Die Reifeprüfung
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Die Linke auf Regierungskurs kann EU-Kritik gar nicht gebrauchen –
Von ANNA-LENA BACH, 04. Januar 2014 –
Der Fraktionschef der Linken im Bundestag haut wieder einmal kräftig auf den Tisch. Gestern hat sich Gregor Gysi von bedeutsamen Formulierungen im Entwurf des Europa-Wahlprogramms seiner Partei klar und deutlich distanziert. Die Präambel, in der die EU als „neoliberale, militaristische und weithin undemokratische Macht“ kritisiert wird, sei nicht ganz gelungen, vertraute er der Nachrichtenagentur dpa an.
Gysi kritisierte auch die Forderung nach dem Austritt aus der NATO. „Das ist mir zu national gedacht“, sagte er. „Das hieße ja, die NATO bleibt wie sie ist, nur Deutschland nimmt nicht mehr daran teil.“ Gysi sprach sich stattdessen dafür aus, die Auflösung der NATO und die Gründung eines neuen Systems für Sicherheit und Zusammenarbeit zu fordern.
Diese radikal kritisch klingende Position vertritt Gysi allerdings nach eigener Aussage nur aus taktischen Gründen – zumindest laut einer Depesche des ehemaligen US-Botschafters Philip D. Murphy, die Wikileaks 2010 veröffentlicht und Spiegel Online ausgewertet hatte: Im November 2009 soll Gysi „gesellig und in Plauderlaune“ gegenüber dem US-Botschafter versichert haben, „die Forderung der Linken nach Abschaffung der NATO sei in Wirklichkeit ein Weg, den gefährlicheren Ruf nach einem Rückzug Deutschlands aus dem Bündnis zu verhindern“, war auf Spiegel Online zu lesen. „Für eine Auflösung der NATO sei ja die Zustimmung der USA, Frankreichs und Großbritanniens nötig. Und das sei unrealistisch.“ (1)
Der erwartete empörte Aufschrei gegen Gysis Anbiederung bei der US-Regierung sowie das Hauen und Stechen zwischen seinen Anhängern und Gegnern in der Partei blieb komplett aus. Die Mehrheit der kapitalismuskritischen Linken in der Linken hat offenbar längst die Segel gestrichen und sich mit ihrer Niederlage arrangiert. Die mehr als peinliche Wikileaks-Enthüllung wurde kollektiv totgeschwiegen und der NATO-Austritt fast nur noch in der Schmollecke der unverbesserlichen kommunistischen Schmuddelkinder der Linken diskutiert.
Daher ist Gysi auch beim jüngsten Versuch der Parteilinken zu retten, was wohl kaum mehr zu retten ist, ziemlich zuversichtlich, dass „da noch etwas geändert wird“. Das sagt er aus Erfahrung: Ob es um seine 2008 formulierte Forderung nach einem Abschied der Linken vom Antiimperialismus ging, die Übernahme der Antisemitismus-Definition (die Gleichsetzung von gewaltlosen zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen Israels Besatzungspolitik mit Judenhass) von neokonservativen Pressure Groups innerhalb und außerhalb der Partei oder die Verhinderung von Sarah Wagenknecht als Co-Vorsitzende der Bundestagsfraktions – bislang hat er seinen Kurs, ab durch die bürgerliche Mitte in Richtung einer mehr oder weniger linkssozialdemokratischen Volkspartei, meistens sukzessive durchdrücken können.
Die Linke wird am 15. und 16. Februar auf ihrem Bundesparteitag in Hamburg über das Europa-Wahlprogramm entscheiden. Der in den vergangenen Jahren stark geschwächte und geschrumpfte linke Parteiflügel dürfte erhebliche Mühe haben, seine in den Entwurf einbauten EU-kritischen Standpunkte gegen die Sturmläufe der sogenannten Reformer zu verteidigen.
Vorsorglich ist aber deren Frontmann Stefan Liebich schon vorgeprescht und hat die Änderungen der Fundi-Genossen heftig attackiert. Liebich ist nicht nur Mitglied des Bundestages, sondern – zusammen mit dem Who is Who der deutschen Kriegs- und Rüstungslobby, wie dem Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer AG Mathias Döpfner – auch des ohne Rücksicht auf Verluste deutsch-US-amerikanische Machtinteressen durchboxenden Elitenzirkels Atlantik-Brücke. Entsprechend geißelt er die Forderung nach einem Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO als „weltfremd und unrealistisch“.
Liebich hatte vor einigen Monaten, zusammen mit anderen Parteirechten, wie Gerry Woop, Paul Schäfer, Andé Brie, einen Vorstoß gewagt und den Sammelband „Linke Außenpolitik – Reformperspektiven“ veröffentlicht. Darin wird ein Abschied der Partei von einer konsequenten Antikriegsposition sowie die Zustimmung zu „völkerrechtskonformen Zwangsmaßnahmen bis hin zu militärisch ergänzten UN-Missionen“, Bundeswehr-Einsätze für die „Deeskalation von Gewalt“, so zwei von vielen kreativen Umschreibungen des Wortes „Krieg“, dringend in Erwägung gezogen. Auch gegenüber dem Antiterror-Kampf, der Sanktionspolitik und dem „imperialen Liberalismus“ der USA zeigen sich die linken Realos tolerant und aufgeschlossen.
Und nun sieht Liebich seine Bemühungen für eine rot-rot-grüne Perspektive auf Bundesebene durch den Programmentwurf der EU-Kritiker gefährdet. „Die anderen Parteien beobachten unsere Debatte sehr genau.“ In der Tat. Die SPD hatte im November auf ihrem Parteitag für 2017 eine rot-rot-grün Regierung in Aussicht gestellt, aber als eine wesentliche Bedingung die Bereitschaft zu einer „verantwortungsvollen“ Europa- und Außenpolitik genannt. Das heißt übersetzt: In der Tendenz die Zustimmung zu militärischen Interventionen des Westens, zu Troika-Politik und den unter der Führung Deutschlands forcierten Spardiktaten, zu Frontex, zu Demokratieabbau und anderen Grausamkeiten des Neoliberalismus. Der Europa-Parteitag der Linken nächsten Monat dürfte als Reifeprüfung der Partei für die Aufnahme ins Establishment der Regierungsfähigen, -würdigen und -willigen gewertet werden.
Gysi betonte, dass die Linke der EU zwar kritisch gegenüberstehen könne. Sie müsse trotzdem Befürworter der europäischen Integration sein. „Für uns linke Internationalisten gibt es kein Zurück zum früheren Nationalstaat.“ Der aus der kommunistischen und sozialistischen Nomenklatur stammende „Internationalismus“-Begriff, bislang vom bürgerlichen Lager in der Partei genau aus diesem Grund wohlweislich und tunlichst vermieden, wird neuerdings signifikant häufig von den Apologeten der EU – deren Strukturen von deutschen Regierungen vor allem als Vehikel benutzt werden, um die nationalen Wirtschaftsinteressen effizient durchzusetzen – gegen die antikapitalistische Linke in Stellung gebracht. So rückte beispielsweise der außenpolitische Sprecher der Linken-Bundestagsfraktion, Jan van Aken, mit einem meisterhaften orwellianischen Schachzug, der gewagten Gleichsetzung von Befürwortern der EU mit Internationalisten und ihrer Gegner mit Nationalisten, am 8. Dezember in seiner Rede auf dem Hamburger Landesparteitag unter großem Applaus der Anwesenden die linken EU-Kritiker ideologisch in die Nähe der ultraneoliberalen Partei Alternative für Deutschland.
Die Parteilinke Sevim Dagdelen wies derartige Vorwürfe am vergangenen Samstag gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung zurück und bekräftigte die Vorbehalte gegenüber der EU in dem Programmentwurf. „Wenn man die Fehlentwicklungen in der EU kritisiert, ist das nicht nationalistisch“, sagte sie. „Die Zerstörung von Demokratie und Sozialstaat, Milliarden für Banken, Niedriglöhne für Millionen und die Verelendung Südeuropas brauchen eine starke linke Opposition.“
Die schlechte Stimmung steigern und auch die Gemengelage unter den sich in der Defensive befindenden EU-Kritikern und EU-Gegnern in der Partei unübersichtlicher machen dürfte ein alternativer Europa-Wahlprogramm-Entwurf von Diether Dehm, dem Schatzmeister der Europäischen Linkspartei. Darin heißt es: „Mit dem Vertrag von Maastricht wurde die EU zu einem neoliberalen, militaristischen und weithin autoritären Regime, das nach 2008 eine der größten Krisen der letzten 100 Jahre herauf beschwor. Einst versprach die EU: mehr internationale Solidarität. Heraus gekommen sind: mehr faschistische Parteien, rechtspopulistische Volksverdummer und mehr Menschenjagd in und an den Grenzen der EU.“ Solche Aussagen werden von den „Reformern“ als Fehdehandschuh begriffen. Sie haben schon zum Angriff geblasen, werfen Dehm „ die Anheizung europafeindlicher Ressentiments“ vor und haben schon den Schuldigen ausgemacht, falls es auf dem Hamburger Europa-Parteitag „zur Zerreißprobe“ kommen sollte.
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