RAF – Als Schreckgespenst noch tauglich
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Von SEBASTIAN RANGE, 4. Juli 2011 –
Anlässlich der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2010 malt Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) das Schreckgespenst eines neuen linksextremen Terrorismus an die Wand. „Noch nie seit Einführung der bundesweiten Statistik zu politisch motivierter Kriminalität im Jahr 2001 sind die Zahlen beim Linksextremismus in einem ersten Quartal höher gewesen als heute.“
Militante Linke nähmen mittlerweile auch in Kauf, dass bei ihren Anschlägen Menschen ums Leben kämen. Der Weg vom Brandanschlag zu „gezielten Mordanschlägen“ sei nicht weit – das habe die Geschichte der Roten Armee Fraktion (RAF) gezeigt.
Konkrete Beispiele nannte Schünemann allerdings nicht. Auch der neue Verfassungsschutzbericht liefert keine Belege dafür, dass es in der linksextremen Szene Organisationsansätze in Richtung des bewaffneten Kampfes gibt, wie er beispielsweise von der RAF geführt wurde. Insgesamt zeichnet der Bericht für das Jahr 2010 noch eine rückläufige Entwicklung bei den Straf- und Gewalttaten im links- wie auch im rechtsextremen Bereich.
Die hohe Zahl an Gewalttaten für 2011 ist auch auf die Räumung eines besetzten Hauses Anfang Februar im Berliner Stadtteil Friedrichshain zurückzuführen. Laut Berlins damaligem Polizeipräsidenten Dieter Glietsch wurden im Zusammenhang mit der Räumung und anschließenden Protesten 61 Polizisten leicht verletzt sowie mehr als 80 mutmaßliche Randalierer festgenommen. Die Sachschäden, so stellte Glietsch fest, lägen auf jeden Fall über denen der Maikrawalle von 2010.
Im Vergleich zu 1.-Mai-Krawallen oder Ausschreitungen im Zusammenhang mit Häuserräumungen in den 1980er Jahren handelte es sich bei den jüngeren Ereignissen aber eher um kleinere Scharmützel. Die Zeiten, in den Polizisten in Deutschland bei Demonstrationen etwa massiv mit Molotow-Cocktails angegriffen oder mit Zwillen beschossen wurden, sind schon lange vorbei. Politiker, die eine neue Qualität der Gewalt erkannt haben wollen, verfügen offenbar über ein schlechtes Langzeitgedächtnis.
Es dürfte weniger die objektive Gefahrenlage sein, die Schünemann dazu treibt, den Terror-Teufel an die Wand zu malen, sondern vielmehr der Wunsch, die Gesetze weiter verschärfen und Bürgerrechte weiter einschränken zu können.
Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm hingegen zeichnete ein deutlich differenziertes Bild, das in Sachen gestiegener Gewalttatenzahl nicht von langfristigen Strukturen ausgeht. „Was den Linksextremismus und linksextremistische Gewalt angeht, so folgen solche Entwicklungen erfahrungsgemäß bestimmten aktuellen Themen.“
Es gebe aktuelle, lokale Themen, auf welche die Szene reagiere und von denen das Maß der Gewaltbereitschaft abhänge – und dazu zählt eben auch die Hausräumung vom Februar in Berlin. Solche Ereignisse beeinflussten die Statistik deutlich, sagte Fromm. „Im Übrigen lässt sich im Moment noch keine präzise Aussage zum Jahr 2011 machen.“
Dass in der Tat der Weg vom Brand- zum Mordanschlag nicht weit sein muss, zeigte sich erst jüngst in Berlin. In der Nacht zum 27. Juni kam es zu insgesamt fünf Brandanschlägen in verschiedenen Stadtteilen, darunter drei Anschläge auf Wohnhäuser. Dass Schünemann diesen Vorfall nicht aufgreift, um vor einer neuen terroristischen Gefahr zu warnen, dürfte seinen Grund darin haben, dass die Anschläge auf linke Einrichtungen abzielten, die in den jeweiligen Gebäuden untergebracht waren. Das Schreckgespenst RAF lässt sich in diesem Zusammenhang nur schwer bemühen. Dabei sind Brandanschläge auf Wohnhäuser in Berlin keine neue Entwicklung. Erst im Oktober 2010 kam es zu einem Anschlag auf einen linken Laden in Kreuzberg, der auch in einem Wohnhaus untergebracht ist. Nur der schnellen Reaktion der Mieter und der herbeigeeilten Feuerwehr war es zu verdanken, dass es keine Toten gab. Von neuer Terrorismusgefahr seitens Rechtsgesinnter war danach allerdings nichts zu hören – was auch nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass in den vergangenen 20 Jahren mehr als 130 Menschen durch rechte Gewalt getötet wurden.
Zu der hohen Zahl linksextremer Gewalt im Jahr 2011 dürfte auch der Neonazi-Aufmarsch in Dresden am 19. Februar beigetragen haben. An den friedlichen Blockaden nahmen Tausende Menschen teil, darunter auch Politiker von SPD, Grünen und Die Linke. Gegendemonstranten aus der Antifa-Szene versuchten dabei mehrmals, Polizeisperren zu durchbrechen. Laut offiziellen Angaben wurden an jenem Tag über 100 Polizisten verletzt. Aufgrund dessen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen eine mutmaßliche kriminelle Vereinigung. Ermittlungen gegen eine kriminelle (§ 129) oder eine terroristische (§ 129a) Vereinigung geben den Behörden weitreichende Befugnisse, die sie im Rahmen eines normalen Strafprozesse nicht haben.
Da es in §129a-Ermittlungsverfahren nur zu einem geringen Teil zu einem gerichtlichen Urteil kommt – in den 1990er Jahren lag der Anteil bei 3 Prozent – halten Kritiker diesen Paragraphen in erster Linie für ein Instrument, politisch unliebsame Bewegungen einzuschüchtern und auszuspähen.
Ermittlungen im Rahmen dieses Paragraphen werden von den Behörden offenbar als Freifahrtschein für flächendeckende Bespitzelung aufgefasst. Nach der Demonstration am 19. Februar wertete die Dresdner Polizei 800.000 Telefon-Datensätze aus. Diese Maßnahme wurde damit begründet, Hinweise auf Täter finden zu wollen, die Polizisten angegriffen und verletzt hatten. Die Datensätze enthalten die Verbindungsdaten sowie die Aufenthaltsorte der Kommunizierenden. Gesprächsinhalte lassen sich anhand dieser „Funkzellenauswertung“ nicht rekonstruieren. Ins Visier gerieten dabei aber auch alle friedlichen Demonstrationsteilnehmer, anwesende Journalisten sowie Tausende Anwohner. Dies käme einer „Kriminalisierung von friedlichen Demonstranten“ gleich, hieß es aus den Reihen der Opposition.
Inzwischen teilte die Staatsanwaltschaft Dresden mit, das Landeskriminalamt habe am Rande der Demonstration einige Telefongespräche mit richterlicher Genehmigung direkt mitgehört. Hintergrund seien Ermittlungen gegen eine mutmaßliche kriminelle Vereinigung von Linksextremisten. Damit räumt die Staatsanwaltschaft ein, dass nicht die Gewalt gegen Polizisten während des Neonazi-Aufmarschs Anlass der Aufnahme eines Ermittlungsverfahren nach § 129 war, sondern dass bereits zuvor in dieser Sache ermittelt wurde. Vermutlich stand also auch die Funkzellenauswertung im Zusammenhang mit diesem Verfahren.
Dass dank der Telefondatenauswertung Gewalttaten gegen Polizisten aufgeklärt werden können, erscheint generell eher unrealistisch. Schließlich ergibt sich aus einem Protokoll nur, dass sich das Handy einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Abschnitt befand. Es ist kaum anzunehmen, dass ein Gericht dies als Beweis für die Beteiligung dieser Person an einer Gewalttat ansehen würde.
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Die flächendeckende Erhebung der Telefondaten hat nicht die Aufklärung von Straftaten zum Ziel, sondern die Aufklärung der Identität der Demonstrationsteilnehmer. Dies wird auch deutlich anhand eines aktuellen Berichts des Spiegel. Laut diesem hat die Dresdner Polizei mit Bussen angereiste Demonstranten auszuspionieren versucht. Es sei ein Schreiben an Busunternehmen in der ganzen Bundesrepublik gegangen. Darin habe die Polizei die Firmen aufgefordert, Auskünfte über Reisende und Strecken zu geben. Die Beamten wollten demnach wissen, wo Fahrgäste ein- und ausstiegen, worüber sie sprachen, welche Transparente sie bei sich trugen. Sie fragten nach Mietverträgen und Kopien der Ausweise von Kunden.
Was die Frage, wer wo in welchen Bus eingestiegen ist, mit der Aufklärung der Frage, wer wann und wo Gewalt gegen Polizisten während der Demonstration verübt hat, zu tun haben soll, wird wohl ein Geheimnis der Polizei bleiben.