Horst Stowasser ist gestorben
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Ein (persönlicher) Nachruf –
Von Regine Naeckel, 31. August 2009 –
"Am Anfang war der Zorn – die Zukunft wird anarchistisch sein!"
Dieser Satz aus dem Buch ANARCHIE! umreißt den Ausgangspunkt von Horst Stowassers unermüdlichem, begeistertem Kampf für eine andere, für eine bessere Gesellschaft. Und seinen unerschütterlichen Glauben an die Logik, dass nur ein anarchistischer Gesellschaftsentwurf dem brutalen Chaos des Kapitalismus ein "sanftes Chaos" vernetzter Strukturen entgegenzusetzen vermag, in dem die Herrschaft des Menschen über sich und die Natur überflüssig wird. Horst Stowasser starb im Alter von 58 Jahren am Morgen des 30. August 2009 in Neustadt an der Weinstraße.
Der sicher bekannteste "moderne" deutsche Anarchist Stowasser hing keiner Strömung gängiger Theorien an, er entwickelte vielmehr das Experiment seines Anarchismus, seiner libertären Ideen in verschiedensten Projekten – selbstverwaltete Betriebe, gemeinsames Wohnen und Kulturveranstaltungen waren die mit viel Einsatz und Leidenschaft betriebenen praktischen Umsetzungen von Horst Stowassers "Projektanarchismus".
Fast vierzig Jahre lang beschäftigte sich Horst Stowasser mit der Geschichte der Anarchie, 1971 begründete er das Dokumentationszentrum AnArchiv, eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten, Zeitschriften und Literatur zum deutschen Anarchismus. 1985 veröffentlichte er sein erstes Buch, in dem er das „Projekt A“ entwarf, dessen Ziel die Verankerung libertärer Projekte im Alltagsleben einer Kleinstadt war. Das Projekt setze er kurz darauf in die Tat um, scheiterte und begann erneut. In seinen theoretischen Arbeiten verband er später die Grundlagen der Ökologie mit seinem Verständnis einer anarchistischen Gesellschaft.
Es ist außerordentlich traurig, dass dieser wache und mutige Denker, dieser liebenswerte Mensch so unerwartet starb. Wir durften ihn kennenlernen und er schrieb als Autor auch für Hintergrund.
Mein verwinkelter Weg – eine Hommage an Horst Stowasser
Als ich die Texte – vor allem "Freiheit Pur" – von Horst Stowasser (leider erst) vor einigen Jahren "entdeckte", fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Wie durch Zufall war ich während meines Studiums auf ein Phänomen gestoßen, dass sich nun aus berufenem Munde bestätigte. Ohne mir wirklich sicher zu sein, glaubte ich vor Jahren den wissenschaftlichen Beweis für das Funktionieren einer anarchistischen Gesellschaft bei einem Chemiker gefunden zu haben – und hätte es beinahe wieder vergessen gehabt – wäre mir nicht Horst Stowasser "über den Weg gelaufen".
Anfang der 80er Jahre arbeitete ich für die Uni an einer theoretischen Untersuchung über Stabilität und Instabilität ökologischer Systeme. Dabei stieß ich in der Bibliothek auf Veröffentlichungen von Ilya Prigogine. Dissipative Strukturen, Selbstorganisation und Irreversibilität. Sofort spürte ich eine gewisse Unruhe, als hätte ich am Stein der Weisen gekratzt: Dynamische – nicht statische – Systeme waren die stabilen, die "lebesfähigen". Und alles, was ich über die Frage der Selbstorganisation in der Natur erarbeitete, ließ sich wunderbar auf gesellschaftliche Systeme übertragen! Ich hatte sogar den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik "geknackt" und die Theorie der durch die zunehmende Entropie im Wärmetod endenden Menschheit, ein für die kapitalistische Welt vom Club of Rome in die Debatte geworfenes Endzeitszenario, ad absurdum geführt. Ja, es ist auch ein Sein ohne ständiges (wirtschaftliches) Wachstum möglich, das verblüffte sogar mich selbst.
Doch das war nicht meine Aufgabe. Ich musste mich mit Mikroorganismen befassen. Tags schrieb ich meine Arbeit, nachts rauschte mir der Kopf, die Gedanken kreisten um Prigogines dissipative Strukturen in nichtlinearen Systemen. Hätte ich nur damals schon Horst Stowasser gekannt.
Es hatte keinen Sinn. Ich war abgelenkt und legte die Arbeit für die Uni zur Seite, nahm ein blankes weißes Blatt Papier und skizzierte ein utopisches Gesellschaftskonzept. Keine Macht für niemand, einer ist nur lebensfähig durch den anderen, schwarz auf weiß – wissenschaftlich belegt. Die Natur funktioniert exakt nach diesem Prinzip – seit Jahrmillionen. Und genau so könnte es auch die menschliche Gesellschaft. Jugendphantasien! "Kein dialektischer Materialismus – alles Quatsch", sagte meine Schere im Kopf.
Ich wandte mich wieder meiner eigentlichen Arbeit zu, hatte aber – neben den theoretischen Schriften der "alten" Anarchisten im Kopf – nun tatsächlich den kleinen schwarzen Funken im Herzen und die stille Gewissheit, dass Anarchie (theoretisch) funktionieren kann und muss. Und dass sie zum Nutzen aller und absolut friedlich sein würde. Ich wurde dennoch nicht zur Anarchistin im landläufigen Sinn.
Angekommen
Irgendwann – zwanzig Jahre später – stieß ich beim Kramen im Internet auf Texte von Horst Stowasser: "Leben ohne Chef und Staat" und "Freiheit Pur". Meine bruchstückhaften Denkansätze, die über Gedankenfetzen nie hinausgekommen waren – hier waren sie zu Ende gedacht, bestens formuliert, vergnüglich lesbar und angereichert mit den Erfahrungen und dem Scheitern eines "praktizierenden" Anarchisten. Ich empfahl die Bücher von Horst Stowasser Freunden, die bei der Vokabel "Anarchie" zuerst möglicherweise an Chaos und Gewalt dachten, sicher aber nicht an eine friedliche – womöglich glückliche – Gesellschaft ohne Machtstrukturen und Herrschaftsinstumente. (Mittlerweile ist "Freiheit Pur" als pdf im Internet –> KLICK .) Sicher wurde keiner dieser Freunde zu einem praktizierenden Anarchisten, aber alle bestätigten, äußerst positive Denkanstöße für ein besseres menschliches Miteinander bekommen zu haben. Und viele erklärten, wie wichtig es sei, dass aus einer Gesellschaft heraus Utopien entwickelt würden, die dann der wesentliche Motor sozialen Fortschritts seien. Utopien als Denkanstoß waren etwas, was viele vermisst hatten und vermissen.
Menschen anzusprechen, die ohne diese Bücher nie auch nur einen Gedanken der Geschichte der Anarchie gewidmet hätten oder sich ohne diesen Impuls nie gesellschaftlichen Utopien geöffnet hätten, ist einer der großen Verdienste Horst Stowassers. Als Autor und als Mensch war er nie ein Agitator oder Heilslehrer, aus seiner eigenen Begeisterung sprang ein Funke über, der seinen Lesern die Augen öffnete und die Welt neu entdecken ließ.
Vor über zwei Jahren erschien Horst Stowassers Buch ANARCHIE! Es stürmte kurz nach dem Erscheinen im Juni 2007 die Sachbuch-Charts. Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Deutschlandradio Kultur – überall wurde nicht nur Horst Stowassers "Geschichte der Anarchie" in den höchsten Tönen gelobt, auch seine Konzepte für gelebte Anarchie wurden mit stiller Bewunderung anerkannt. "Ein Kompendium, das in keiner Hausbibliothek fehlen darf", schrieb Volker Ulrich in der Zeit.
Anarchie wurde gesellschaftsfähig und erfuhr anerkennende Öffentlichkeit. Für mich war das ein Beleg, wie sehr – in Zeiten der sich anbahnenden Wirtschaftskrise und des Fehlens jeglicher Sinngebung – mittlerweile Teile der bürgerlichen Gesellschaft nach einem Ausweg aus der Festgefahrenheit des Kapitalismus, seiner Auswüchse und dem geistig einschränkenden ideologischen Überbau suchten.
Wir haben uns tatsächlich "getroffen"
Das erste Hintergrund-Heft im Jahr 2009 hatte den Schwerpunkt Wirtschafts- und Finanzkrise. Das war die Gelegenheit! Wir wollten unbedingt wissen, was Horst Stowasser dazu zu sagen hat. Ich schickte ihm eine Mail und er rief mich an. Er sagte zu, einen Artikel für uns zu schreiben. In seiner ihm eigenen Art, die Dinge positiv auf den Kopf zu stellen, um sie von der Kehrseite genauer betrachten zu können, lieferte er die "Diagnose: "Kapitalismus" – Vom Krankheitsbild eines absurden Wirtschaftssystems und der Aktualität einer anarchistischen Alternative " (lesenswert!!). Doch das war nicht alles. Wir telefonierten öfter und wollten in Kontakt bleiben, uns bei passender Gelegenheit treffen. Ich erzählte ihm von meinen "Zetteln" und Prigogine, wir lachten viel. Horst "stand ganz oben" auf meinem Zettel der Menschen, die ich unbedingt und bald einmal treffen oder besuchen wollte.
Nun ist ein neues Heft für Hintergrund in Vorbereitung, das unter anderem die Bundestagswahlen kritisch beleuchten wird. Ein wichtiger Punkt aus unserer Sicht ist dabei der Parlamentarismus an sich und seine Verkommenheit in den "demokratischen (westlichen) Gesellschaften", die Rolle des Souveräns und seine angebliche "Freiheit", das eigene Geschick wählen zu dürfen. Wer hätte besser als Horst dazu etwas schreiben, mit spitzer Feder dieses Lügengebäude konterkarieren können? Wir wollten ihn unbedingt bitten, wieder für Hintergrund zu schreiben.
Deshalb versuchte ich seit einiger Zeit, ihn anzurufen – vergeblich, e-Mails blieben unbeantwortet. "Sicher ist er in Urlaub", dachte ich. Heute nun wollte ich versuchen, im Eilhardshof jemanden zu sprechen, um zu erfahren, wann er wieder zu erreichen ist.
Als ich im Internet nach einem Kontakt recherchierte, fand ich die Meldung:
Horst Stowasser ist tot.
Ich bin fassungslos und traurig. Du fehlst uns, Du wirst vielen fehlen, die so gerne noch viel von Dir erfahren, wissen und lesen wollten.
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Möge die Erde Dir leicht sein.
DadA Web hat eine Seite eingerichtet, auf der Freunde, Wegbegleiter, Menschen die ihm nahestanden oder ihn kannten an Horst Stowasser erinnern.