Guttenberg oder wie kleinbürgerlich-untertänig sind die Deutschen?
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Von JUTTA DITFURTH, 11. August 2009 –
Statt zu streiken traten letztes Jahr 221 Busfahrer der Verkehrsbetriebe Saarbahn GmbH in eine Partei ein, um die drohende Privatisierung zu verhindern. Bei Schaeffler und Porsche fielen Arbeiter ihren Kapitaleignern schluchzend um den Hals, anstatt sie zum Teufel zu jagen. Und gleichzeitig himmeln viele Deutsche den Wirtschaftsminister Guttenberg an, halten ihn gar für etwas Besonderes. Warum dieser untertänige und kleinbürgerliche Blick?
Wer die Weltwirtschaftskrise anrichtet, scheint manchmal fast gleichgültig – Hauptsache die Täter und die Elendsverwalter haben gute Manieren. Das Bürgertum klaubt für die eigene „Elite“-Produktion Vordemokratisches aus der „adligen Kultur“ (Rituale, Manieren, Erziehung, Militärisches).
Fast 90 Prozent der Menschen (ARD, Tagesschau v. 6.8.2009) glauben, dass die Weltwirtschaftskrise ihre soziale Lage verschlechtern wird und dass die Banken so weiter machen werden wie bisher. Und alle diese Millionen Menschen sagen: »Man kann nichts machen.« Millionen – Man will nicht. Man müsste sich ja streiten, informieren und organisieren. Da ist es bequemer zu maulen und zu jammern und zu warten, dass …. ja, was? Ein Führer kommt? Damit die Menschen nicht aufmucken und sich von den herrschenden Verhältnissen befreien, wird das Gift des Nationalen mobilisiert. Das soll helfen, die Vorstellung klein zu halten, dass diese Verhältnisse Widerstand verdienen. Wir sind aber nicht »alle in einem Boot«, sondern die einen ersaufen im Meer oder schuften im Maschinenraum, und die anderen logieren im Penthouse der Reederei. Es bedarf also einer Meuterei. Das Gift des Nationalismus ist in Deutschland immer virulent. Es wird gern gespritzt, wenn dem Kapitalismus Gefahr droht. Dann entwickelt sich die Ideologie der »nationalen Schicksalsgemeinschaft«, und auf einmal – hast du nicht gesehen? – gibt es keine sozialen Klassen mehr und keine internationale Solidarität. Es wird unterstellt, dass ausgerechnet der kapitalistische deutsche Staat eine fürsorgliche, auf das Wohl aller Deutschen – vor allem der schwächsten – ausgerichtete Institution ist. Der Arbeitslose in England, der Wanderarbeiter in China, die Gewerkschafterin in Venezuela, der revoltierende Jugendliche in Griechenland – alle rücken plötzlich weit weg. Dem national berauschten Deutschen ist sein deutscher Kapitalist näher als ein Mensch ähnlicher sozialer Lage, der wie der Zufall der Geburt es so will, in einem anderen Teil der Welt aufgewachsen ist.«
Und was bekommt der Untertan für seine Unterwerfung? Man verspricht ihm den scheinbaren Schutz: »vor größeren Schicksalsschlägen, vor Fremden, vor Veränderungen und anderen ‚Sicherheits’-Problemen. Wirklich wertvolle Grundwerte wie soziale Gleichheit aller Menschen, Freiheit von Ausbeutung, Erniedrigung, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus, Solidarität über alle nationalen Grenzen hinweg und eine umfassende gesellschaftliche Emanzipation hat die Nation niemals im Angebot. Ganz besonders nicht die deutsche, die nicht mal ein Recht auf ‚résistance’ kennt.« (1) Wer wird der Adressat ihrer Wut, wenn sie feststellen, dass alle Unterwerfung nichts nützt? Manche Menschen zerstören sich selbst. Andere aber lassen sich leicht gegen sozial Schwächere aufhetzen.
»Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, dem wir es verdanken, dass es die Auschwitz-Prozesse (1963–1965) gegeben hat, hat kurz vor seinem Tod im Juli 1968 darauf hingewiesen, dass ein ureigenes Widerstandsrecht des Menschen existiert, das sich gegen den Staat und die Obrigkeit richtet. […] Für Bauer war der Kontrast zwischen Deutschland und Frankreich augenfällig: ‘Frankreich hatte seine Revolution. Es bekannte sich zu den Menschenrechten. Hierzu wurde sofort das Recht auf résistance gezählt. Anders in Deutschland. Die deutschen Philosophen machten im Kielwasser des autoritären Staates dem Widerstandsrecht der Jahrtausende den Garaus.’ Bauer zitierte Kant, der dem Untertan kein bisschen Widerstand erlaubt, was auch immer der Staat verbricht, um den Menschen unglücklich zu machen. ‘Die Worte Kants, denen ganz ähnliche Hegels, auch […] Treitschkes und vieler anderer entsprechen, sind das Spiegelbild der sozialen Realität in Deutschland.’« (2) Ist es nicht schön, dass es viele Menschen gibt, die aus dieser verzerrten Realität ausbrechen?
Die Autorin: Jutta Ditfurth, geb. 1951, ist Soziologin und Autorin. Sie lebte in Großbritannien und in den USA, schrieb als Auslandsreporterin u.a. über die Sowjetunion, China, Algerien und Kuba. Sie war Mitgründerin der Grünen und von 1984-1988 deren Bundesvorsitzende. 1991 trat sie aus der Partei aus. Von 2001 war sie Stadtverordnete für ÖkoLinX-Antirassistische Liste im Frankfurter Stadtparlament. Sie ist seit 1970 in der außerparlamentarischen Linken (Gruppe Ökologische Linke) aktiv.
Anmerkungen:
(1) Zeit des Zorns. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft, München 2009, S. 219/202
(2) ebenda, Seite 214
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Quelle:
Blog Droemer Knaur "was-sache-ist" via Tlaxcala