Jung. „Der Einsatz ‚Atalanta’ am Horn von Afrika werde für die Marine ‚kein Ausflug in warme Gefilde’, sagte Steinmeier. Aus guten Gründen verfügten die bis zu 1400 deutschen Soldaten über ein robustes Mandat. Vom Schuss vor den Bug bis zum Versenken der Piratenschiffe sei alles abgedeckt, betonte Jung.“ (5)

Auch Grüne und FDP unterstützten die Militäroperation. So erklärte die Grünen- Entwicklungsexpertin Uschi Eid, ihre Partei werde dem Mandat mehrheitlich zustimmen. Der FDP-Verteidigungsexperte Rainer Stinner forderte, „den Piraten ihr Handwerkszeug zu nehmen“ und „Piratenschiffe zu zerstören“. Handelsschiffe lediglich zu begleiten sei „wichtig, aber nicht hinreichend“. (6)

Am Freitag wird der Bundestag entscheiden. Schon jetzt ist die parlamentarische Mehrheit für ein weiteres militärisches Engagement Deutschlands sicher.

Quellen Aktuelle Meldung :

1) http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/N0865501.pdf

2) http://www.un.org/News/Press/docs/2008/sc9541.doc.htm

3) http://de.reuters.com/article/deEuroRpt/idDELH74096420081217

4) http://blog.hintergrund.de/wp-content/uploads/2008/12/antrag-der-bundesregierung.pdf

5) dito 3

6) http://www.welt.de/welt_print/article2895562/Regierung-wirbt-fuer-die-Piratenjagd.html


Quellen Hauptartikel "Streng vertraulich"
[1]  Seit der 1990 heißt es nicht mehr "Bundesmarine", sondern offiziell "Deutsche Marine" .Vgl. auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Bundesmarine

[2] http://register.consilium.europa.eu/pdf/en/08/st15/st15376-re01.en08.pdf

[3] http://www.bsh.de/de/Schifffahrt/Berufsschifffahrt/Deutsche_Handelsflotte/12_Monate.pdf

[4] http://www.marine.de/portal/PA%5F1%5F0%5FP3/PortalFiles/02DB070000000001/ W27KUGEU341INFODE/Fakten%2Bund%2BZahlen%2B2008.pdf?yw%5Frepository=youatweb

[5] http://www.marine.de/portal/a/marine/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLNzKON 7QICQVJgjneZiH6kQjhoJRUfV-P_NxUfW_9AP2C3IhyR0dFRQBg79jc/delta/base64xml/L2dJQSEvU Ut3QS80SVVFLzZfMjNfUUxN?yw_contentURL=%2F01DB070000000001%2FW27LHJCT340INFO DE%2Fcontent.jsp

[6] http://www.marine.de/portal/a/marine/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLNzKOD_ QJAsmB2d5mIfqRcNGglFR9X4_83FR9b_0A_YLciHJHR0VFAPCuynk!/delta/base64xml/L2dJQSEvU Ut3QS80SVVFLzZfMjNfUUxT?yw_contentURL=%2F01DB070000000001%2FW269DJ87995INFODE %2Fcontent.jsp

[7] http://wiegold.focus.de/augen_geradeaus/2008/12/piraten-kampf-der-worte-und-order-of-battle-update.html

[8] http://consilium.europa.eu/cms3_fo/showPage.asp?id=1518&lang=de

[9] http://www.faz.net/s/Rub99C3EECA60D84C08AD6B3E60C4EA807F/Doc~EE8D74290916E4C66A 0BA4263E57CFD0B~ATpl~Ecommon~Scontent.html?rss_googlefeed

[10] http://www.bundestag.de/parlament/plenargeschehen/to/195.html

[11] http://www.bundestag.de/parlament/plenargeschehen/to/197.html

[12] http://blog.hintergrund.de/wp-content/uploads/2008/12/antrag-der-bundesregierung.pdf

[13] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/110/1611088.pdf

[14] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/111/1611150.pdf

[15] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/110/1611021.pdf

[16] http://blog.hintergrund.de/wp-content/uploads/2008/12/papier_paech_schafer_neskovic-011208.pdf

[17] http://www.hintergrund.de/content/view/271/63/

[18] http://en.wikipedia.org/wiki/MV_Biscaglia

[19] http://blog.hintergrund.de/wp-content/uploads/2008/12/001_wz_et20081129_a_hauptausgabe_s_001.pdf

[20] http://de.wikipedia.org/wiki/Kabell%C3%A4nge

[21] http://www.guardian.co.uk/world/2001/dec/23/september11.terrorism1

[22] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,594521,00.html

[23] http://de.wikipedia.org/wiki/F123#Antrieb

[24] http://blog.hintergrund.de/wp-content/uploads/2008/12/001_wz_et20081129_a_hauptausgabe_s_001.pdf

[25] http://wiegold.focus.de/augen_geradeaus/2008/12/tue-gutes-und-rede-nicht-dr%C3%BCber.html

[26] http://www.wzonline.de/index.php?id=370

[27] http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,596255,00.html

[28] http://de.wikipedia.org/wiki/Agenda_Setting

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[29] http://news.bbc.co.uk/2/hi/africa/7782016.stm

[30] http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_von_Mogadischu

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