Innenpolitik

„Schaut nicht länger weg“

Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.

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In Berlin demonstrieren 800 Menschen gegen die Angriffe islamistischer Milizen auf die kurdische Bevölkerung in Kurdistan –

Eine Fotoreportage von THOMAS EIPELDAUER, 11. August 2013 –

Zwischen acht und 15 Prozent der syrischen Bevölkerung sind Kurden. Sie leben mehrheitlich im Gouvernement Al-Hasaka, das an die Türkei und den Irak grenzt, sowie im Gouvernement Aleppo, insbesondere in der Region um Ain Al-Arab sowie im Norden der Provinz Ar-Raqqa. Strategisch bedeutend ist dieses Gebiet vor allem aus zwei Gründen. Zum einen liegen hier bedeutende Erdölvorkommen. Kürzlich behauptete der Vorsitzende der kurdischen Partei PYD, Salih Muslim, 60 Prozent des Erdöls in Syrien befänden sich derzeit unter Kontrolle der kurdischen Volksverteidigungskräfte YPG. (1)

Zum anderen decken die kurdischen Regionen die Grenze zur Türkei ab, was insbesondere für die islamistischen Milizen und die Freie Syrische Armee, die in ihrem Kampf gegen die Regierung von Präsident Baschar Al-Assad von der türkischen Regierung logistisch unterstützt werden, von äußerster Wichtigkeit ist. (2)

Diese beiden strategischen Faktoren dürften eine zentrale Rolle spielen bei den Auseinandersetzungen zwischen kurdischen Kämpfern der YPG auf der einen Seite und FSA-Milizen sowie Al Qaida nahestehenden islamistischen Gruppierungen auf der anderen. Islamisten und FSA verüben dabei Angaben kurdischer, iranischer, syrischer und russischer Quellen zufolge immer wieder Übergriffe auf die Zivilbevölkerung. Von Entführung, Folter und Massenerschießungen ist die Rede. In einem „Aufruf an die internationale Gemeinschaft“ appellierte die PYD deshalb, dass es notwendig sei die Multiethnizität gegen die „brutalen Angriffe zur ethnischen Säuberung“ zu verteidigen, die von islamistischen Terrormilizen wie der Jabhat Al-Nusra und der Gruppe Islamischer Staat des Irak und der Levante ausgingen. Die „internationale Gemeinschaft“ – zumindest ihr vermeintlich freiheitlich-demokratischer Teil – blieb allerdings bislang passiv. Massenwirksame Medien berichten kaum über die Situation der Kurden in Syrien, die westliche Unterstützung der Rebellengruppen setzt sich ungebrochen fort.

In zahlreichen Städten in der Türkei, in Europa und den USA kam es deshalb zu Solidaritätskundgebungen kurdischer Exilvereine und solidarischer Aktivisten. In Berlin gingen am Samstag etwa 800 Menschen unter dem Motto „Stoppt die Massaker in Westkurdistan“ auf die Straße.

Rojava – so die kurdische Bezeichnung für die in Syrien gelegenen Gebiete Kurdistans – ist derzeit einer der Brennpunkte des kurdischen Kampfes um demokratische Autonomie. Die dort aktive und von der Mehrheit der Kurden als ihre Partei wahrgenommene PYD pflegt enge Beziehungen zu der- trotz fortdauerndem Friedensprozess – in vielen Ländern immer noch als „Terrororganisation“ eingestuften kurdischen Arbeiterpartei PKK. Auch die syrischen Kurden sehen in Abdullah Öcalan, dem in Isolationshaft auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali gefangengehaltenen Führer der PKK, einen wichtigen Bezugspunkt ihres Kampfes für Demokratie und Eigenständigkeit.

„Wir fühlen uns ignoriert“, sagt eine junge Demonstrantin, während die Demo vom Neuköllner Hermannplatz in Richtung Kottbusser Tor zieht. „Es scheint keinen zu interessieren, was in Syrien mit unseren Verwandten und Freunden passiert. Ich kann nur an die Medien hier appellieren: Schaut nicht länger weg!“ Tatsächlich sind Berichte über die Gefechte zwischen Al Nusra, FSA und PYD in der deutschen Medienlandschaft sehr rar. Das allerdings ist nur konsequent. Denn nachdem man die Freie Syrische Armee monatelang zu Helden des demokratischen Kampfes gegen die Diktatur Baschar Al-Assads hochgeschrieben hat, fällt es schwer, bruchlos über die massiven Menschenrechtsverletzungen der Bündnispartner der westlichen Wertegemeinschaft zu berichten.

Auch türkische Linke – hier von der Berliner Taksim-Plattform – schließen sich der Demonstration an. „Unser Kampf und der der Kurden sind nicht voneinander zu trennen“, sagt mir ein langjähriger Aktivist. Einer der Gründe für die spontanen Aufstände in türkischen Städten, an denen sich Millionen Menschen beteiligten, war die Diskriminierung ethnischer und religiöser Gruppen wie Kurden, Alewiten oder Armenier durch die Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan. Nun ist es die Regierung in Ankara, die trotz verbaler Zugeständnisse an die kurdische Bewegung in Syrien und der Türkei weiterhin Kräfte der Rebellen gegen Baschar Al-Assad unterstützt – und damit eben jene, die auch gegen Kurden vorgehen. „Am 26. Juli 2013 trafen sich 70 Kommandanten der Freien Syrischen Armee unter der Gastgeberschaft der Türkei in Dîlok (Gaziantep). Jetzt ist an die Öffentlichkeit gekommen, dass die Entscheidung zu den Angriffen auf die kurdische Bevölkerung von Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) auf diesem Treffen gefällt worden ist. In Til Hasil und Til Aren im Gebiet Halep wurden am 31. Juli und 1. August mindestens 70 kurdische Zivilisten getötet und Hunderte als Geiseln genommen“, berichtet das kurdische Informationszentrum Civaka Azad. (3)

Doch die Kurden in Syrien sind keineswegs nur Opfer. Sie sind in der Lage, sich zu verteidigen – wenn es sein muss, auch militärisch. In den vergangenen Wochen haben die Milizen der YPG der Al Nusra und anderen Angreifern teilweise schwere Verluste zugefügt und strategisch bedeutende Orte und Städte erobert. Nun machen auch kurdische Verbände in anderen Ländern der Region mobil. Der Aufruf der YPG zum bewaffneten Kampf betreffe „nicht nur die Kurden aus den vier Teilen Kurdistans, sondern ist eine internationalistische Pflicht aller in der Türkei, im Irak und Syrien lebenden Völker“, hatte die kurdische Arbeiterpartei PKK bereits vergangene Woche erklärt. (4) Die im Iran aktive kurdische Partei PJAK hat ebenfalls erklärt, sie sei „bereit Kämpfer in den syrischen Teil Kurdistans zu schicken, die an der Seite ihres Volkes kämpfen werden“. Mittlerweile hat auch Massud Barzani, der Präsident der kurdischen Autonomieregion im Irak, der traditionell ein eher distanziertes Verhältnis zur PKK hat, erklärt, die kurdische Autonomieregierung im Irak werde „alle ihre Kapazitäten“ einsetzen, um den Schutz kurdischer Zivilisten vor Angriffen Al-Qaida-naher Verbände zu schützen.  

Gegen Ende der Demonstration werden die Zivilpolizisten am Rande des Aufzugs nervös. „Sind das da oben welche von uns?“ fragt eine 30-jährige Polizistin ihren Kollegen. „Ich glaube nicht“, antwortet der und beginnt hektisch an seinem Ohrstöpsel zu fummeln. Zwei Aktivisten erscheinen auf dem Dach und zünden bengalische Feuer, zwischen ihnen eine Fahne mit dem Konterfei Abdullah Öcalans. Die Demonstration wird lauter, man freut sich sichtlich über den Gruß von oben.

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Anmerkungen

(1)http://www.diekurden.de/news/westkurdistan/salih-muslim-kurden-kontrollieren-60-der-erdoelfelder-in-syrien-5822633/
(2)http://www.nzz.ch/aktuell/international/auslandnachrichten/kampf-um-grenzuebergaenge-und-oelfelder-in-syrien-1.18119878
(3)http://www.civaka-azad.org/index.php/458-freie-syrische-armee-und-islamisten-erklaeren-den-kurdinnen-den-krieg.html
(4)http://www.diekurden.de/news/nordkurdistan/statement-der-pkk-zu-angriffen-auf-rojava-widerstand-ist-pflicht-0223554/
(5)http://www.ekurd.net/mismas/articles/misc2013/8/irankurd955.htm
(6)http://derstandard.at/1375626256238/Praesident-der-irakischen-Kurden-droht-mit-Eingreifen-in-Syrien

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