NSU-Skandal: Neue Zweifel an Selbstmord-Theorie
Hinweis: Die Bilder sind aus den archivierten Hintergrund-Texten vor 2022 automatisch entfernt worden.
Verantwortliche haben über die Todesumstände von Mundlos und Böhnhardt gelogen –
Von SEBASTIAN RANGE, 4. April 2014 –
Während Beate Zschäpe, das angeblich einzige noch lebende Mitglied der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), diese Woche vor dem Münchener Oberlandesgericht (OLG) unter großem medialen Getöse – welches Outfit wird sie wohl diesmal tragen? – ihren hundertsten Prozesstag hinter sich brachte, blieb weitgehend unbeachtet, dass gleichzeitig der Thüringer Untersuchungsausschuss den NSU-Skandal um eine weitere Facette bereicherte. Die Todesumstände der mutmaßlichen NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt waren wohl andere, als offiziell verbreitet. Nach einem Banküberfall am 4. November 2011 in Eisenach sollen die beiden Männer im Ortsteil Stegda in einem Wohnmobil Selbstmord verübt haben, nachdem sie das Fahrzeug zuvor in Brand gesteckt hatten.
Vergangene Woche, nach geschlagenen zwei Jahren, erhielt der Thüringer NSU-Ausschuss endlich den Obduktionsbericht der Gerichtsmedizin. Laut diesem seien weder in der Lunge von Böhnhardt noch in der Lunge von Mundlos Rußpartikel gefunden worden. „Damit ist es sehr zweifelhaft, dass Mundlos erst das Wohnmobil angezündet hat und sich dann erschossen hat“, sagte die Vorsitzende des Ausschusses, Dorothea Marx (SPD), gegenüber inSüdthüringen.de. (1) Die SPD-Politikerin plädiert angesichts der länger werdenden „Liste offener Fragen“ für eine Fortsetzung der Untersuchung in die nächste Wahlperiode hinein.
Nahrung für „kursierende Verschwörungstheorien“
Die laut Obduktion fehlenden Rußpartikel nähren die ohnehin bestehenden Zweifel an der Selbstmord-Theorie. Und sie überführen mit den Untersuchungen betraute Verantwortliche der Lüge. Ende November 2011 verkündete BKA-Präsident Jörg Ziercke die offiziell bis heute gültige Version, derzufolge Uwe Mundlos erst Böhnhardt mit einem aufgesetzten Kopfschuss getötet, dann das Wohnmobil in Brand gesetzt, und sich schließlich selbst gerichtet habe. Das sei durch die Tatsache belegt, dass „bei der Obduktion nur in der Lunge von Mundlos Rußpartikel des Feuers gefunden wurden“ (2) – schließlich muss er noch gelebt haben, um die Partikel eingeatmet haben zu können.
Mundlos’ Lungeninhalt war kein geringfügiger Nebenaspekt in der offiziellen NSU-Darstellung. Die Rußspuren zementierten die Selbstmord-These. Sie waren der handfeste Beleg dafür, dass die Neonazis das Wohnmobil selbst in Brand gesetzt hatten, und somit mögliche andere Täter ausgeschlossen werden konnten. Sonst ließe sich die unbeirrte Sichtweise der Behörden, der NSU habe aus nur drei Mitgliedern bestanden, nicht aufrechterhalten.
Mit seiner – wie nun bekannt – wahrheitswidrigen Aussage wollte BKA-Chef Ziercke offenbar den öffentlichen Spekulationen um den Tod der beiden im Untergrund lebenden Männer frühzeitig ein Ende bereiten.
Hans Leyendecker, Ressortleiter Investigative Recherche der Süddeutschen Zeitung, hörte die Signale. Anfang Dezember 2011 zog er gegen die „kursierenden Verschwörungstheorien“, gegen „das Geraune um das Ende der beiden Neonazis“ ins Schlachtfeld der medialen Deutungshoheit. Der Obduktionsbericht decke sich mit der Selbstmord-Theorie, gab sich Leyendecker überzeugt – und hatte wohl den Angaben des BKA blind Glauben geschenkt. Zu seinem beklagten Leidwesen werde dennoch in den Gazetten „weiter über ‘mysteriöse Umstände’ des Todes gemunkelt und behauptet, ein ‘Suizidmotiv’ sei ‘nicht erkennbar’“. (3)
Knapp zweieinhalb Jahre später ist es ausgerechnet der Obduktionsbericht, der der „Munkelei“ neuen Auftrieb verschafft. Nun erschließt sich, warum es so lange gedauert hat, bis das Dokument seinen Weg zum Thüringer NSU-Ausschuss fand. Dort hatte auch der Leiter der damals zuständigen Polizeidirektion Gotha, Michael Menzel, von Rußspuren in der Lunge von Mundlos berichtet. (4)
Es ist nicht die einzige Falschaussage des Beamten. Im Rahmen des NSU-Prozesse vor dem OLG München sagte der Polizeidirektor aus, er habe von der Identität der beiden Neonazis am 5. November 2011, also am Tag nach deren Tod, erfahren. Menzel ließ aber schon am 4. November die Vermisstenakte zu Uwe Mundlos beiziehen. „Bedenklich ist nun vor allem, dass ein hoher Polizeibeamter vor Gericht nachgewiesenermaßen, aber scheinbar ungerührt, die Unwahrheit sagt und damit eine Straftat begeht. Offensichtlich muss es starke Gründe geben, die den Zeugen dazu bringen, sie zu verüben. Und offenbar muss es gleichzeitig Garantiemächte geben, die ihn beschützen“, heißt es in der Januar-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik. (5)
Verschwunden und abgeräumt
Etwaige Agenten dieser „Garantiemächte“ – namentlich des BND und MAD – seien laut dem sich auf Polizeiquellen berufenden Fraktionschef der Thüringer Linken, Bodo Ramelow, frühzeitig am Tatort gewesen, wo sie verwunderten Polizisten „auf den Füßen herum stiefelten“. (6) Denn für gewöhnlich weckt ein Bankraub bei den Diensten nicht ein solches Interesse.
„Ungewöhnlich schnell“ am Tatort war auch Behördenleiter Menzel. Laut seiner Aussage vor dem thüringischen NSU-Ausschuss bestand seine erste Amtshandlung vor Ort darin, die Speicherkarte der Kamera eines Feuerwehrmannes zu beschlagnahmen. „Der Mann hatte zu Dokumentationszwecken Aufnahmen im Inneren des Wohnmobils gemacht und damit die ersten Tatortfotos erstellt. Wenzel begründete sein Handeln damit, dass er eine Veröffentlichung der Fotos verhindern wollte. Ob die Speicherkarte je zurückgegeben wurde, konnte er nicht sagen. Auch hatte er keine Erklärung dafür, warum diese Fotos offenbar nicht in den Ermittlungsakten auftauchen. Tatsächlich sind die Aufnahmen des Tatorts bis heute verschwunden“, fasst die Berliner Zeitung die Anhörung zusammen. (7)
Eine weitere Amtshandlung bestand darin, die Spurensicherung nicht an Ort und Stelle durchzuführen. Beim Abtransport des Wohnmobils über eine geneigte Rampe geriet das Fahrzeug so sehr in Schräglage, „so dass es im Innern zu einer völligen Zerstörung der ursprünglichen Spurenlage gekommen sein dürfte”. (8) Ihr sei kein weiterer Fall bekannt, kommentierte Ausschuss-Vorsitzende Marx, bei dem „sozusagen ein kompletter Tatort abgeräumt und auf einen Tieflader verladen wird, bevor eine Spurensicherung nicht abgeschlossen ist“. (9)
„Und noch etwas ist rätselhaft“, so die Berliner Zeitung: „Das abgeschleppte Wohnmobil traf um 15.30 Uhr in der Halle ein, wo die Spurensicherung bereits wartete. Erst dann begann auch die Bergung der ersten Leiche und der Waffen. Doch schon eine halbe Stunde später will Wenzel nach eigenen Angaben die Information erhalten haben, dass eine der im Wohnmobil liegenden Waffen die Dienstwaffe von Michèle Kiesewetter war.“ (10) Die Polizistin war im April 2007 in Heilbronn erschossen worden. Unter den Gegenständen, die am Tag nach dem Ableben von Mundlos und Böhnhardt aus dem Wohnmobil geborgen wurden, befand sich auch der Rucksack, in dem sich unter anderem die DVDs mit dem NSU-Bekennervideo befunden haben sollen.
,,Was auffällt: Während Matratze und Textilien deutliche Schmutzspuren aufweisen, verursacht offenbar von dem durch die Hitzeeinwirkung geschmolzenen Plexiglasfenster über dem Bett, ist der darauf liegende Rucksack fleckenlos“, wundern sich die Stuttgarter Nachrichten, denen Fotos aus dem Innenraum des Wracks vorlagen, die während der Beweissicherung am 5. November angefertigt worden waren, über den Zustand des als „nagelneu“ beschriebenen Gepäckstücks. (11)
Die verschwundenen Fotos des Feuerwehr – „die ersten Tatortfotos“ – könnten den naheliegenden Verdacht widerlegen, hier seien Beweismittel im Nachhinein platziert worden. Oder eben auch nicht. Der Rucksack enthielt auch die Tatwaffe eines 2006 in Zwickau verübten Bankraubs – der EinzeItäter wurde seinerzeit von der Polizei als „unerfahren und dilettantisch“ beschrieben. (12)
Spontaner Suizid
Außerdem befanden sich darin 23 000 Euro als Teil der Beute aus einem Banküberfall, der zwei Monate vorher in Arnstadt begangen worden war. Was veranlasste Mundlos und Böhnhardt dazu, das eine Woche zuvor als Fluchtfahrzeug für den Banküberfall in Eisenach angemietete Wohnmobil mit – neben einem Arsenal an Kinderspielzeug (13) – inkriminierenden Beweisgegenständen vollzupacken? Darunter auch die Dienstwaffen der ermordeten Polizistin Kiesewetter und ihres Kollegen.
Das neue Hintergrund-Heft ist da! Jetzt im ausgesuchten Zeitschriftenhandel. Oder hier direkt Einzelheft oder Abonnement bestellen. Titelthema: Ukraine Schwerpunkt: Forschung für das Militär |
Und warum verließen die mutmaßlichen NSU-Terroristen nicht das Fahrzeug mitsamt Beute, nachdem sie über den mitgehörten Polizeifunk erfahren haben sollen, dass nach einem Wohnmobil gefahndet wird? Sie flüchteten auch nicht über die nahe gelegene Autobahn, als die Ringfahndung eingestellt wurde.
„Die hören den Polizeifunk ab, die Ringfahndung war aufgehoben. Die hätten doch locker wegfahren können – es sei denn, sie waren schon tot“, kommentierte Dorothea Marx diese Woche. (14) Vor einem halben Jahr äußerte die Vorsitzende des NSU-Ausschusses schon einmal ihre Zweifel an der Selbstmord-Version: „Was verleitet zwei Schwerverbrecher dazu, die jahrelang nicht gefangen wurden, sich beim Anblick eines Polizisten umzubringen?“ (15) Eine berechtigte Frage. „In diesem Moment ist möglicherweise eine spontane Deradikalisierung eingetreten“, meint der Berliner Kriminologe Bernd Wagner die Antwort gefunden zu haben. (16)
Die Begriffsneuschöpfung der „spontanen Deradikalisierung“ reiht sich nahtlos ein in das Kabinett der Kuriositäten, das mit der offiziellen NSU-Legende verbunden ist. Um deren Plausibilität muss es schlecht bestellt sein, wenn selbst solch hanebüchene Erklärungen angeführt werden, um sie von Widersprüchen zu befreien.
Wie sich dank des thüringischen Untersuchungsausschusses nun herausgestellt hat, stützt der Obduktionsbericht den auch von Anwohnern in Eisenach-Stegda gehegten Verdacht, jemand Drittes könne für den Tod der beiden Uwes verantwortlich sein. „Weil viele Nachbarn keine Schüsse gehört haben wollen, gehen sie davon aus, dass Mundlos und Böhnhardt bereits tot waren, als ihr Wohnmobil brannte.“ (17) Dafür wollen einige Augenzeugen einen Mann gesehen haben, der aus dem Fahrzeug vor Eintreffen der Polizei kletterte und flüchtete. (18)
Die Polizei sei dem Hinweis auf eine dritte Person nachgegangen, die sich vom Tatort entfernt haben könnte, beschwichtigte Polizeidirektor Michael Menzel gegenüber dem Thüringer Untersuchungsausschuss. Eine Mitwirkung einer dritten Person, die geflüchtet sei, könne jedoch ausgeschlossen werden – das Wohnmobil sei ja schließlich von der Polizei umstellt gewesen. (19)
{simplepopup name=”Hintergrund2014″}
Durch das Schließen dieser Einblendung kommen
Sie kostenlos zum Artikel zurück.
Aber:
Guter Journalismus ist teuer. Das Magazin Hintergrund
ist konzernunabhängig und werbefrei. Die Online-Artikel
sind kostenlos. Damit das so bleiben kann, bitten wir um
eine Spende. Entweder auf unser Spendenkonto
Hintergrund
Konto-Nr.: 1103659401
BLZ: 43060967
GLS Gemeinschaftsbank
oder via Paypal
Hier können Sie ein Abo für die
Print-Ausgabe bestellen.
Vielen Dank
{/simplepopup}
Abo oder Einzelheft hier bestellen
Seit Juli 2023 erscheint das Nachrichtenmagazin Hintergrund nach dreijähriger Pause wieder als Print-Ausgabe. Und zwar alle zwei Monate.
Anmerkungen
(1) http://www.insuedthueringen.de/regional/thueringen/thuefwthuedeu/Neue-Zweifel-zum-NSU-Selbstmord;art83467,3247957
(2) http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/rechtsextremismus/zwickauer-terrorzelle-friedrich-ermordete-polizistin-wohl-kein-zufallsopfer-11536675.html
(3) http://www.sueddeutsche.de/politik/suizid-der-zwickauer-terroristen-stoff-fuer-die-konspirologen-1.1228329
(4) http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/nsu-ausschuss-in-erfurt-pumpgun-patronenhuelsen-rauch-und-russspuren-12876332.html
(5) https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2014/januar/der-nsu-komplex-wer-ermittelt-gegen-den-verfassungsschutz
(6) http://www.bodo-ramelow.de/index.php?id=28975&no_cache=1&tx_ttnews[tt_news]=43476&tx_ttnews[backPid]=28973
(7) http://www.berliner-zeitung.de/nsu-prozess/aussage-vor-dem-untersuchungsausschuss-polizist-wirft-neue-raetsel-im-nsu-fall-auf,11151296,26714544.html
(8) ebd.
(9) Interview mit Dorothea Marx, Compact 1/2014
(10) http://www.berliner-zeitung.de/nsu-prozess/aussage-vor-dem-untersuchungsausschuss-polizist-wirft-neue-raetsel-im-nsu-fall-auf,11151296,26714544.html
(11) http://m.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.ermittlungsakten-nsu-ermittlung-begann-mit-panne.1e136813-0ddd-436b-9e2c-ebb7dbaa963d.html
(12) http://www.abendblatt.de/politik/deutschland/article2099610/Verdaechtiger-aus-Zwickau-veruebte-2006-missglueckten-Bankueberfall.html
(13) http://www.bild.de/news/inland/nsu/wohnmobil-des-boesen-27353340.bild.html
(14) http://www.insuedthueringen.de/regional/thueringen/thuefwthuedeu/Neue-Zweifel-zum-NSU-Selbstmord;art83467,3247957
(15) http://www.faz.net/aktuell/politik/nsu-prozess/nsu-untersuchungsausschuss-verschwoerungen-in-theorie-und-praxis-12627491.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
(16) http://www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/leben/detail/-/specific/Gothaer-Polizei-Chef-offenbart-Details-zu-Eisenacher-Bankraub-1229938459
(17) http://www.welt.de/politik/deutschland/article13727823/Zweifel-an-Selbstmord-von-Boehnhardt-und-Mundlos.html
(18) http://www.stern.de/politik/deutschland/zwickauer-terrorzelle-das-raetsel-von-eisenach-1753339.html
(19) http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/nsu-ausschuss-in-erfurt-pumpgun-patronenhuelsen-rauch-und-russspuren-12876332.html