Die neue Führungsriege der SPD
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Opportunisten, Lobbyisten, Karrieristen –
Von ULRICH RIPPERT, 7. Oktober 2009 –
Der Niedergang einer Partei drückt sich auch in der Wahl ihres Führungspersonals aus. Das zeigt sich am fliegenden Wechsel in den Führungsgremien der SPD.
Nur Stunden nach der dramatischen Wahlniederlage der Sozialdemokraten am Sonntag vor einer Woche trafen sich vier Mitglieder des Parteivorstands und verabredeten im kleinen Kreis einen schnellen Führungswechsel an der Spitze der Partei. Wie Der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe berichtet, nahmen an diesem Treffen zwei bisherige Minister der Großen Koalition, Arbeitsminister Olaf Scholz und Umweltminister Sigmar Gabriel, sowie der Regierende Bürgermeister Berlins, Klaus Wowereit, und die stellvertretende Parteivorsitzende Andrea Nahles teil.
Die vier verständigten sich darauf, dass Gabriel den Vorsitz der Partei übernehmen solle und Nahles Generalsekretärin wird. Scholz und Wowereit sollten künftig als stellvertretende Parteivorsitzende fungieren. Genau dieser Vorschlag wurde dann im SPD-Präsidium einstimmig abgestimmt, nur Andrea Ypsilanti aus Hessen enthielt sich in diesem Spitzengremium der Stimme.
Im Parteivorstand war die Opposition stärker. Von den 36 anwesenden Vorstandsmitgliedern erhielt Gabriel nur 28 Stimmen und die designierte Generalsekretärin Nahles sogar nur 24. Dessen ungeachtet soll die neue Führungsriege auf einem Sonderparteitag im November abgenickt werden.
Der Führungswechsel gleicht einem parteiinternen Coup. Eine Handvoll Funktionäre nutzte den politischen Schock, den das schlechteste Wahlergebnis der SPD in der Nachkriegsgeschichte ausgelöst hat, um im Eilverfahren die Spitzenämter neu zu besetzen. Unter keinen Umständen sollte auch nur ansatzweise eine ernsthafte Diskussion über die politischen Ursachen des Wahldesasters geführt werden. Deutlicher hätten das Desinteresse und die Verachtung der Parteiführung gegenüber den Mitgliedern kaum zum Ausdruck gebracht werden können.
Die Partei hat in den zurückliegenden elf Regierungsjahren mehr als zehn der 20 Millionen Wähler verloren, die bei der rot-grünen Regierungsübernahme für sie stimmten – davon 6,3 Millionen in den letzten vier Jahren. Nun reagiert sie auf diese Wählerflucht, indem sie einen Bundesminister, der die rechte Politik der Großen Koalition in vollem Umfang mitgetragen hat, zum Parteivorsitzenden ernennt. Der Spitzenkandidat der Partei, Frank-Walter Steinmeier, der gerade von den Wählern abgestraft wurde, übernimmt die Leitung der Bundestagsfraktion. Das Ganze wird dann als "Erneuerung in der Opposition" bezeichnet.
Die Form des Führungswechsels sagt viel über die politischen Inhalte und Anschauungen der neuen Führungsgruppe um den künftigen Parteichef Gabriel und Generalsekretärin Nahles aus. Sie repräsentieren eine Schicht in der Partei, die jedes politische Ereignis, auch die schlimmste Wahlniederlage, nur aus einem Blickwinkel betrachtet: dem des persönlichen Aufstiegs. Die Festlegung auf politische Standpunkte oder gar Prinzipien ist ihnen völlig fremd. Sie können heute den einen, morgen den entgegengesetzten politischen Standpunkt vertreten, wenn es dem persönlichen Aufstieg dient. Die Bezeichnung "Linke" oder "Rechte" verliert in diesem Zusammenhang jegliche politische Bedeutung.
Sigmar Gabriel ist ein typischer Vertreter solcher sozialdemokratischer Apparatschiks. Der heute Fünfzigjährige wurde 1977 im Alter von 18 Jahren SPD-Mitglied. Dieses Eintrittsdatum ist nicht unerheblich für ein Verständnis seiner Parteikarriere. Obwohl Willy Brandt damals noch Parteichef war und auch noch weitere zehn Jahre blieb, gab Kanzler Helmut Schmidt in der SPD den Ton an. Gemeinsam mit Herbert Wehner hatte Schmidt im Frühjahr 1974 Brandt als Kanzler zum Rücktritt gezwungen, nachdem die Wirtschaftsverbände ein schärferes Vorgehen gegen die Arbeiterklasse verlangt hatten. Ein wochenlanger Streik der Beschäftigten im öffentlichen Dienst hatte breite Unterstützung gewonnen und zu deutlichen Lohnerhöhungen geführt.
Die Enttarnung des DDR-Spions Günter Guillaume, der als persönlicher Referent im Kanzleramt arbeitete, diente dann als Hebel, um Brandt zum Rücktritt zu zwingen. In enger Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftsbürokratie errichtete Schmidt ein Regime, das den Einfluss der Arbeiter in allen gesellschaftlichen Bereichen zurückdrängte. Sozialistische Gruppierungen und Tendenzen wurden in Partei und Gewerkschaften verfolgt und unterdrückt.
Die zweite Hälfte der siebziger Jahre bildete den Höhepunkt von Schmidts Sozialisten-Hatz. Zehntausende Mitglieder und Sympathisanten kehrten der SPD enttäuscht den Rücken. Damals entstanden die Grünen. Ungeachtet ihrer späteren Rechtsentwicklung waren unter ihren Gründungsmitgliedern viele enttäuschte Sozialdemokraten, die eine humanere und liberalere Gesellschaft anstrebten. Während sie scharenweise aus der SPD flüchteten, fühlte sich der junge Sigmar Gabriel von der Schmidt-SPD angezogen.
Gabriel nutzte seine Tätigkeit im SPD-Jugendverband Die Falken als Sprungbrett für eine steile Karriere. Über den Kreistag des Landkreises Goslar stieg er in die Landespolitik auf und wurde 1990 Mitglied des Landtags von Niedersachsen. Dort wurde er Fraktionsvorsitzender und Unterstützer von Gerhard Schröder.
Als Schröder im Oktober 1998 von der Hannoveraner Staatskanzlei ins Berliner Kanzleramt wechselte, folgte ihm Gabriel – nach einem kurzen Zwischenspiel von Gerhard Glogowski – im Dezember 1999 als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, ohne sich dem Wählervotum zu stellen. Als "Mann Schröders" setzte er die Landespolitik seines Mentors fort.
Als Mitglied des VW-Aufsichtsrats fungierte er gleichzeitig als Lobbyist des Volkswagen-Konzerns. Seine damalige Lebensgefährtin Ines Krüger erhielt Mitte 2002 einen gut dotierten Leitungsposten in der Personalabteilung von VW. Gabriel bestritt jede Mitwirkung. Er betonte immer wieder, er habe weder als Regierungschef noch als Aufsichtsratsmitglied auf diese Personalentscheidung von VW Einfluss genommen. Später wurde bekannt, dass Gabriel nach seiner gescheiterten Wiederwahl 75 Prozent der Firmenanteile einer VW-Beratungsgesellschaft besaß.
Ungeachtet seiner engen Verbindung zu Gerhard Schröder vollzog Gabriel im Landtagswahlkampf 2003 einen taktischen Schwenk und distanzierte sich lautstark von Schröders "Agenda-Politik". Doch die Wähler in Niedersachsen werteten das linke Getöse des Ministerpräsidenten als das, was es war: als reine Wahltaktik. Mit Gabriel als Spitzenkandidaten verlor die SPD bei der Landtagswahl 2003 14,4 Prozent der Stimmen und musste die Regierung an die CDU abgeben.
Zweieinhalb Jahre später rief Schröder Gabriel nach Berlin und schlug ihn als Bundesumweltminister in der Großen Koalition vor. Dort setzte er seine politische Lobbyarbeit für einige Großkonzerne fort, unterstützte im Kabinett unsoziale Maßnahmen wie die Rente mit 67 und stärkte seine Zusammenarbeit mit dem rechten Parteiflügel im "Seeheimer-Kreis". Das hinderte ihn allerdings nicht, im Wahlkampf linke Töne anzuschlagen und sich am Tag vor der Wahl mit Klaus Wowereit über das weitere Vorgehen abzusprechen. Die Wahlniederlage diente ihm dann als Sprungbrett an die Parteispitze.
Wowereit gilt wie Nahles als Vertreter des "linken" Parteiflügels, obwohl er als Regierender Bürgermeister Berlins seit acht Jahren für den größten Sozial- und Arbeitsplatzabbau in der Geschichte der Stadt verantwortlich zeichnet.
Die designierte Generalsekretärin Andrea Nahles ist zehn Jahre jünger als Gabriel und lässt sich gerne als Repräsentantin der "Parteilinken" bezeichnen. Was davon zu halten ist, macht ein Blick auf den politischen Werdegang der bekennenden und praktizierenden Katholikin deutlich.
Sie wurde im Alter von 18 Jahren als Schülerin Parteimitglied und begann ihre zielstrebige Karriere im Wende-Jahr 1989. Ihre politische Sozialisierung in der Partei war direkt mit dem gesellschaftlichen Niedergang verbunden, der mit der Wiedereinführung kapitalistischer Ausbeutung in Osteuropa und der DDR einherging.
Bis Ende der neunziger Jahre war Nahles Bundesvorsitzende der Jusos und lernte dort, die rechte Politik der SPD mit linken Phrasen abzudecken. Sie kritisierte die Agenda-Politik von Schröder, stimmte aber bei allen wichtigen Entscheidungen dafür. Ihre Aufgabe bestand darin, Kritiker in der Partei zu halten. Sie wurde zum Dank 2003, während der Schröder-Regierung, vom Parteivorstand, dem sie seit ihrer Zeit als Juso-Vorsitzende angehörte, in das höchste Gremium der Partei, das SPD-Präsidium befördert.
Gleichzeitig unterhält sie enge Beziehungen zur Gewerkschaftsbürokratie und war längere Zeit im IG Metall-Verbindungsbüro Berlin beschäftigt. Als künftige Generalsekretärin wird Nahles vor allem dafür sorgen, dass die Politik der schwarzgelben Koalition von der SPD in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften von links abgedeckt und mitgetragen wird.
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Während viele Medien noch darüber spekulieren, ob und in welcher Form sich die SPD in ihrer neuen Oppositionsrolle regenerieren und wieder an Stärke gewinnen werde, hat der Führungswechsel in der SPD bereits deutlich gemacht, dass die Partei auf die Wahlniederlage mit dem Festhalten an ihrem rechten Kurs reagiert.
Quelle: WSWS