"Karl Lauterbachs Wissenschaftsverständnis erinnert an Rechthaberei"
Die Hintergrund-Serie zu Karl Lauterbach wirft viele Fragen auf. Wir haben einen Experten gefragt: Wie schätzt Prof. Dr. med. Matthias Schrappe die Ergebnisse der Recherchen von Thomas Kubo ein?
Nach der Veröffentlichung des fünften Teils unserer Serie “Der Karlatan” hat die Hintergrund-Redaktion Matthias Schrappe um eine Einschätzung gebeten. Schrappe ist Internist, Gesundheitsökonom und emeritierter Professor für Innere Medizin. Er ist Sprecher der Gruppe Corona-Thesenpapiere und hat unter anderem den Skandal um die intensivmedizinische Versorgung ins Rollen gebracht. Von 2005 bis 2011 war er Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Weitere Informationen auf seiner Website.
Frage: Der heutige Gesundheitsminister galt vor gut einem Jahr vielen als Idealbesetzung, weil er vom Fach ist. Die Recherchen von Thomas Kubo kratzen erheblich an diesem Bild. Auch Sie haben ihn in der Vergangenheit kritisiert. Wie schätzen Sie mit den heutigen Erkenntnissen Karl Lauterbach allgemein ein?
Matthias Schrappe: Karl Lauterbach ist ein hochintelligenter Kollege. Ich habe mit ihm das damals führende Lehrbuch zur Gesundheitsökonomie in drei Auflagen herausgebracht und über 20 Jahre in seinem Institut gelehrt (zum Thema Evidenz-basierte Medizin, Qualität und Patientensicherheit) – da lernt man jemanden kennen. Ich habe mich zu einem Zeitpunkt kritisch zu Wort gemeldet, als er begann, während der Corona-Pandemie aus meiner Sicht fachlich inkorrekte Positionen zu vertreten (z. B. zur Beschreibung der Fallzahlen, zu Fragen der Immunität, zur adäquaten Strategie in der Kontrolle der Epidemie). Und als er begann, ein Wissenschaftsverständnis zu verwenden, das nicht auf Diskurs ausgerichtet war, sondern – ich muss es leider so sagen – eher an Rechthaberei erinnert. Auch halte ich viele seiner Ansätze zur konkreten aktuellen Gesundheitspolitik, z. B. zur Krankenhausreform, für sehr wenig durchdacht.
Gehen wir ins Detail: Thomas Kubo konnte nachweisen, dass Karl Lauterbach nie richtig als Arzt gearbeitet und als Wissenschaftler in den USA offenbar kaum eigene Studien durchgeführt hat. Seine Publikationsliste bis zur Berufung in Köln ist dünn. Welche fachliche Qualifikation hat er in Ihren Augen?
Er hat aus seiner langen Zeit in den USA sicherlich viel gesundheitssökonomische Erfahrung aus einem Gesundheitssystem mitgebracht, das durch DRGs (Fallpauschalen im Krankenhaus), Managed Care (Kopfpauschalen) und eine starke soziale Schichtung der Gesundheitssversorgung gekennzeichnet war. Nach den Informationen, die Sie im Hintergrund zusammengetragen haben, fehlten ihm – wenn diese nur annähernd zutreffen – jedoch jegliche klinische Erfahrung in eigenständiger ärztlicher Tätigkeit und außerdem jegliche Erfahrung in der eigenständigen wissenschaftlichen Arbeit. Wenn jemand knapp zehn Jahre in den USA war, das kann ich als ehemaliger Dekan und nach langjähriger Leitungstätigkeit in Universitätskliniken nun wirklich beurteilen, müssten zahlreiche abgeschlossene wissenschaftliche Projekte, einschließlich der damit zusammenhängenden hochrangigen (im sog. Peer-Review-Verfahren begutachtete) Publikationen, vorliegen. Nichts davon scheint der Fall zu sein. Ich möchte dies an dieser Stelle allerdings nicht werten, denn ich bin mit ihm Mitglied der Kölner Medizinischen Fakultät, dies muss an anderer Stelle geschehen.
Sie haben selbst mit ihm zusammengearbeitet. Welche Erfahrungen haben Sie mit Karl Lauterbach als Wissenschaftler machen können?
Ich habe nur ein wissenschaftliches Projekt mit ihm zusammen gemacht, das in meiner Hand lag. Was er sicherlich konnte, war das Aufspüren von wichtigen Fragestellungen. Ob er jemals mit dem schwierigen Weg Bekanntschaft gemacht hat, den Wissenschaftler mit eigenen Projekten gehen müssen, ich würde sagen, mit der Demut, die man lernen muss, weil es immer wieder Hemmnisse und widersprüchliche Befunde gibt, die sich der Interpretation nicht so ohne weiteres öffnen, das muss man jetzt anhand der Publikationsliste, insbesondere aus der Zeit vor seiner Berufung, klären.
Warum konnte er sich bei recht dünner Publikationsliste sowie fehlender Habilitation überhaupt für eine Professur bewerben und sie bekommen? Nach unserer Recherche hat er zudem noch zwei weitere Rufe von unterschiedlichen Universitäten und dort auch von verschiedenen Fachbereichen erhalten.
Zu den Berufungsverfahren kann ich keine Auskunft geben, weil ich nicht Mitglied der Berufungskommissionen war. Wenn die von Ihnen neuerlich veröffentlichten Informationen aus Tübingen auch nur ansatzweise zutreffen, ist eine Überprüfung des Verfahrens aus meiner Sicht unumgänglich.
Sie selbst haben in den 1990er Jahren an verschiedenen Universitäten gelehrt, unter anderem in Köln. Können Sie in der Rückschau erklären, warum Karl Lauterbach gerade dort ein eigenes Institut aufbauen konnte? Hat das damit zu tun, dass die Uni Köln von ihm die erfolgreiche Akquise von Drittmitteln erwartete?
Nun, Drittmittel erwartet eine Universität bzw. Fakultät immer, das ist ein anderes Thema. Allerdings ging es im von Ihnen dargestellten Berufungverfahren wohl eher um die Frage, ob die von Lauterbach hierzu gemachten Angaben inhaltlich zutreffend waren. Über das Berufungsverfahren in Köln kann ich mich nicht äußern, ich war nicht in die Berufung involviert.
War die „Gesundheitsökonomie“ im neoliberalen Sinne damals einfach an der Zeit? War ein Bewerber mit Harvard-Hintergrund und zwei Dissertationen unter diesem Gesichtspunkt für die Universitäten, aber auch für die Politik, ein idealer Kandidat?
Ja, das war der Fall. Man öffnete sich richtigerweise der Frage, dass im Gesundheitswesen enorme finanzielle Mittel bewegt werden, mit denen entsprechende Interessen verbunden waren. Neoliberal hin oder her, es war und ist richtig, die Regeln kennen zu lernen, nach denen die Mittel verteilt werden. Die mittlere Liegezeit im Krankenhaus lag damals noch bei über 2 Wochen, da konnte man gut Geld dran verdienen. Es geht also auch darum, wie man diese Regeln verändert. Karl Lauterbach war hier durchaus ein „interessanter Kandidat“, allerdings gehört zum Prozess der Veränderung auch noch etwas anderes als schieres Faktenwissen. Das was man hört, die mangelnde Akzeptanz bei den Mitarbeitern und bei den Kollegen, spricht für einen gewissen Nachholbedarf in sozialer Kompetenz. Aber dies muss sich nun im Alltag regeln.
Die detaillierte Recherche in den Publikationslisten, die Karl Lauterbach in Tübingen im Rahmen seiner Bewerbung auf eine Professur vorgelegt hat, enthalten einige Texte, die niemals erschienen sind. Wie beurteilen Sie das? Kommt so etwas öfter vor?
Das sollte auf keinen Fall öfter vorkommen. Entweder sind Texte erschienen oder nicht. Aber es gibt wohl auch Probleme mit der wissenschaftlichen Relevanz der Texte, die in Tübingen vorgelegt wurden. Wenn die Angaben in Ihren Recherchen stimmen, waren das alles Texte außerordentlich niedriger Relevanz, also weit von Peer-Review-Publikationen entfernt. Wie gesagt, dies muss vor Ort geklärt werden. Aber wenn ich das so sagen darf, ein stimulierendes Signal an angehende wissenschaftliche Kräfte, die sich in der Qualifikation befinden und dabei den ganzen Weg nehmen, geht daraus nicht hervor.
Etwas allgemeiner gefragt: Wie läuft so eine Berufung ab? Schauen die Mitglieder der Berufungskommission sich die Publikationen und die restlichen Bewerbungsunterlagen genau an oder werfen Sie einfach nur einen Blick auf die Liste und entscheiden vor allem nach den Gesprächen mit dem Bewerber?
Eine Berufung ist ein sehr komplexer Prozess. Natürlich wird die „Papierform“ begutachtet, aber man muss sich zusätzlich bzw. sogar schwerpunktmäßig ein Bild machen, wie diese Arbeiten zustande kommen. Es soll ja ein Institut geleitet werden, Teams müssen gebildet und motiviert werden, die Kooperation mit anderen Forschungsinstitutionen ist eine wichtige Facette. Dazu besucht man im Allgemeinen den bisherigen Wirkungsort oder versucht zumindestens, mit anderen dort tätigen Forschern ins Gespräch zu kommen. Auch Mitarbeiter sollte man interviewen, ich habe dies als Dekan wenigstens immer getan – da kann man wichtige Informationen erhalten. Inhaltlich muss man sich den wissenschaftlichen Weg daraufhin ansehen, ob immer nur der gleiche Punkt gemacht wurde, oder ob eine produktive thematische Entwicklung sichtbar ist, ob neue Aspekte aufgenommen wurden, denn man kann heutzutage nicht mehr davon ausgehen, dass ein Fachgebiet immer gleich gegliedert und geartet ist. Und last, not least: Man muss sich ein Bild von der Qualifikation in der Lehre machen, von der Motivation, junge Studenten bzw. Studentinnen in den Grundlagen des Faches auszubilden, ihnen die Grundlagen verständlich zu machen, sie zu begeistern, so dass sie mit dem Wissen später etwas anfangen können oder sogar selbst den wissenschaftlichen Weg einschlagen.
Könnte man der Tübinger Kommission im Fall Lauterbach vorwerfen, dass sie die Unstimmigkeiten nicht geprüft haben oder müsste man beim Bewerber selbst ansetzen?
Ob die Regularien eingehalten wurden: Die Antwort kann Ihnen nur die Tübinger Kommission bzw. Universität selbst geben.
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Schauen wir noch einmal in die Gegenwart. Karl Lauterbach legt viel Wert darauf, dass er viele Studien liest und er zitiert diese dann auch auf Twitter. Seine Kritiker sagen: Er interpretiert sie oft falsch. Was meinen Sie? Wie kommt es zu derartigen „Fehlinterpretationen“?
Die häufigen Fehlinterpetationen sind leider ein Fakt. Wenn man selbst wissenschaftlich gearbeitet hat, muss einem bewusst sein, dass eine einzelne Studie immer nur eine Momentaufnahme darstellt. Man muss eine Studie, bevor man sie öffentlich zitiert, auch kritisch bewerten – hierzu gibt es erprobte Instrumente, z. B. von der Cochrane-Collaboration, der international führenden Einrichtung zu diesem Thema. Und drittens sollte man sich davor hüten, eine einzelne Studie als „die Wissenschaft“ zu überhöhen und zu implizieren, man hätte damit die Gesamtsituation im Blick und könnte direkt daraus Handlungsempfehlungen ableiten. Studien können zur Wirklichkeit immer nur einen Baustein hinzufügen und sollten mit Bedacht interpretiert werden. Vor allem aber sollte man sich hüten, andere Wissenschaftler anzugreifen oder gar herabzuwürdigen. Man hat manchmal den Eindruck, Karl Lauterbach habe „die Wissenschaft“ für seine politische Karriere instrumentalisiert.