Silvesternacht in Köln: Das „Versagen“ der Staatsorgane
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Unterlassene Hilfeleistung mit politischen Konsequenzen
Zwei Wochen nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln sind bei den Ermittlungsbehörden nun auch zahlreiche Strafanzeigen gegen Polizeibeamte wegen unterlassener Hilfeleistung eingegangen. Den in der Silvesternacht tätigen Beamten werden zum Teil schwere Vorwürfe gemacht, heißt es aus Ermittlerkreisen. So sollen Anzeigen nicht aufgenommen, Frauen in die Gruppe der Sexualstraftäter zurückgestoßen oder Hinweise auf Täter nicht verfolgt worden sein.
Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) nahm die einzelnen Polizisten in Schutz. „Die, die da waren, haben alles gegeben. Aber es waren zu wenige“, sagte Jäger am Mittwoch nach einer Sitzung des Bundestags-Innenausschusses in Berlin. Die Fehler lägen bei der Einsatzführung der Polizei. Diese habe die Lage in der Nacht falsch eingeschätzt. Außerdem sei in den Tagen danach der Eindruck entstanden, die Polizei in Köln wolle etwas unter den Teppich kehren. Das sei nicht akzeptabel.
Die CDU fordert einen Untersuchungsausschuss des NRW-Landtages. Die Abgeordneten kämen um die Einrichtung eines solchen Gremiums nicht herum, sagte CDU-Innenpolitiker Armin Schuster nach der Sitzung in Berlin. Jäger habe nicht ausreichend Antworten gegeben.
Tatsächlich bleiben viele Fragen offen. So sind sich die Behörden uneins, ob die von Männern „nordafrikanischen“ und „arabischen“ Aussehens begangenen Straftaten gezielt geplant und organisiert worden waren. „Niemand kann mir erzählen, dass das nicht abgestimmt oder vorbereitet wurde“, sagte Bundesjustizminister Heiko Maas. Es habe sich „offenbar um eine völlig neue Dimension Organisierter Kriminalität“ gehandelt.
Nach Einschätzung von BKA-Chef Holger Münch haben sich die Täter der Silvesternacht in Köln bei ihrem Vorgehen gegen Frauen abgestimmt und gezielt verabredet. „Sie kamen aus dem überregionalen Raum, sowohl in Köln als auch in anderen Städten. In der Regel läuft so etwas über Verabredungen in sozialen Netzwerken.“
Das Landeskriminalamt in NRW hat nach Angaben des Direktors der Behörde bisher keine Erkenntnisse, dass die Übergriffe in Köln an Silvester im Vorfeld geplant und abgesprochen waren. „Ermittlungsergebnisse dazu, dass das Auftreten der Gesamtgruppe oder von Teilgruppen anlässlich der Silvesterfeierlichkeiten in Köln organisiert beziehungsweise gesteuert war, liegen bisher nicht vor“, heißt es in einem Bericht von Dieter Schürmann.
In einer Sondersitzung des Innenausschusses im Düsseldorfer Landtag sagte der ranghöchste Kriminalbeamte des Landes am Montag: „Dass es bundesweit (…) zu vergleichbaren Straftaten gekommen ist, lässt eher darauf schließen, dass die Delikte nicht zeitlich oder hierarchisch organisatorisch vorgeplant wurden.“ Es gebe keine Anhaltspunkte für „überörtliche Zusammenhänge der Gewalttaten“.
Bis Mittwoch waren insgesamt 581 Strafanzeigen wegen Diebstählen, Raubüberfällen und sexueller Übergriffe bei der Polizei eingegangen. Laut Augenzeugen hatten zwanzig- bis vierzigköpfige Gruppen die Gunst der Stunde genutzt, um aus einer enthemmt feiernden Menschenmenge heraus Straftaten zu begehen. Bei den bisher ermittelten Tatverdächtigen soll es sich vornehmlich um Flüchtlinge aus nordafrikanischen Ländern handeln.
Neben der Vorgehensweise der Täter wirft auch und gerade das Vorgehen der Polizei in der Silvesternacht Fragen auf. In der Sondersitzung des Innenausschusses erklärte der nordrhein-westfälische Polizeiinspekteur Bernd Heinen, die Kölner Polizeiführung habe am Silvesterabend bereits frühzeitig – gegen 21 Uhr – Hinweise auf eine stark alkoholisierte, enthemmte Männermenge am Hauptbahnhof gehabt.
Obwohl unkontrolliert Feuerwerkskörper geworfen worden seien und die Gruppe bis 23 Uhr auf etwa eintausend Personen angewachsen sei, sei keine Verstärkung angefordert worden. Dabei hätten viele Einsatzreserven zur Verfügung gestanden, berichtete Heinen. Dem Polizeipräsidium Köln seien von der Landesleitstelle der Polizei Unterstützungskräfte angeboten worden.
Der Dienstgruppenleiter der Leitstelle des Polizeipräsidiums Köln habe dies jedoch nicht für erforderlich gehalten – obwohl Beamte, die rund um den Bahnhof im Einsatz waren, „in der Nacht immer wieder so verzweifelt wie erfolglos um zusätzliche Kräfte gebeten und Unterstützung angefordert“ hatten, wie die FAZ berichtete. (1)
Stattdessen wurde „kurz vor der Eskalation der Sex-Übergriffe um 0.45 Uhr fast die Hälfte der vom Land eigens gestellten Polizisten vom Bahnhof in Richtung Ringe abgezogen“, berichtete der Kölner Express, der sich auf einen internen Einsatzbericht der Polizei bezieht, der der Zeitung vorliegt.
Laut dem Bericht war nach der Lagebeurteilung und Prognose für die Silvesternacht 2015/2016 „im Vergleich zu den Vorjahren mit einer erhöhten Anzahl von Delikten im Bereich Taschen- und Trickdiebstahl sowie Straßenraub zu rechnen“. Zudem habe es an Silvester eine „aktuelle Sicherheitslage“ wegen möglicher Terroranschläge gegeben, weswegen 38 Beamte mehr bewilligt worden seien als im Vorjahr.
Kölns inzwischen geschasster Polizeipräsident Wolfgang Albers sprach noch am 5. Januar davon, man sei am Silvesterabend mit zweihundert Beamten, darunter etwa siebzig Bundespolizisten, „ordentlich aufgestellt“ gewesen.
Doch diese Zahl bezieht sich entgegen der bisherigen öffentlichen Darstellung auf „die gesamte Innenstadt, inklusive Ringe (OPARI), Rheinbrücken und Altstadt“, so der Express. „Nur ein kleiner Teil der Landespolizisten war an Silvester am Bahnhof. Und: Nicht ein einziger der 83 Bereitschaftspolizisten war zu Dienstbeginn um 22 Uhr überhaupt dafür vorgesehen.“ (2)
Angesichts der zu diesem Zeitpunkt bereits bestehenden Hinweise auf massive Straftaten, die aus einer wachsenden Menschenmenge heraus begangen wurden, lässt es sich nur noch schwer mit einem Versagen oder einer Fehleinschätzung erklären, wenn kein einziger Bereitschaftspolizist vorgesehen wird, einen neuralgischen und sicherheitsrelevanten Platz wie den Bahnhof zusätzlich zu sichern.
In München war die Polizei in der Lage, nach einem vagen Hinweis auf einen möglichen Terroranschlag innerhalb von Stunden zwei Bahnhöfe abzusperren. In der Domstadt hingegen „musste“ die Polizei zusehen, wie eine 40-köpfige Gruppe junger Männer, bei denen es sich vornehmlich um Nordafrikaner gehandelt haben soll, „eine Gasse am Haupteingang des Kölner Hauptbahnhofs“ bildete, um Raubüberfälle und sexuelle Übergriffe auf Frauen begehen zu können.
Nach Informationen des Focus ist sogar eine Zivilbeamtin in die Fänge dieser Gruppe geraten. „Ihre Kollegen hatten keine Chance, ihr zu helfen.“ (3) Ob dem wirklich so war, sei dahingestellt – schließlich erscheint es merkwürdig, dass mit Schusswaffen ausgerüstete Polizeibeamte nicht einschreiten, wenn eine Kollegin akuter Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt ist.
Mit der Darstellung geht jedenfalls eine Botschaft einher: Die Polizei war nicht nur nicht in der Lage, über Stunden die Bürger an einem zentralen Platz vor schwersten Straftaten ausländischer Banden zu schützen, sie konnte sich noch nicht einmal selbst schützen.
Dass nun angesichts der behaupteten Hilflosigkeit der Polizei „Bürgerwehren“ wie Pilze aus dem Boden sprießen, mag da kaum noch zu überraschen. (4) Es drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass die vor Ort eingesetzten Polizisten nicht hilflos waren, sondern hilflos gemacht wurden – zum Zweck einer mutwilligen Demonstration staatlicher Machtlosigkeit, die den Ruf nach entsprechenden Konsequenzen in Form schärferer (Asyl-)Gesetze und umfassenderer Überwachung unvermeidbar laut werden lässt.
Mit der Kölner Silvesternacht wurden jedenfalls die Weichen in der Flüchtlingspolitik neu gestellt. Vom „wir-schaffen-das“ zum „wir-haben-Angst“. Wer glaubte, unter Flüchtlingen würde es keine Kriminellen geben, die sich zur Begehung von Straftaten auch zusammenschließen könnten, für den mag der Skandal in der Herkunft der Täter liegen. Der eigentliche Skandal besteht jedoch darin, dass die Sicherheitsbehörden sie gewähren ließen, und anschließend – so heißt es in der Pressemitteilung der Kölner Polizei vom Neujahrestag – von einer „entspannten“ Einsatzlage sprechen, da sich die Polizei „an neuralgischen Orten gut aufgestellt und präsent“ gezeigt habe. (5) Angesichts der polizeiinternen Erkenntnisse war das eine bewusste Lüge, die in den Ohren der betroffenen Opfer wie Hohn klingen muss.
Erst infolge der Berichterstattung – regionale Medien berichteten bereits am Neujahrstag von den massiven sexuellen Übergriffen und Raubüberfällen rund um den Bahnhof – richtete die Polizei am 2. Januar eine Ermittlungsgruppe ein. „Es könnte da politische oder auch taktische Motive geben“, sagte Gregor Timmer, Sprecher von Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker, angesichts der Informationspolitik der Polizeibehörde.
Die Abläufe von Köln sowie die anschließende politische und mediale „Verarbeitung“ scheinen wie einem Drehbuch zur Entwicklung einer „Strategie der Spannung“ entnommen. Als solche bezeichnet Wikipedia „einen Komplex aus verdeckten Maßnahmen zur Destabilisierung oder Verunsicherung von Bevölkerungsteilen, einer Region oder eines Staates, ausgeführt oder gefördert durch staatliche Organe“.
Ob das Agieren der staatlichen Organe in der Silvesternacht und die anschließende Informationspolitik auf einer Verkettung von Fehleinschätzungen beruht, oder einem möglichen politischen Kalkül geschuldet ist, macht in einer Hinsicht keinen Unterschied: Die Verunsicherung von Bevölkerungsteilen wurde in jedem Fall erreicht.
(mit dpa)
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Anmerkungen
(1) http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/f-a-z-exklusiv-koelns-polizei-schlug-angebot-fuer-verstaerkung-aus-14003923.html
(2) http://www.express.de/koeln/silvester-in-koeln-die-fuenf-widersprueche-des-ministerberichts-23408350
(3) http://www.focus.de/regional/koeln/silvester-am-hauptbahnhof-in-koeln-die-ekelhafte-sportler-gruppe-raubte-und-begrabschte-frauen-systematisch_id_5198858.html
(4) http://www.huffingtonpost.de/2016/01/13/dusseldorf-buergerwehr_n_8967136.html
(5) http://www.presseportal.de/blaulicht/pm/12415/3214905