Die Lügen des Thilo Sarrazin
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Teil 2 –
Von MARTIN KREICKENBAUM, 27. September 2010 –
Das Bemerkenswerte an der Debatte über Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ besteht darin, dass ihm kaum jemand ernsthaft entgegentritt und seine angeblichen Fakten widerlegt. Dabei zeichnen offizielle Statistiken und Untersuchungen ein ganz anderes Bild.
Gewaltkriminalität muslimischer Jugendlicher
Sarrazin behauptet, dass „bei keiner anderen Religion der Übergang zu Gewalt und Terrorismus so fließend“ sei wie beim Islam. Auch hier war er schöpferisch tätig. Er wirft in den Raum, dass „20 Prozent aller Gewalttaten in Berlin von nur 1.000 türkischen und arabischen jugendlichen Tätern begangen werden“.
Erstens handelt es sich bei den so genannten Intensivtätern in Berlin um 3.000 Personen, die sich zudem aus allen ethnischen Gruppen zusammensetzen, die in der Hauptstadt leben. Zweitens sind sie nicht für 20 Prozent aller Gewalttaten verantwortlich, sondern für 20 Prozent aller Straftaten, wozu in erster Linie der einfache Ladendiebstahl gehört. Die problematische Ballung von Kriminalität findet sich zudem nicht nur in den typischen „Einwandererbezirken“ wie Kreuzberg und Neukölln, sondern auch in Köpenick, wo kaum Migranten leben, aber die Verelendung der Bevölkerung seit 1990 rasch vorangeschritten ist.
Die Kriminalität, gerade auch in den Großstädten, sollte nicht verharmlost werden, aber man muss sie nüchtern analysieren. Es gibt heute keine ernstzunehmenden Zweifel mehr, dass Merkmale wie „Rasse“, „ethnische Herkunft“ und Staatsbürgerschaft für die Erklärung von Kriminalität völlig bedeutungslos sind. Kriminalität mit dem Islam und muslimischen Jugendlichen gleichzusetzen oder wie Angela Merkel zu fordern, „die statistisch höhere Gewaltbereitschaft strenggläubiger Jugendlicher nicht zu tabuisieren“, ist eine Anstachelung zum Rassismus.
Sarrazin und Merkel und viele andere Kommentatoren beziehen sich hier auf eine aktuelle Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen (KFN), die im Juli dieses Jahres unter Federführung des Institutsleiters Christian Pfeiffer veröffentlicht wurde. Unter dem Titel „Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum“ werden dort auch Analysen zur Gewaltkriminalität von Jugendlichen präsentiert und zur Religiosität in Bezug gesetzt. Dabei ergab sich für muslimische Jugendliche: „Mit zunehmender Religiosität geht ein leichter Anstieg der Gewalttaten einher. Die sehr religiösen, islamischen Migranten weisen die höchste Rate an Gewalttätern unter den verschiedenen Gruppen islamischer Jugendlicher auf.“
Bezeichnend ist, wie dieser an sich wenig beeindruckende Befund seinen Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat. Bei der Vorstellung der Studie wurde Christian Pfeiffer von der Süddeutschen Zeitung unter der plakativen Überschrift „Faust zum Gebet“ mit den Worten zitiert: „Selbst wenn man diese Faktoren [Zahl straffälliger Freunde, Nutzung gewalthaltiger Medien, Akzeptanz Gewalt legitimierender Medien] herausrechnet, bleibt ein signifikanter Zusammenhang zwischen Religiosität und Gewaltbereitschaft.“ Hängen geblieben ist davon, dass der Islam gewalttätige Jugendliche produziert.
Tatsächlich aber ist der Zusammenhang zwischen Gewalttaten und Religiosität nur sehr gering, und die Studie selbst sagt etwas ganz anderes als Pfeiffer in dem Interview. Auf Seite 116 steht, „dass diese erhöhte Gewaltbereitschaft weitestgehend auf andere Belastungsfaktoren zurückzuführen ist… Dies führt dazu, dass von der Zugehörigkeit zu einer Konfessionsgruppe kein Effekt mehr auf das Gewaltverhalten zu beobachten ist.“ Und zwei Seiten später: „Da dieser Zusammenhang aber nicht als signifikant ausgewiesen wird, ist bei islamischen Jugendlichen von keinem unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Religiosität und der Gewaltdelinquenz auszugehen.“
Auch die gemessen am Bevölkerungsanteil höheren Tatverdächtigenzahlen von Ausländern, welche die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) jährlich ausweist, lösen sich bei näherer Betrachtung in Luft auf. Denn selbst wenn man unberücksichtigt lässt, dass die PKS nicht die tatsächliche Kriminalität abbildet, sondern nur einen Tätigkeitsbericht der Polizei darstellt, die gegenüber Migranten sehr selektiv ermittelt, verschwinden die Unterschiede zwischen Deutschen und Ausländern, wenn man sich die Zahlen differenzierter anschaut: Der Migrantenanteil ist bei der Alterskohorte der 15-25-Jährigen, die typischerweise kriminell wird, viel höher ist als bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund; Migranten leben viel häufiger in Städten, wo die Kriminalitätsraten wesentlich höher sind, als auf dem Land; sie leben häufiger in Armut und Arbeitslosigkeit; sie können seltener Gymnasien besuchen; usw.
Es gibt kein Kriminalitäts-Gen und auch keine ethnische Kultur der Kriminalität, wie Sarrazin weismachen will, wenn er von der Gewalttätigkeit muslimischer Jugendlicher spricht und die Entstehung von muslimischen Jugendgangs erklärt. Aus Sicht der Kriminologie sind seine Ausführungen von einer erschreckenden, spießerhaften Naivität und Dummheit geprägt.
Sarrazin ist der Ansicht, die muslimischen männlichen Familienoberhäupter vermittelten ihren Söhnen ein traditionelles Bild von Ehre und gewaltbereiter Männlichkeit. Die Söhne seien aber frustriert, da sie vor den muslimischen Mädchen mit besseren Schulleistungen als Versager dastünden. „Zum Schulfrust gesellt sich sexuelle Frustration, und beides trägt zum Aggressionsstau der jungen Männer bei. … Die jungen Mädchen sind aber aus religiösen Gründen vor der Heirat sexuell nicht verfügbar, ja selbst harmlose sexuelle Annäherungen sind vielfach nicht möglich. … Falsche Rollenvorbilder, mangelhafte Bildungserfolge und sexuelle Frustration können zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft führen, die vornehmlich in Jugendgangs ausgelebt wird, der eigentlichen Heimat vieler muslimischer Migranten.“
Sarrazin hat nie einen Fuß in die Wohnviertel und Schulen der muslimischen Jugendlichen gesetzt und sich auch nicht mit der einschlägigen Literatur auseinandergesetzt. Die Jugendgangs, die es tatsächlich gibt und die sich auch ethnisch abgrenzen, sind in erster Linie eine Reaktion auf Diskriminierungserfahrungen der Jugendlichen. Ihnen wird von Lehrern, Behörden, der Polizei, den Mitschülern ständig vorgehalten, dass sie Türken, anders und nicht erwünscht seien. Hinzu kommt die fehlende Aussicht auf eine gute Schulbildung und Ausbildung.
Als Reaktion nehmen sie diese Etikettierung zuweilen tatsächlich an und antworten mit einem „Ja, ich bin Türke“. Diese Re-Ethnisierung wird dann in Gruppen ausgelebt, die ihren Hass auf die Schikanierung und soziale Aussichtslosigkeit auch in Gewalttaten und Kriminalität entladen, die sich nicht selten gegen die Institutionen und Personen der Mehrheitsgesellschaft richten. Aber hier sind Ursache und Wirkung nicht zu verwechseln. Mit einer traditionellen „Kultur der Ehre“ hat das nichts zu tun, da das Ehrverständnis von den Jugendlichen erst aus den Erfahrungen, die sie in ihrer oftmals traurigen Kindheit in Deutschland gemacht haben, gebildet wird.
Sarrazin bestreitet vehement, ein Rassist zu sein, da er ja „nur“ auf die kulturellen Differenzen zwischen Europa und dem Islam hinweise. Aber es gibt auch einen kulturellen Rassismus, und für Sarrazin ist die Kultur an die ethnische Herkunft gebunden, sie ist für ihn unveränderbar. Muslime sind daher für ihn per se und durch ihre Geburt intellektuell minderbegabt, arbeitsscheu und kriminell. Vorhandene soziale Probleme erklärt er durch eine kulturalistische Argumentation einfach zu ethnischen Problemen.
Hier stiehlt er sich auch aus seiner eigenen Verantwortung. Es gibt ein Integrationsproblem, aber das ist nicht ethnisch zu verorten, sondern betrifft wachsende Teile der Bevölkerung unabhängig von Staatsbürgerschaft oder Abstammung. Wissenschaftler wie Klaus Bade sprechen von einer „Gefahr der Herausbildung einer neuen Unterschicht mit zum Teil über Generationen anhaltenden Integrationsdefiziten in bestimmten Bereichen, besonders in Bildung, Ausbildung und dann auch am Arbeitsmarkt“. Davon seien Personen ohne Migrationshintergrund gleichermaßen betroffen.
In Berlin kumulieren die sozialen Probleme weniger aufgrund der dortigen Migranten, sondern weil der Senat, in dem Thilo Sarrazin sieben Jahre lang für die Finanzen verantwortlich war, soziale Leistungen gekürzt sowie Schulen, Universitäten und Jugendzentren hat verkommen lassen. Ausbildungs- und Arbeitsplätze sind vernichtet worden und soziale Brennpunkte konnten sich ungehindert ausbreiten. Und nun lastet Sarrazin ebendiese Missstände, die er selbst maßgeblich verursacht hat, den Armen an.
Sarrazin wird dabei nicht nur von Rassismus, sondern auch von Klassenhass getrieben. Denn neben der Hetze gegen muslimische Immigranten verunglimpft er auch noch pauschal alle Hartz IV-Empfänger, die er als „weniger leistungsstark“ und als „weitgehend funktions- und arbeitslose Unterklasse“ denunziert. Laut Sarrazin gibt es keine materielle Armut, sondern nur „geistige und moralische Armut“.
Hier trifft er sich erneut mit den Thesen der bereits erwähnten Charles Murray und Richard Herrnstein. Deren Machwerk The Bell Curve behauptete ja nicht nur, dass die Schwarzen in den USA dümmer seien als die Weißen und deswegen häufiger arm, arbeitslos und kriminell. Es war vor allem eine Hetzschrift, mit der die Kürzung sozialer Leistungen und der Abbau demokratischer und sozialer Rechte legitimiert werden sollten.
Bereits während der Präsidentschaft Ronald Reagans hatten Soziologen wie Charles Murray und Lawrence Mead die Begleitmusik für die Angriffe gegen die Arbeiterklasse gespielt und ihnen höchste wissenschaftliche Legitimation verliehen. Das 1984 erschienen Buch Losing Ground von Charles Murray war sogar zur Bibel der Reagan-Administration avanciert.
Die Argumentation war exakt die gleiche, die auch Sarrazin benutzt. Denn nach Murray waren für die sozialen Probleme in den Vereinigten Staaten die übertrieben großzügigen Transferleistungen an die mittellose Bevölkerung verantwortlich. Dadurch werde nur Untätigkeit und das zügellose Kindergebären so genannter welfare mothers (Wohlfahrtsmütter) belohnt, was zur moralischen Entartung der Bevölkerung führe. Gemeint waren damit uneheliche sexuelle Verbindungen zwischen Mann und Frau, die von Murray als Ursache für städtische Missstände wie Gewalt und Kriminalität ausgemacht wurden.
Sarrazin wärmt diese reaktionären Thesen auf und verbindet sie in einer unheilvollen Melange mit antimuslimischen Hetztiraden. Welchem Geist das Buch entspringt, machen seine Vorschläge zur Behebung der Missstände deutlich. Für Bezieher von Transferleistungen soll ein Arbeitsdienst geschaffen, auf irreguläre Arbeitsmigranten eine Hetzjagd veranstaltet, Einwanderung praktisch unterbunden und für Migranten eine besondere Ausweispflicht eingeführt werden. Schüler sollen Uniformen tragen und der Unterricht soll nur noch aus stumpfem Auswendiglernen und Rezitieren bestehen. Eigene Kreativität der Kinder lehnt Sarrazin dagegen ab, ihren Medienkonsum will er stark einschränken.
Dass ein derart schlecht geschriebenes Machwerk, das von Fehlern und Ungereimtheiten nur so strotzt und wissenschaftlich völlig unhaltbar ist, ein derart breites Echo auslösen konnte, muss als ernste Warnung verstanden werden. Denn es handelt sich um eine gezielte Kampagne, reaktionäre und rassistische Argumente wieder in die politische Debatte einzuführen, um scharfe Angriffe gegen soziale und demokratische Rechte durchzusetzen.
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Die Lügen des Thilo Sarrazin – Teil 1
Quelle: wsws.org