„Solingen“ – die Folgen einer Strategie der militärischen Gewalt
Die Medien klagen über einen Messerstecher aus Syrien. Aber Dschihadisten und Flüchtlinge kommen nicht als Naturkatastrophen, sondern sind Produkte der westlichen Kriegspolitik.
Im Mai 2003 setzte Paul Bremer, Zivilverwalter der USA im Irak, mehr als 400’000 irakische Soldaten und Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums auf die Straße. Sie verloren ihren Job, ihre Familie stand oft mittellos da. Viele kämpften um Selbstachtung und Würde, andere wurden depressiv oder begingen Suizid. Von diesem Moment an häuften sich Sprengstoffanschläge und es formierte sich Widerstand gegen die US-Armee als Besatzungsmacht. Tausende folgten dem Aufruf zum Aufstand. Der sunnitische Untergrund war entstanden, aus dem später Organisationen wie der «Islamische Staat» hervorgehen sollten. Mit dem Angriff auf den Irak hatten die USA die Geister geweckt, die sie angeblich ausrotten wollten.
Bremer nannte seine Entscheidung «Ent-Baathifizierung», was bedeutungsmässig wohl als gelungener PR-Trick an die «Ent-Nazifizierung» Deutschlands 1945 andockt. Bremer wollte die Baath-Partei des gestürzten Präsidenten Saddam Hussein auflösen und seine Anhänger bestrafen.
Ulrich Tilgner, lange Jahre Korrespondent im Nahen Osten, schildert in seinem Buch «Zwischen Krieg und Terror», wie er die Ereignisse in Bagdad damals erlebte. Am 20. März 2003 waren die USA und ihre «Koalition der Willigen» in den Irak einmarschiert. Die Begründungen für den Angriffskrieg beruhen auf gefälschten Dokumenten der US-Geheimdienste. Der Widerstand der irakischen Armee bricht innert weniger Wochen zusammen. Manche irakischen Einheiten feuern keinen Schuss ab, weil die Kommandanten Saddam Hussein loswerden wollen und auf ein Arrangement mit den USA hoffen. Nach der Flucht Saddam Husseins demonstrieren irakische Armee-Offiziere für einen demokratischen Neuanfang und bieten den Amerikanern Zusammenarbeit an. Sie warnen gleichzeitig, dass ein bewaffneter Untergrund entstehen werde, falls die US-Amerikaner nicht darauf eingingen. Bremer lässt nicht mit sich reden.
«Bremer reagiert mit beispielloser Arroganz und begeht einen Fehler von historischem Ausmaß», schreibt Tilgner. Dem erst zwei Wochen zuvor eingeflogenen Zivilverwalter dürften die Auswirkungen seiner Anordnung nicht klar gewesen sein. Er treibt Tausende in den Untergrund und produziert einen Terror-Aufstand: «Möglicherweise führen Bremers Fehlentscheidungen zum Tod Zehntausender Menschen», notiert Tilgner damals, «während die Chancen, den Irak zu demokratisieren, schwinden.»
Syrien: Hillary Clintons geheimes Mail
In einem Mail vom 31. Dezember 2012 schreibt die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton, es gelte «mit regionalen Verbündeten wie der Türkei, Saudiarabien und Katar zusammenzuarbeiten, um syrische Rebellen zu organisieren, zu trainieren und zu bewaffnen.»
Weiter heißt es: «Assad zu beseitigen wäre nicht allein ein unermesslicher Segen für die Sicherheit Israels, es würde auch die verständlichen Ängste Israels mindern, sein nukleares Monopol zu verlieren. Im nächsten Schritt könnten sich dann die Vereinigten Staaten und Israel gemeinsam drauf verständigen, von welchem Punkt an die iranische Atomanreicherung so gefährlich wird, dass ein militärisches Eingreifen gerechtfertigt erscheint.» (Kurt O. Wyss. Die gewaltsame amerikanisch-israelische «Neuordnung» des Vorderen Orients. Bern 2022. S.164)
Dieses Mail wurde durch Wikileaks publik. Es zeigt unmissverständlich, welche geostrategischen Interessen die USA und ihre NATO-Verbündeten in Syrien verfolgten: Ziel war, einen Korridor freizumachen für den Aufmarsch gegen den Iran. Dazu war zunächst ein Regime Change in Damaskus erforderlich. Die Pläne dafür lagen seit langem in den Schubladen der Neokonservativen in Washington.
Sogenannte «syrische Rebellen», wie die in Istanbul gegründete «Freie Syrische Armee», wurden von US-Geheimdiensten in Trainingscamps in der Türkei und in Jordanien ausgebildet und nach Syrien geschickt. Überläufer aus Assads Armee wurden mit hohen Dollarsummen angelockt. Beutewaffen aus Libyen wurden vom CIA nach Syrien geschickt. Kombattanten aus mehr als 50 Nationen strömten in den Krieg nach Syrien. Der Westen kreierte und finanzierte eine Propaganda-Truppe namens «Weisshelme», welche als Sprachrohr der Dschihadisten endete. Von Anfang an war ersichtlich, dass die in Syrien verbotenen Muslimbrüder und andere von Katar und Saudiarabien finanzierten sunnitischen Gruppen die Unruhen schürten.
Das war für unsere Medien zunächst einmal kein Thema. Sie kolportierten die in Washington, London, Paris und Berlin verbreitete Darstellung, in Syrien sei der «arabische Frühling» ausgebrochen und es gelte nun – wie in Libyen und Ägypten – die Demokratie einzuführen und den Tyrannen Assad zu stürzen, der «auf sein eigenes Volk schießt». Viele Journalisten hatten nicht begriffen, dass der «arabische Frühling» eine Social-Media-Bewegung war, die keine wirkliche Verankerung in der Gesellschaft hatte. Im Schweizer Fernsehens tauchten plötzlich Syrien-Experten auf, die in Dokumentarfilmen den heldenhaften Widerstand der «Rebellen» gegen die syrische Armee glorifizierten. Sie begriffen nicht, dass da Syrer bezahlt wurden, damit sie auf andere Syrer schossen.
Hingegen verloren Journalistinnen, die Syrien wirklich kannten, wie die in Damaskus lebende Karin Leukefeld, Job und Aufträge, weil sie schrieben, was sie täglich auf der Straße sehen und hören konnten: dass die Mehrheit der Leute in Syrien Reformen wollte, aber keinen Umsturz und schon gar nicht einen Krieg, um Assad zu stürzen. Diplomaten in Damaskus, wie der französische Botschafter Eric Chevalier oder die tschechische Botschafterin Eva Filipi, die diese Situation bestätigten und die westlichen Medienberichte in Frage stellten, wurden offiziell überhört.
Der «Krieg gegen den Terror» hat tausende Dschihadisten hervorgebracht.
Etwa ab 2013 müssen die Zauberlehrlinge in Washington wohl gemerkt haben, dass ihnen die Sache aus dem Ruder lief. Laut Medienberichten wüteten schon mehr als tausend bewaffnete Gruppen in Syrien, von denen die Mehrheit radikalislamische Kämpfer waren wie die Gruppe Al-Nusra. Mit einem Mal erwiesen sich die tapferen «syrischen Rebellen» und «Freedom-Fighters» als Terroristen, die Gefangenen vor laufender Kamera den Kopf abschnitten und die Videos ins Netz stellten.
Diese Widersprüche waren einer globalen Öffentlichkeit, die man seit 9/11 mit der Parole vom «Krieg gegen den Terror» beschallt hatte, nicht mehr leicht zu verkaufen. Waren die «Rebellen» nun die Guten oder die Bösen? Daher wurde, um einen Rest von Logik und Glaubwürdigkeit zu retten, augenblicklich die Erzählung verbreitet, es gebe in Syrien zweierlei Milizen, nämlich die «guten demokratischen Aufständischen» und die «bösen dschihadistischen Aufständischen», erstere gelte es zu unterstützen, letztere zu bekämpfen. Was die US-Armee dann in Mossul mit einer erschreckenden Gründlichkeit tat.
In einem Bericht des US-Militärgeheimdienstes DIA hieß es bereits 2012: «Salafisten, die Muslimbruderschaft und Al-Kaida im Irak sind die wichtigsten Kräfte, die den Aufstand in Syrien vorantreiben.» In dem Geheim-Papier wird davor gewarnt, dass Al-Kaida ein «salafistisches Fürstentum» in Ostsyrien errichten könne. (Karin Leukefeld: Syrien zwischen Schatten und Licht. S.276)
Genau dies hat dann der «Islamische Staat in Syrien» zwischen 2013 und 2014 versuchsweise realisiert. Aber Außenministerin Clinton und ihre «Gruppe der Freunde des syrischen Volkes» waren wohl zunächst mehr auf den Sturz Assads fokussiert als auf die Tatsache, dass da ein islamistisches Ungetüm heranwuchs, das sie durch ihre Politik selbst erschaffen hatten.
Die Gefahr, dass aus diesem Ungetüm eine PR-Großmacht im Internet werden würde, die Jugendliche für ihre Terror-Ziele rekrutiert, war in Washington offensichtlich kein Grund zur Besorgnis. Denn die Flüchtlingswelle, die der Syrienkrieg auslöste, ergoss sich über Europa, nicht über die USA. Und in Berlin ertönte es: «Wir schaffen das».
Spätestens ab diesem Moment war jedem arabisch sprechenden Jugendlichen klar, dass er in Europa Asyl erhalten würde, wenn er angab, Syrer zu sein und von Assad verfolgt worden zu sein. Syrer kamen zu tausenden, aber auch Ägypter, Palästinenser oder Maghrebiner hatten schnell ein paar syrische Redewendungen gelernt und konnten, wenn sie «leider ihre Papiere verloren» hatten, als Syrer durchgehen. Die Asylbehörden hatten kaum die personellen und finanziellen Kapazitäten, dies genau zu prüfen.
Es geht nicht um Religion, sondern um Rache für vermeintliche Erniedrigung.
Die führenden westlichen Medien tragen ein gerütteltes Maß an Schuld an dem Chaos. Sie kolportierten stets die Erzählungen, die aus dem Weissen Haus und aus dem Pentagon kamen. Mit ihrer Dämonisierung des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad und ihrer Unfähigkeit, die wirklichen Ursachen des Syrienkrieges zu recherchieren, haben sie dazu beigetragen, Europa unsicherer zu machen. Ab 2011 wurden sie nicht müde, den Freiheitskampf der «Rebellen» eines «arabischen Frühlings» zu illustrieren. Wer die Legitimität der «Rebellen» in Frage stellte, wurde, wie es mir selbst widerfuhr, in Schweizer Medien als Putin-Troll und Verschwörungstheoretiker diffamiert. Dieselben Medien, die damals die Aufständischen in Syrien in den Himmel hoben, reden heute von einer «heiklen Sicherheitslage» und rufen nach konsequenten Ausschaffungen und schärferen Grenzkontrollen.
Die syrische Regierung hatte die Vereinten Nationen um Hilfe gegen einen vom Ausland finanzierten Aufstand gebeten, und wurde dort selbstverständlich von den USA und ihren Adlaten ausgelacht. Syrien bat dann Russland um Hilfe, und Russland griff – völkerrechtlich korrekt – 2015 auf Seiten von Assad in den Krieg ein. Mit der Niederlage der islamistischen Extremisten in Aleppo zeichnete sich ab, dass der Stellvertreterkrieg, den die USA und ihre NATO-Alliierten in Syrien führten, verloren war. Von dem Augenblick an lichteten sich die Reihen der islamistischen Kombattanten. Tausende verließen Al-Nusra und andere Gruppierungen und setzten sich nach Europa ab, um Asyl zu bekommen. Sie gaben mit hoher Wahrscheinlichkeit bei jeder Befragung an, sie seien «von Assad verfolgt worden».
Wie viele von ihnen aufgenommen wurden oder untertauchten, ist ungewiss, aber genaue Zahlen sind auch nicht notwendig, um festzustellen, dass ein massenhafter Zustrom radikalislamischer, kampferfahrener junger Männer, von denen viele mit Sprengstoff und Waffen umgehen können, nicht ohne Auswirkungen auf das politische Klima in den europäischen Gesellschaften geblieben ist. Denn wehe, wenn solche Männer oder Frauen sich abgewiesen, verachtet, gedemütigt und erniedrigt fühlen.
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Auf der Suche nach Orientierung und Autoritäten finden sie im Netz ein Narrativ, das sie als ausgegrenzte Muslime und um ihre Würde kämpfende Krieger darstellt. Religion ist dabei nur ein anderes Wort für Gemeinschaft oder Zugehörigkeit. Es geht also nicht um den Koran, den die meisten kaum lesen. Es geht um Selbstbestätigung und um einen Moment der Macht, welcher die erlittene Ohnmacht überwinden soll. Ob dabei Sprengstoff, eine Pistole, ein Messer oder ein Fahrzeug als Terrorwaffe benutzt wird, ist unerheblich für das Begreifen der Ursachen der Tat. Und wenn die deutsche Innenministerin verfügen will, dass niemand ein Messer mit sich führen darf, dessen Klinge länger als sechs Zentimeter ist, zeigt sich darin die politische Hilflosigkeit.
Dieser Artikel erschien zunächst bei Globalbridge