Ein Trauerspiel - Der NSU-Untersuchungsbericht liegt vor
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Von SUSANN WITT-STAHL, 23. August 2013 –
Sehr fleißig war der Untersuchungssauschuss des Deutschen Bundestages zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Seit dem 27. Januar 2012 gab er sich redlich Mühe, „möglichst viele Spekulationen durch Tatsachen zu ersetzen“, wie der Vorsitzende Sebastian Edathy (SPD) am Donnerstag versicherte. 98 Zeugen hat der Ausschuss befragt, und seine Mitglieder haben akribisch mehr als 12.000 Aktenordner gewälzt – und hätten sicher noch mehr Beweismaterial durchgearbeitet, wenn es nicht von Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden vernichtet worden wäre. Aufwand und Mühen hat der Untersuchungsausschuss wahrlich nicht gescheut. Aber da er davon ausgeht, dass das, was die etablierten Parteien und Medien mittlerweile routinemäßig als „Chronik des multiplen Versagens“ und „Serie von Pleiten, Pech und Pannen“ bezeichnen, „wahrscheinlicher“ aus der „Blödheit“ (Edathy) von Behördenvertretern als aus alles anderem als aus freiheitlich-demokratischer Gesinnung resultiert, war nicht mehr zu erwarten als das, was schließlich geliefert und präsentiert wurde: 1.357 Seiten Papier mit der Offenbarung, dass der Verfassungsschutz (VS) „unterirdisch“ gearbeitet und ein „Trauerspiel“ geboten hat, so Ausschussmitglied Wolfgang Wieland (Grüne), 47 Empfehlungen, wie die Wiederholung so eines „Ermittlungs-GAU“ vermieden kann, und der Feststellung, dass beim besten Willen keine Komplizenschaft von Beamten mit Nazi-Terroristen entdeckt werden kann.
Es hagelte vernichtende Kritik aus allen im Bundestag und somit im Ausschuss vertretenen Parteien. Aber ans Eingemachte ging keine – auch Die Linke nicht. Sie hält zwar formal (aber keineswegs mit politischem Nachdruck) an ihrer Forderung nach Auflösung des Verfassungsschutzes fest, erachtet das „NSU-Desaster“, wie Gremiumsmitglied Petra Pau ausdrücklich betont, keinesfalls für erledigt, gibt sich ansonsten aber staatstragend. „Diesem Ausschuss ist es gelungen, das Gerangel um kurzfristige parteipolitische Vorteile und eigene Profilierung hinter das eigentliche Anliegen der Arbeit zurückzustellen. Das habe ich in meiner bisherigen parlamentarischen Laufbahn seit 1998 so noch nicht erlebt“, resümiert Pau voll des Lobes für sich selbst und ihre Kollegen. Dass der größte Geheimdienstskandal sowohl in der Geschichte der Bonner als auch der Berliner Republik faktisch eine Staatskrise darstellt, die aber einfach beschwiegen wird, weil sie erheblich weiterreichende Konsequenzen erfordert als Maßnahmen zur Optimierung der Arbeit der Sicherheitsbehörden und das Ausfahren des moralischen Zeigefingers der Politik, das jedoch sprach sie – einmal wieder – nicht aus.
47 Empfehlungen
„Der Rechtsstaat ist nicht fehlerfrei, aber in der Lage, aus Fehlern zu lernen“, ist Edathy überzeugt, dass mit einigen Korrekturen vieles erreicht werden kann. Der Ausschluss sei zu dem Ergebnis gekommen, dass „die Fehler und das Versagen auf allen Ebenen“ vorwiegend „strukturelle Ursachen“ hat, ergänzte Mitglied Eva Högel (SPD) – entsprechend sehen die 47 Empfehlungen aus, die er abgegeben hat: Was die Ermittlungsarbeit der Polizei anbelangt, so fordert er, „in allen Fällen von Gewaltkriminalität“, bei denen nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein rassistisch oder anderweitig politisch motivierter Hintergrund vorliegt, muss eine Prüfung in diese Richtung erfolgen. „Ein vom Opfer oder Zeugen angegebenes Motiv für die Tat muss von der Polizei beziehungsweise der Staatsanwaltschaft verpflichtend aufgenommen und angemessen berücksichtigt werden.“
Es soll auch eine „Arbeitskultur“ herbeigeführt werden, in der Fehler eingestanden werden. Reflexion und Umgang damit solle daher Gegenstand der polizeilichen Aus- und Fortbildung werden. Die Rotation sei ein geeignetes Führungsinstrument um zu vermeiden, dass sich die einzelnen Dienststellen abschotten können. Da ein Mangel an „interkultureller Kompetenz“ herrsche, müsse es Bemühungen geben, junge Menschen unterschiedlicher Herkunft für den Polizeiberuf zu gewinnen. „Die Polizei muss die Pluralität der Gesellschaft abbilden“, erläuterte Högel. Und nach Vorbild der Cold Case Units in anderen Ländern soll eine Einheit ins Leben gerufen werden, die sich nach einer bestimmten Zeit mit ungeklärten Kriminalfällen immer wieder mithilfe optimierter Ermittlungsmethoden befasst.
„Für die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts sollte der Gesetzgeber beim Erfordernis des Staatsschutzbezugs des zu verfolgenden Kapitaldelikts einen größeren Spielraum eröffnen“, lautet die Ausschuss-Empfehlung an die Justiz.
Bei der Aus- und Fortbildung von Richtern, Staatsanwälten und Justizvollzugsbedienstete müsse dafür Sorge getragen werden, „dass Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus in ihrer Gefährlichkeit nicht unterschätzt werden“. Was das Gremium zudem anmahnt, ist eine strengere gesetzliche Regelung der Aufbewahrung von Asservaten von ungeklärten Verbrechen. Beweismittel sollten nicht mehr vor Ablauf der jeweiligen gesetzlichen Verjährungsfrist amtlich vernichtet werden dürfen.
Umfangreich sollen die Hausaufgaben für den Inlandgeheimdienst sein. Denn „der Verfassungsschutz ist nicht in guter Verfassung“, monierte Edathy. Daher müsse künftig sichergestellt werden, dass innerhalb des Verfassungsschutzverbunds bereit stehende Informationen von länderübergreifender Bedeutung zentral zusammengefast, gründlich ausgewertet und die Ergebnisse allen zuständigen Verfassungsschutzbehörden zur Verfügung gestellt werden, lautet eine der wichtigsten Forderungen. Darüber hinaus brauche der Inlandgeheimdienst mehr Wissen über die rechtsradikalen Szenen, die die Demokratie und Menschenwürde bedrohen. Der Informantenschutz dürfte nicht Vorrang vor dem Erkenntnisgewinn und die Aufklärung über die braune Gefahr haben, betonte Edathy. Andernfalls sei das Wirken des VS „disfunktional“.
„In den Verfassungsschutzbehörden wird ein umfassender Mentalitätswechsel und ein neues Selbstverständnis der Offenheit gebraucht – und keine ,Schlapphut-Haltung‘ der Abschottung“, heißt es weiter im Untersuchungsbericht. Wie das in Geheimdienststrukturen realisiert werden soll, die keine freiheitlich-demokratische Matrix haben, mit erheblicher Mitwirkung von Stützen des NS-Staates, ehemaligen SS-, SA- und SD-Leuten, aufgebaut wurden und deren Hauptbetriebszweck bis heute die Verteidigung des Kapitalismus gegen kommunistische und anderen antikapitalistische Bewegungen ist – dazu fällt dem Ausschuss verständlicherweise wenig ein. „Die Verfassungsschutzbehörden müssen sich im Bereich der Personalgewinnung und in ihrer Arbeitsweise deutlich verändern“, lautet sein frommer Wunsch. Dazu gehöre etwa „die Öffnung der Ausbildungswege und die Einstellung von Quereinsteigern, mehr Mitarbeitertausch mit anderen Behörden auch außerhalb des Geschäftsbereichs des Bundesinnenministeriums sowie die laufende inhaltliche Auseinandersetzung mit Wissenschaft und Zivilgesellschaft.“ Und künftig soll die „systematische und strukturelle Kontrolle“ durch parlamentarische Gremien verbessert werden.
Die V-Leute der Sicherheitsbehörden sollen zukünftig nach „klaren Vorgaben“ hinsichtlich ihrer Eignung, nicht zuletzt was die Vorstrafen anbelangt, angeworben werden. „Der Ausschuss fordert klare Vorgaben hinsichtlich der Dauer der Führung einer Quelle durch einen Mitarbeiter einer Sicherheitsbehörde, die das Entstehen eines zu engen persönlichen Verhältnisses unterbinden.“
Der Alltagsrassismus der Polizei
17 Anwälte von Nebenklägern im NSU-Prozess äußerten in einer gemeinsamen Erklärung eine Menge Kritik an der abschließenden Bewertung durch den Untersuchungsausschuss – besonders daran, dass dieser lediglich davon ausgehe, es gebe in den Sicherheitsbehörden keinen institutionellen Rassismus, sondern nur einige Rassisten, wie der Vorsitzende Edathy heute erklärte. Die Juristen legten einen Katalog mit zehn Forderungen vor, die ihrer Ansicht nach als Lehre aus den Morden gezogen werden müssten. Dazu gehört vor allem, dass der Untersuchungsausschuss nach der Bundestagswahl am 22. September seine Arbeit fortsetzen soll. „Heute sollte nicht der Tag sein, wo das große Abhaken beginnt. Die halbe Wahrheit ist nicht die Hälfte der Wahrheit“, mahnte Anwalt Mehmet Daimagüler.
In den Sicherheitsbehörden sei bislang kein Mentalitätswandel zu erkennen, stellen die Nebenkläger fest. Die Arbeit vieler Beamter sei nach wie vor von Ressentiments geprägt. „Es ist sehr wichtig, dass dieser Alltagsrassismus in der Polizei bearbeitet wird, meint Anwältin Angelika Lex.
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Auch der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, sieht erhebliche Defizite und verlangt die Einsetzung eines Antirassismusbeauftragten, der dem Parlament jährlich einen Bericht vorlegen soll. „Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit werden immer noch in unserem Land sträflich verharmlost oder kleingeredet“, erklärte Mazyek.
Am 2. September wird sich der Bundestag in einer Sondersitzung mit dem Bericht befassen. Es müsse nun nach neuen Wegen gesucht werden, so Edathy, damit sich „ein solches massives, historisch beispielloses Behördenversagen“ nicht wiederholen kann.