Extremisten auf der Straße
Die Mitte und ihr Mythos der Alternativlosigkeit zeigen ihre Ohnmacht vor der Opposition. Weitere totalitäre Maßnahmen sind geplant. Ein Kommentar zur aktuellen Lage.
Sie sind auf der Straße und stolz darauf. Man wolle jetzt das tun, was die Großeltern vor über achtzig Jahren versäumt hätten, steht auf einigen Plakaten. Wieder einmal erleben wir einen „Aufstand der Anständigen“, eine Manifestation des „#wirsindmehr“, denn „#Deutschlandstehtauf“ und das mit vielerlei Nazi-Vergleichen. Dass das heute nur mit Parolen und Hashtags geht, geschenkt. Viel schlimmer ist, was sich hinter diesen Parolen verbirgt. Denn die vermeintlichen Anständigen unterstützen die Extremisten der Mitte. Die Vertreter des besten Deutschlands, das wir je hatten (Frank-Walter Steinmeier), die Apologeten der Alternativlosigkeit gehen Seit‘ an Seit‘ mit der Regierung und der akzeptierten Opposition in Form von CDU und den Resten der Linkspartei gegen die größte Oppositionspartei auf die Straße und singen im Lichtermeer davon, dass sie Widerstand leisten. Widerstand im Sinne der vermeintlichen Mehrheitsmeinung gegen eine Minderheit. Das gibt ein gutes Gefühl.
Die Demonstranten fühlen sich in der Mitte der Gesellschaft. Aber diese Mitte ist, der Begriff fiel bereits, extremistisch geworden. Dabei setzen deren Vertreter auf die Selbstdefinition. Denn im Sinne des politischen Establishments gibt es keine extreme Mitte, denn sie definiert sich in einer Art Zirkelschluss selbst als Mitte. Deren Positionen sind gemäßigt und umgekehrt. Die Mitte vertritt das, was alternativlos und vernünftige Politik ist. Also Waffenlieferungen für Frieden oder Grundrechtseinschränkungen für den Gesundheitsschutz oder jetzt für die Grundrechte – und das alles ohnehin für „unsere Freiheit“. Die Mitte vertritt in eigenem Verständnis die Politik im Sinne des Ganzen. Wer etwas anderes will, die Alternativlosigkeit auch nur infrage stellt, der ist ein Extremist.
Wer allerdings die Alternativlosigkeit predigt, auch wenn diese wie bei den aktuellen Demonstrationen in schön bunte Farben eingehüllt wird, der ist selbst ein solcher Extremist. Wer keine Meinung außer der eigenen zulassen, wer der Opposition nicht zuhören will und nicht versteht, warum die Wähler der AfD zuströmen – nämlich wegen des Unvermögens eines großen Teils der Politik und nicht, weil sie extrem rechts gesinnt sind, dem bleibt nichts mehr als autoritäre, also extremistische Maßnahmen.
Nichts anderes ist es, wenn man einem Vertreter der Opposition die Grundrechte entziehen oder eine Partei verbieten will, mag sie auch noch so unappetitlich wirken. In einem System, das heute für Demokratie gehalten wird – also dem regelmäßigen Wählen von Repräsentanten des vermeintlichen Volkswillens – sollte zumindest die Wahl frei sein. Allerdings erklären aktuell Regierungsvertreter wie Schleswig-Holsteins Ministerpräsident offen, man könne nicht tolerieren, dass diese Partei gewählt wird. Wer das sagt, zumal in solch verantwortlicher Position im Staat, hat sich so weit von den eigenen Ansprüchen entfernt, dass der Begriff des Extremismus mehr als angebracht ist – auch wenn das Zitat im Text etwas gemäßigter daher kommt als in der Überschrift beim Magazin Cicero.
In den vergangenen Jahren gab es mehrere politische Analysen, die sich dieses Extremismus der Mitte angenommen haben. So zum Beispiel der britische Autor Tariq Ali. Er schreibt in seinem 2018 auf Englisch und 2020 in Auszügen auf Deutsch erschienenen Buch „Die extreme Mitte“ (Promedia Verlag) davon, dass in der extremen Mitte die politischen Unterschiede wenig erkennbar, Politik und Wirtschaft aufs engste verwoben seien, Macht zu Selbstzweck werde.
Heutzutage hat die Symbiose von Macht und Geld fast überall extreme Ausmaße erreicht. Die eingeschüchterten und fügsamen Politiker, die das System betreiben und sich reproduzieren, nenne ich die ,extreme Mitte‘ der Mainstream-Politik in Europa und Nordamerika.
Tariq Ali ruft die Meilensteine einer Politik der Alternativlosigkeit ins Gedächtnis. Sie sei in dem Moment ins Extreme umgeschlagen, als die „kriegstreiberischen grünen Führer in die Regierungskoalition eintraten“. Für die weitere Entwicklung bis heute waren dann die Wirtschaftskrise von 2008 und insbesondere die „Sparprogramme“ entscheidend. Kurzzeitig war der Konsens infrage gestellt, dann beugte sich Syriza in Griechenland dem Druck der EU, wenig später trat in Spanien Podemos einer Regierung der extremen Mitte bei. Wir können diese Reihung ergänzen durch die autoritäre Reaktion auf die Corona-Krise oder die von fast allen (selbst „linken“ Ministerpräsidenten wie Bodo Ramelow) geforderten Waffenlieferungen zum angeblichen Schutz „unserer Freiheit“ in der Ukraine. Und nun eben geht es angeblich um den „Kampf gegen rechts“. Und was die Regierungen angeht: Das Bündnis Sahra Wagenknecht spricht bereits von Koalitionen mit den Parteien des Establishments ganz im Sinne der Parole „alle gegen die AfD“.
Was aber ist der Grund dafür, dass sich ein Teil der Menschen abwendet und sich beispielsweise in den vergangenen Wochen die Bauern zu Tausenden in ihren Traktoren auf die Straße stellten? Es ist – alles andere als nebenbei gesagt – höchst merkwürdig bis sehr verdächtig, dass die Recherche eines maßgeblich von Medienkonzernen, dem Staat und „Philanthropen“ finanzierten Mediums just in dem Augenblick erschien, als die Proteste gegen die Regierung sich auf dem Höhepunkt befanden. Proteste, die selbstverständlich längst als rechts unterwandert beschrieben worden waren.
Die Gründe des Protestes in Kürze: Wir erleben, wie von Tariq Ali kurz auf den Punkt gebracht, eine Symbiose der politischen extremen Mitte mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der Elite. Allein diese profitieren von der EU und dem Euro, die in Europa die Hyperglobalisierung verschärft haben. Arbeitsplätze sind in Billiglohnländer verlagert worden und die hiesigen Arbeitnehmer, die Lohnabhängigen, aber auch die Bauern haben wenig bis nichts von der Globalisierung. Maximal erhalten sie Stillhalteprämien in Form von mal mehr und mal weniger Sozialleistungen oder Subventionen. Menschen sind nun einmal nicht so flexibel und mobil wie die Waren. Sie sind auch nicht so selbstlos, dass sie sich über die Angleichung ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse an die Peripherie freuen, wie der Soziologe Wolfgang Streeck in einem Beitrag im erwähnten Buch zur extremen Mitte es mit sarkastischem Unterton formulierte.
In Zeiten entfesselter Märkte muss der Staat helfen. Er dehnt sich aus, wird immer stärker mit dem Kapital verwoben und braucht natürlich neben (immer mehr) eigenen Angestellten und Beamten auch ideologische Vorfeldorganisationen. Und eben diese – Staatsbeschäftigte wie deren ideologische Vorposten in Stiftungen, Vereinen und Zentren liberaler Moderne, die gleichsam vom Staat gefördert werden – stehen nun zu dessen Verteidigung auf der Straße. Man kann also nicht sagen, dass die Demonstranten nicht ihre Interessen verteidigen. Es geht um ihr Auskommen, ihre Posten, ihr Geld. Mit Demokratie hat das aber wenig bis nichts zu tun.
Der Neoliberalismus der extremen Mitte hat massive Auswirkungen auf das Leben von vielen Millionen Menschen hierzulande. Deren traditionellen Vertretern, den Gewerkschaften und der SPD, ist spätestens mit Rot-Grün zwischen 1998 und 2005 das Rückgrat gebrochen worden. Die Agenda 2010, Hartz IV und der gesamte Sozialabbau waren dabei angeblich genauso alternativlos wie der erste Kriegseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg. Laut Heiner Flassbeck – wieder ein Zitat aus dem genannten Buch – hat Rot-Grün als „die ,moderne Mitte‘ als Lohndrücker und Deflationstreiber, als Spaltpilz für den Euro“ gewirkt. Zumindest in Deutschland ist die Radikalisierung in Richtung des absoluten Primats des Marktes von Rot-Grün nicht zu trennen. Im Übrigen auch nicht von der EU und dem Bekenntnis zu ihr. Wer gegen die EU argumentiert, ist natürlich rechts und der Feind der offenen Gesellschaft, die aber so sehr geschlossen ist, dass die Menschen innen kaum noch eine Alternative erspähen können.
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Ohnehin die EU. Zum Abschluss dieses Textes ob der Barbarei der extremen Mitte noch ein kleiner Blick auf die aktuellen totalitären Maßnahmen aus Brüssel. Denn von dort gibt es immer wieder Angriffe auf die Meinungsfreiheit. In nicht einmal einem Monat tritt der Digital Services Act (DSA) in vollem Umfang in Kraft. Er soll angeblich die Demokratie schützen, tut aber das Gegenteil, schrieb der ehemalige Richter Manfred Kölsch kürzlich in der Berliner Zeitung. Er verweist darauf, dass die EU damit angeblich gegen Desinformation vorgehen will, die aber nicht genauer definiert wird. Stattdessen könne die Europäische Kommission politisch unliebsame Meinungen oder wissenschaftlich argumentierte Positionen löschen. Bei einer Einstufung als rechtswidrig drohen soziale Konsequenzen. Die Folge: Selbstzensur. Der DSA implementiert das, was die Demonstranten auf der Straße fordern: Meinungsfreiheit nur für eine bestimmte Meinung. Das aber ist Extremismus. Extremismus der Mitte.
Der Autor
Johannes M. Schacht ist freier Autor aus Hamburg. Für Hintergrund schreibt er aus aktuellem Anlass unter Pseudonym.