Karlsruhe: Verfassungsschutzmaßnahmen gegen linke Abgeordnete verfassungswidrig
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Von REDAKTION, 9. Oktober 2013 –
Laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts darf der Verfassungsschutz Abgeordnete nur in streng begründeten Ausnahmefällen überwachen. Das Gericht in Karlsruhe erklärte die jahrelange Überwachung des Linke-Politikers Bodo Ramelow am Mittwoch für verfassungswidrig. Eine frühere Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wurde damit aufgehoben. Der Fraktionschef der Linkspartei im thüringischen Landtag hatte gegen die Überwachung selbst geklagt.
Die obersten Richter begründeten ihre Entscheidung damit, dass Abgeordnete durch das sogenannte freie Mandat nach Artikel 38 Grundgesetz besonders geschützt seien – auch die der Linken. Durch die Sammlung und Speicherung von Daten durch den Verfassungsschutz werde darin massiv eingegriffen. „Dieser Eingriff kann im Einzelfall gerechtfertigt sein, unterliegt jedoch strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen.“ Bei Ramelow sei dies jedoch nicht der Fall.
Bereits seit vierzehn Jahren ist der 57-Jährige Abgeordneter. Mehrere Jahre lang war er auch Vize-Fraktionschef der Linkspartei im Bundestag. Seine Akte beim Bundesamt für Verfassungsschutz ist aber wesentlich älter. Bereits seit 1986 führt der Inlandsgeheimdienst über Ramelow Buch. Damals war er Gewerkschaftssekretär in Hessen. Im Kurznachrichtendienst Twitter begrüßte der Politiker das Urteil: „Über 30 Jahre wurde ich ausspioniert und ausgeschnüffelt! 10 Jahre habe ich geklagt, nun höre ich, dass ich in Karlsruhe gesiegt habe.“
Im Sommer war bekannt geworden, dass sich große Teile der Linksfraktion im Bundestag im Visier des Verfassungsschutzes befinden. Unter Berufung auf ein vertrauliches Dossier der Bundesbehörde hatte der Spiegel die Überwachung von mindestens 25 der 57 Bundestagsabgeordneten öffentlich gemacht. Sie hätten unter Verdacht gestanden, einem der „offen extremistischen Zusammenschlüsse“ der Partei anzugehören, begründete der Geheimdienst die Bespitzelung gewählter Volksvertreter.
Unter das Verdikt des Extremismus fallen laut Verfassungsschutz die drei Parteiströmungen Antikapitalistische Linke, Sozialistische Linke und die Kommunistische Plattform sowie die drei kleineren Zusammenschlüsse Marxistisches Forum, Geraer/Sozialistischer Dialog und Cuba Sí.
Unbegründet blieb jedoch, warum die Behörde auch führende Protagonisten des sogenannten Reformerflügels unter die Lupe nahm – und nimmt –, die innerparteilich zu den Gegenspielern der vermeintlich „extremistischen Zusammenschlüsse“ zählen. So standen neben Dietmar Bartsch in der vergangenen Legislaturperiode auch Bundestags-Fraktionschef Gregor Gysi sowie die heutige Parteivorsitzende Katja Kipping unter Beobachtung.
Kipping forderte nach dem Karlsruher Urteil die sofortige Einstellung der Beobachtung ihrer Partei durch den deutschen Inlandsgeheimdienst. „Das ist ein klares Signal dafür, dass generell die Beobachtung und Kriminalisierung der Linken eingestellt werden muss“, sagte sie am Rande einer Fraktionsklausur im brandenburgischen Bersteland. Fraktionschef Gysi sprach von einem „wichtigen Tag in unserer Geschichte“. Es sei „heute ein Schritt zur Gleichstellung unserer Partei vollzogen worden“.
Wörtlich heißt es in dem Urteil: „Ein Überwiegen des Interesses am Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung kommt insbesondere dann in Betracht, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Abgeordnete sein Mandat zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung missbraucht oder diese aktiv und aggressiv bekämpft.“
Das vom Spiegel zitierte Verfassungsschutz-Dossier („Neuausrichtung der Beobachtungspraxis“) gab aufschlussreiche Einsichten in die Denkweise der Behörde und ihr Demokratieverständnis. Ein „Indiz für eine antidemokratische Gesinnung“ sieht der Geheimdienst bereits in der besonderen Bürgernähe der Partei, da sie versuche „mit außerparlamentarischen Bewegungen zu paktieren“.
Kennzeichnend für eine antidemokratische Gesinnung sei auch der Plan, eine „solidarische Gesellschaft jenseits des Kapitalismus“ aufzubauen, oder die Forderung, Energiekonzerne zu verstaatlichen. Nun kennen die Geheimdienst-Schlapphüte offenbar nicht die Verfassung, die sie zu schützen vorgeben. In Artikel 15 Grundgesetz heißt es: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“
Es sind also nicht genuin antidemokratische Forderungen, die dem Verfassungsschutz ein Dorn im Auge sind, sondern solche, die sich gegen den neoliberalen Zeitgeist richten, selbst wenn sie vollkommen mit dem Grundgesetz übereinstimmen. Damit bleibt der Geheimdienst seiner Linie treu, im Kampf gegen links zu verfassungswidrigen Maßnahmen zu greifen – wie der jüngste Skandal um den niedersächsischen Verfassungsschutz wieder einmal unter Beweis stellte. (1)
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